Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen RF. Befreiung von der Rundfunkgebühr. Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Benutzung von Hilfsmitteln. Inkontinenzartikel. Rollstuhl. Toilettengang. Zumutbarkeit der Störung anderer Veranstaltungsteilnehmer. Inklusion

 

Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF, insbesondere im Sinne des § 4 Abs 2 Nr 3 Rundfunkbeitragsstaatsvertrag, liegen nicht vor, wenn dem Betroffenen die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen jedenfalls unter Benutzung von Hilfsmitteln möglich ist, insbesondere wenn bestehende Probleme hinsichtlich Harn- und Stuhldrang durch Benutzung von Inkontinenzartikeln ausgeglichen und eine Sturzgefahr jedenfalls durch Benutzung eines geeigneten Rollstuhls vermieden werden können. Die durch das Aufsuchen einer Toilette während Veranstaltungen entstehenden Störungen sind anderen Teilnehmern, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Inklusion, ohne weiteres zuzumuten.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 09.11.2017; Aktenzeichen B 9 SB 35/17 B)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 16.06.2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens RF hat.

Bei der 1951 geborenen Klägerin stellte das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) in Bayreuth mit Bescheid vom 28.10.2013 in Ausführung des vor dem Sozialgericht Bayreuth im Verfahren S 12 SB 335/12 geschlossenen Vergleichs ab 19.06.2013 einen Grad der Behinderung von 90 sowie die Merkzeichen G und B fest. Grundlage dieses Vergleichs waren die im damaligen Gerichtsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten der Dr. M. sowie des PD Dr. A. vom 03.07.2013.

Mit Schreiben vom 27.03.2014 beantragte die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Zur Ermittlung des Sachverhalts zog das ZBFS Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin bei. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte das ZBFS mit Bescheid vom 24.06.2014 die Zuerkennung des Merkzeichens RF ab. Die Klägerin erfülle nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für dieses Merkzeichen nach § 4 Abs. 2 Rundfunkbeitragsstaatsvertrag. Ihr sei eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unter eventueller Zuhilfenahme der sonst gewährten Nachteilsausgleiche zumutbar. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch. Die Ablehnung des Antrags auf Zuerkennung des Merkzeichens RF sei sowohl materiell rechtswidrig als auch formell verfahrensfehlerhaft. Die Klägerin leide unter anderem unter häufigen Schwindelanfällen, welche oftmals zwei- bis dreimal in der Woche vorkämen. Hierdurch benötige sie einen festen Halt, sodass die nicht unerhebliche Gefahr bestehe, dass die Klägerin an Dritte herankomme und sich plötzlich zur Vermeidung eines Sturzes an diesen abstützen müsse. Dies sei für Dritte ein nicht zumutbarer Zustand, der abstoßend und unzumutbar sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.09.2014 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Der Grad der Behinderung der Klägerin sei nach wie vor mit 90 richtig bewertet. Der Klägerin sei die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen mit Hilfe einer Begleitperson zuzumuten. Die Voraussetzungen des Merkzeichens RF lägen nicht vor. Insbesondere seien die Sturzgefahr durch Gleichgewichtsstörungen beziehungsweise die mehrmals wöchentlich auftretenden Schwindelerscheinungen kein Kriterium für die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Dass sie sich zur Vermeidung eines Sturzes an Dritten abstützen müsse, sei keinesfalls ein nicht zumutbarer Zustand, der abstoßend, anmaßend und unzumutbar sei.

Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Zum einen seien die angegriffenen Bescheide schon formell rechtsfehlerhaft ergangen, da die notwendige und erforderliche persönliche Untersuchung der Klägerin im Verwaltungsverfahren nicht vorgenommen worden sei. Im Übrigen seien die eingeholten Informationen völlig unzureichend. Aus materieller Sicht seien darüber hinaus die Feststellungen und Wertungen des Beklagten zu den häufigen Schwindelanfällen und der Sturzneigung der Klägerin falsch. Es bestehe eine nicht unerhebliche Gefahr durch die Sturzneigung der Klägerin auch Dritte zu belästigen. Bei Stürzen gebe es darüber hinaus keine verlässlichen und erfolgversprechenden Hilfemaßnahmen. Ein zu Boden fallender Mensch sei eine unkontrollierte Masse, die im Regelfall nicht aufgefangen werden könne.

Zur Ermittlung des Sachverhalts hat das SG die Beklagtenakten, die Gerichtsakte zum Verfahren S 12 SB 355/12 und aktuelle Befunde der behandelnden Ärzte der Klägerin beigezogen und ein Gutachten der Ärztin für öffentliches Gesundheitswesen Dr. R. vom 25.07.2015 eingeholt. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Ermäßigung der Rundfunkpflichtgebühr bei der Klägerin nicht vorlägen. Bei der Klägeri...

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