Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. GdS-Feststellung. psychiatrische Diagnose. posttraumatische Belastungsstörung. Teilsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. psychische Vorbelastung: gemischte Persönlichkeitsstörung. Schädigungsbedingtheit der Gesundheitsstörungen. Kausalzusammenhang
Leitsatz (amtlich)
1. Die Feststellung eines bestimmten GdS ist nicht eigenständiger Regelungsgegenstand, sondern nur Tatbestandsmerkmal im Rahmen eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen.
2. Es existiert kein rechtliches Gebot, wonach sämtliche psychischen Beschwerden eines Versorgungsantragstellers in eine einzige psychiatrische Diagnose münden müssten und demzufolge nur eine einzige psychische Gesundheitsstörung festgestellt werden dürfte.
3. "Teilsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung" ist eine zulässige Schädigungsbezeichnung.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu 3/10.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten wegen Versorgung nach dem Opferentschädigungsrecht.
Der 41-jährige Kläger ist Diplom-Sozialpädagoge. Das Studium der Sozialpädagogik hatte er im März 1993 beendet und in der Folgezeit insgesamt zehn Arbeitsstellen innegehabt, bis er 2005 seine bislang letzte Stelle verlor. Zwischen den einzelnen Arbeitsverhältnissen befanden sich nicht unerhebliche Zeiten der Arbeitslosigkeit.
Am 29.07.2006 wurde der Kläger Opfer einer Gewalttat. Dabei schlug der Täter (R.) den Kläger zunächst in einem Bus leicht mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Als dieser R. zur Rede stellte, beleidigte R. den Kläger mit diversen Ausdrücken. Daraufhin versuchte der Kläger, sich in dem Bus zum Fahrer "vorzuarbeiten", damit dieser die Türen schließen und die Polizei verständigen würde. Mittlerweile aber war R. aus dem Bus ausgestiegen. Kurz darauf kam es auf offener Straße zu einer erneuten Begegnung des Klägers mit R. R. beleidigte den Kläger und warf nach ihm mit Abfällen. Der Kläger forderte ihn auf, sich zu entschuldigen. Als der Kläger sein Handy aus dem Rucksack nehmen wollte, um die Polizei anzurufen, versetzte R. ihm einen Faustschlag auf das linke Schulterblatt. Daraus entwickelte sich ein Handgemenge, in dessen Verlauf der Kläger auf der Motorhaube eines parkenden Autos sowie auf der Straße zu liegen kam. Der Kläger brach sich dabei die Nase (nicht dislozierte Fraktur) und erlitt eine Rippenfraktur rechts. Das Jugendgericht beim Amtsgericht A-Stadt verurteilte R. wegen Beleidigung und Körperverletzung unter anderem zu einem Dauerarrest von zwei Wochen.
Am 01.06.2007 beantragte der Kläger Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). In dem Antrag machte er als Gesundheitsstörungen geltend: Beschwerden am Nasenrücken, Schmerzen rechte Rippe, massive Schlafstörungen, Ängste, Depressionen. Dem Antrag war ein Attest des behandelnden Internisten H. vom 05.02.2007 beigefügt. Der Beklagte holte einen Befundbericht bei der damaligen Psychotherapeutin des Klägers, B., ein. Diese schrieb unter dem Datum 20.01.2008, der Kläger leide unter einer mittelgradigen depressiven Störung, die offensichtlich durch Mobbingerfahrungen im Beruf ausgelöst worden sei. Lebensgeschichtlich seien früh depressionsfördernde Bedingungen innerhalb der Herkunftsfamilie deutlich geworden. Bislang habe der Kläger drei Therapiesitzungen in Anspruch genommen.
Mit Bescheid vom 31.03.2008 stellte der Beklagte als Schädigungsfolge fest: "Folgenlos ausgeheilte, nicht dislozierte Nasenbeinfraktur, Rippenfraktur" im Sinn der Entstehung. Eine Versorgungsrente lehnte er ab. Nicht als Schädigungsfolge, so der Beklagte, könnten Depressionen mit Angstzuständen und Schlafstörungen anerkannt werden. Vorausgegangen war eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Allgemein- und Sozialmedizinerin W.
Am 23.04.2008 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 31.03.2008 Widerspruch ein. Er gab zur Begründung an, B. sei zum Zeitpunkt der Erstellung des Attests noch nicht vollständig über die Ursache seines Therapiebedarfs informiert gewesen; zum damaligen Zeitpunkt sei noch nicht über das Gewaltverbrechen gesprochen worden, es seien nur allgemein Vorgespräche geführt worden. Zugleich legte er eine "psychologische Stellungnahme" der B. vom 28.05.2008 vor. Diese ging darin von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aus. Die PTBS, so B. in dem Attest, wirke sich besonders ungünstig auf seine Tätigkeit als Sozialpädagoge aus, da es der Kläger oft mit Jugendlichen aus schwierigem Umfeld zu tun habe. Er leide unter Alpträumen und Angstattacken sowie schwer kontrollierbaren vegetativen Stresssymptomen. Für sie, B., stehe außer Frage, dass es einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen den psychischen Problemen des Klägers und der Gewalttat gebe.
Aufgrund einer Stellungnahme nach Aktenlage des Nervenarztes Dr. S. ließ der Beklagte ein psychiatrisches...