Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Rentenversicherung: Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung ohne Vorliegen einer quantitativen Einschränkung. Die Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt bzw. vorgelegen hatte, umfasst mehrere Schritte

 

Orientierungssatz

1. In bestimmten Ausnahmefällen kann eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung selbst ohne Vorliegen einer quantitativen Einschränkung erfolgen, wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt anderweitig verschlossen ist. Dabei ist nach der Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2012 (BSG, 9. Mai 2012, B 5 R 68/11 R) vorzugehen.

2. Die Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt bzw. vorgelegen hatte, umfasst mehrere Schritte:

- Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen des Betroffenen Verrichtungen vorgenommen werden können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden.

- Nur wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen.

- Falls in diesem Schritt eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von dem Rentenversicherungsträger eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und dann die Einsatzfähigkeit des Betroffenen hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 18.09.2019; Aktenzeichen B 5 R 308/18 B)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20.08.2014 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf Weitergewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente über Oktober 2010 hinaus hat.

Der 1974 geborene Kläger erlernte nach seinen Angaben in der Zeit von September 1990 bis Februar 1994 den Beruf eines Elektroinstallateurs und übte diesen bzw. den eines Betriebselektrikers in der Folgezeit aus. In der Zeit von Januar 2001 bis Januar 2003 erfolgte im Berufsförderungswerk D-Stadt eine Umschulung zum IT-Systemkaufmann, offensichtlich als Reaktion auf einen Arbeitsunfall vom 11.05.2000, der zu erheblichen Einschränkungen im Bereich des rechten Armes und der rechten Hand geführt hatte. Der Kläger bezieht eine Unfallrente von der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM), wobei er sich beim Sozialgericht Nürnberg in der Streitsache S 2 U 275/05 vergeblich um eine Erhöhung bemüht hatte. In einer weiteren Streitsache S 15 U 240/08 hatte dagegen die BG ihre Verpflichtung zur regelmäßigen Erbringung von physiotherapeutischen Behandlungen anerkannt, nachdem in diesem Rechtsstreit ein ärztliches Gutachten durch den Handchirurgen PD Dr. R. erstellt worden war.

Beim Kläger wurde im November 2002 vom damaligen Amt für Versorgung und Familienförderung D-Stadt Versorgungsamt ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt, der ab März 2003 zunächst auf 40 und ab Oktober 2003 auf 60 erhöht wurde. Ab Dezember 2007 erfolgte eine weitere Erhöhung auf 70, wobei nun zusätzlich als führende Einschränkung ein Hydrozephalus mit Einzel-GdB 40 hinzugetreten war. Aktuell besteht beim Kläger ein GdB von 80, nachdem ab Januar 2013 zusätzlich Einschränkungen am Handgelenk links und eine somatoforme Schmerzstörung Berücksichtigung gefunden hatten.

Die Beklagte hatte dem Kläger im Juni 2003 eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der K.-Klinik in W-Stadt bewilligt. Vom 07.11.2005 bis 14.12.2005 befand sich der Kläger zur psychosomatische Rehabilitationsbehandlung im Schmerzzentrum der Fachklinik E. in H-Stadt, wobei er die Gewährung dieser Leistung der Beklagten offensichtlich im sozialgerichtlichen Verfahren S 12 R 486/04 erreicht hatte.

Am 11.08.2005 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte bewilligte daraufhin zunächst eine Zeitrente bis Oktober 2006. Auf Antrag des Klägers wurde die Rente bis zum 31.10.2008 weitergewährt, wobei von einer medizinischen Befristung ausgegangen wurde. Die Beklagte bewilligte nochmals eine weitere Verlängerung bis zum 31.10.2010 mit der Anmerkung, dass es sich nunmehr um eine medizinische und rechtliche Befristung aufgrund der Arbeitsmarktberücksichtigung handele. In diesen Rentenverfahren ließ die Beklagte den Kläger im Oktober 2005 durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D., im Oktober 2006 durch den Arzt für Psychiatrie Dr. H. und im Oktober 2008 durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. untersuchen und jeweils Gutachten von diesen Ärzten erstellen.

Am 03.09.2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Weiterzahlung der Rente wegen Erwerbsminderung, woraufhin ihn die Beklagte am 12.10.2010 durch den Chirurgen und Sozialmediziner Dr. G. und am...

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