Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Schwerbehindertenrecht. GdB-Festsetzung. abweichende Bewertung eines Einzel-GdB ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB im Berufungsverfahren. keine Berücksichtigung von eigenverantwortlich durchgeführten Vermeidungsstrategien. Missbrauchsgebühr. Aussichtslosigkeit des Rechtsstreits. Beweiswürdigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Einzel-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich (vgl LSG Stuttgart vom 18.7.2019 - L 6 SB 785/19 = juris). Es ist somit nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

2. Einschränkungen durch eigenverantwortlich durchgeführte, ärztlich nicht angeordnete, Vermeidungsstrategien (wie Verzicht auf bestimmte Lebensmittel, Vermeidung von allergenreichen Orten) können bei der Bemessung des GdB grundsätzlich nicht berücksichtigt werden.

3. Hängt der Ausgang eines Rechtsstreites maßgeblich von einer Beweiswürdigung ab, begründet allein eine ungünstige Beweissituation oder Beweislage eine Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung nach § 192 Abs 1 S 1 Nr 2 SGG noch nicht. Es muss vielmehr ein gesteigertes Maß an Aussichtslosigkeit bestehen. Dies liegt beispielsweise dann vor, wenn kein Gutachten - weder nach § 106 SGG noch ein Gutachten nach § 109 SGG - das Begehren stützt, der Kläger keine durchgreifenden Einwendungen gegen die Gutachten vorträgt und er auf diese Situation hingewiesen wurde.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 28.04.2023; Aktenzeichen B 9 SB 9/22 BH)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 08.08.2018 wird als unzulässig verworfen, soweit die Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "G" beantragt.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Der Klägerin werden wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit der Berufung Gerichtskosten (Missbrauchskosten) in Höhe von 1.000,- € an die Staatskasse auferlegt.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Feststellung eines höheren Grads der Behinderung (GdB) als 30. Darüber hinaus begehrt die Klägerin die Anerkennung der Voraussetzungen des Merkzeichens "G".

Die 1973 geborene Klägerin stellte am 12.09.2016 einen Antrag auf Feststellung eines GdB von wenigstens 60 sowie auf Feststellung des Merkzeichens "G". Der Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und zog ein Gutachten des S vom 19.04.2016, das anlässlich eines Klageverfahrens auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente (S 9 R 1144/15) erstellt worden war, bei. Nach dem Gutachten des S sind der Klägerin leichte körperliche Tätigkeiten in temperierten Räumen in wechselnden Körperhaltungen (überwiegend sitzend) weiterhin sechs Stunden und mehr möglich. Auszuschließen seien Bronchial- bzw. Hautreizstoffe, Zwangshaltungen, besonderer Zeitdruck sowie konzentrative Belastungen. Mit Bescheid vom 27.09.2016 erkannte der Beklagte folgende Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 30 an:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Bandscheibenschäden, Spina bifida

Einzel-GdB 20

2. Bronchialasthma, Allergie

Einzel-GdB 20

3. Wiederkehrende Nesselsucht (Urticaria), Schuppenflechte

Einzel-GdB 10

4. Psychovegetative Störungen, Migräne, Schwindel

Einzel-GdB 10

Zu den Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" äußerte sich der Beklagte nicht.

Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin am 05.10.2016 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass weder alle im Antrag angegebenen Gesundheitsstörungen berücksichtigt noch die Symptome der Krankheiten richtig eingeschätzt worden seien. Die Fehlbildung der Hüften sei gar nicht berücksichtigt worden, obwohl die Klägerin deswegen fast täglich Schmerzen habe. Der Wirbelsäulenschaden sei nur als Funktionsstörung berücksichtigt worden, nicht jedoch die Schmerzen. Bei dem Bronchial-Asthma seien Ausmaß und Häufigkeit der Anfälle ausschlaggebend. Die Klägerin als Betroffene wisse aber, dass man durch eine eiserne Disziplin, welche selbstverständlich zur Beeinträchtigung der Lebensqualität führe, die Anzahl der Asthmaanfälle und deren Dauer beeinflussen könne. Der Beklagte belohne Menschen, welche nicht ihr Leben ihren Krankheiten anpassen würden. Auch die schweren ausgeprägten Allergien seien nicht berücksichtigt worden. Ein normales Leben zu führen sei der Klägerin nicht mehr möglich. Ebenso seien die Erschöpfungszustände nicht berücksichtigt worden, obwohl sich diese sehr negativ auswirkten. Der Klägerin müsse mindestens ein GdB von 50 zustehen.

In seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.01.2017 erläuterte der Allgemeinarzt L, die Nesselsucht werde als gut eingestellt beschrieben ebenso die Pollenallergie und das hyperreagible Bronchialsystem. Insofern lasse sich nach den Befunden kein höherer Einzel-GdB begründen. Die Wirbelsäule sei im B...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge