Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines Verwaltungsaktes gem § 44 SGB 10. gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. innerer Zusammenhang. gemischte Tätigkeit. selbstgeschaffene Gefahr. Offensichtliche Unrichtigkeit. Wesentliche Ursache

 

Orientierungssatz

1. Einem Anspruch auf Bescheidrücknahme nach § 44 SGB 10 steht weder die Bestätigung des Ursprungsbescheids durch rechtskräftige Gerichtsurteile entgegen noch der Umstand, dass der Bescheid vor Inkrafttreten des SGB 10 ergangen ist.

2. Zu den Voraussetzungen des Versicherungsschutzes bei "gemischter Tätigkeit" und der Rechtsfigur der "selbstgeschaffenen Gefahr".

 

Normenkette

SGB VII § 8 Abs. 1, §§ 56, 212, 214 Abs. 3; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1; RVO § 542 Abs. 1, § 548 Abs. 1, § 627

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 13.11.2003 aufgehoben.

II. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 29.10.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2004 verurteilt, ihren Bescheid vom 20.07.1951 zurückzunehmen und das Ereignis vom 25.01.1951 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ab 01.01.1998 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte ihren Bescheid vom 20.07.1951 zurückzunehmen und den Unfall des Klägers vom 25.01.1951 als Arbeitsunfall zu entschädigen hat.

Der 1929 geborene Kläger war 1951 in einer Maschinenfabrik als Dreher beschäftigt. Am 25.01.1951 erkundigte er sich zu Beginn seiner Arbeitsschicht bei seinem Arbeitskollegen A. S., wie bestimmte Werkstücke gefertigt werden sollten. Während er mit S. sprach, griff er in seine rechte Hosentasche, um ein Taschentuch herauszuholen. Dabei zog er eine Spritzdose mit Blitzlichtpulver, welches er als leidenschaftlicher Fotograf bei sich hatte, versehentlich mit heraus. In diesem Moment sprang von dem Schleifband, an dem S. arbeitete, ein Funken auf das Taschentuch und entzündete das Blitzlichtpulver. Dabei kam es zu einer heftigen Explosion, durch die der Kläger erheblich an der rechten Hand verletzt wurde. So schilderte der Kläger den Unfallablauf bei seiner Vernehmung vor dem Stadtrat W. am 12.07.1951. Der vom Kläger angesprochene Mitarbeiter S. bestätigte den Hergang bei seiner Einvernahme am 13.07.1951. Er fügte hinzu, bevor er dem Kläger etwas habe sagen können, sei es mit einem starken Knall zu der Explosion gekommen. Erst später habe er erfahren, dass der Kläger an diesem Tag Blitzlichtpulver dabei gehabt habe.

Mit Bescheid vom 20.07.1951 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung aus Anlass des Unfalls vom 25.01.1951 ab, weil der Kläger durch das Mitführen der Pulverspritze einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen sei. Im anschließenden Verfahren vor dem Oberversicherungsamt L. (OVA) brachte der Kläger vor, er habe das Blitzlichtpulver mitgenommen, um im Betrieb Fotos machen zu können. Äußerungen des Betriebsinhabers hätte er als Auftrag hierzu verstanden. Mit Urteil vom 06.05.1953 wies das OVA die Berufung gegen den Bescheid vom 20.07.1951 mit der Begründung zurück, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe das Anfertigen von Fotografien und die Mitnahme des Blitzlichtpulvers zu diesem Zwecke in keinem inneren Zusammenhang mit dem Betrieb gestanden. Die Gefahr, der der Kläger erlegen sei, sei nicht durch die Betriebstätigkeit verursacht worden.

Am 05.08.1999 beantragte der Kläger eine Überprüfung der Angelegenheit. Im Wesentlichen brachte er vor, die von ihm beabsichtigten Fotografien hätten betrieblichen Zwecken gedient; zudem habe sich der Unfall deshalb ereignet, weil die Schleifmaschine keinen ausreichenden Schutz gegen Funkenflug gehabt habe. Mit Bescheid vom 28.03.2000, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 12.07.2000, lehnte die Beklagte die Rücknahme ihres Bescheides vom 20.07.1951 ab. Es habe kein betrieblicher Auftrag zum Fotografieren bestanden. Das Blitzlichtpulver habe der Kläger aus rein eigenwirtschaftlichem Interesse bei sich gehabt. Das Recht sei damals nicht unrichtig angewandt worden.

Mit Urteil vom 18.10.2000 (Az.: S 5 U 223/00) wies das Sozialgericht Regensburg (SG) die Klage ab. Das Bayer. Landessozialgericht (Bay LSG) bestätigte diese Entscheidung mit Urteil vom 16.01.2002 (Az.: L 2 U 40/01). Beide Urteile befassten sich ausschließlich mit der Frage, ob der Kläger einen Auftrag hatte bzw. von einem Auftrag ausgehen konnte, Betriebseinrichtungen zu fotografieren und ob er deshalb das Blitzlichtpulver mitgebracht hatte. Mit Beschluss vom 30.04.2002 verwarf das Bundessozialgericht (BSG) die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers. In den Gründen führte es unter anderem aus, es treffe zwar zu, dass sich das Bay LSG nicht mit dem Vorbringen des Klägers, der Schleifmaschine habe ein Schutz gegen Funkenflug gefehlt, auseinandergesetzt habe. Jedoch reiche dies nicht a...

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