Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Befreiung von der Rundfunkgebühr. Merkzeichen RF. häusliche Bindung. Erforderlichkeit zweier Begleitpersonen und eines Multifunktionsstuhls zum Verlassen der Wohnung. Notwendigkeit häufiger Sitzveränderungen beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen. Nachteilsausgleich
Leitsatz (amtlich)
Eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen RF) erhält der Schwerbehinderte, der praktisch an das Haus gebunden ist. Dies ist der Fall, wenn er zum Beispiel auf die Hilfe von zwei Begleitpersonen und einen Multifunktionsstuhl angewiesen ist und während des Veranstaltungsbesuchs häufig umgelagert werden muss.
Normenkette
RGebStV § 6 Abs. 1 Nrn. 7-8; SGB IX § 146 Abs. 2; SGB XI § 14 Abs. 4
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.12.2011 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 12.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2010 das Merkzeichen "RF" mit Wirkung ab 21.09.2009 festzustellen.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen "RF").
Der 1935 geborene Kläger ist schwerbehindert im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Das Versorgungsamt D-Stadt stellte mit Bescheid vom 17.04.1980 nach § 3 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v.H. sowie das Merkzeichen "G" fest. Als Behinderungen wurden "Poliomyelitisfolgen am rechten Bein mit sekundären Wirbelsäulenveränderungen" berücksichtigt.
Wegen Leidensverschlimmerung stellte das Versorgungsamt D-Stadt mit Bescheid vom 16.07.1981 eine MdE von 80 v.H. unter Berücksichtigung weiterer Behinderungen am Herz, Kreislauf und Magen fest.
In Berücksichtigung der weiteren Leidensverschlimmerung des Klägers stellte das Amt für Versorgung und Familienförderung D-Stadt mit Bescheid vom 20.12.1993 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest. Die bei dem Kläger bestehende Behinderung Poliomyelitis wurde nunmehr höher bewertet. Das Merkzeichen "G" wurde wie bisher zuerkannt.
Mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung D-Stadt vom 17.08.1999 stellte der Beklagte bei gleichbleibendem GdB von 100 nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "B", "G" und "aG" unter Berücksichtigung der zusätzlichen Behinderungen Funktionsbehinderung des Schultergelenkes links (Einzel-GdB 20) fest.
Der Kläger machte mit Neufeststellungsantrag vom 17.09.2009 eine weitere Leidensverschlimmerung geltend und beantragte die Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Zur Begründung verwies er auf die Berichte des F-B.-Instituts am Klinikum der Universität D-Stadt vom 04.08.2009 und 10.09.2009. Dort wurde vor allem eine sensomotorische axonale Neuropathie an der oberen Extremität rechtsbetont beschrieben, weiterhin ein Zustand nach Poliomyelitisinfektion im siebten Lebensjahr bei Verdacht auf Postpoliosyndrom, ein Zustand nach femoro-poplitealer Bypassanlage 8/99 und Bypass-Neuanlage nach Verschluss 11/02 sowie ein Zustand nach Resektion eines Adenokarzinoms des Colon descendens 8/02 und eine intermittierende Fallneigung nach links unklarer Ätiologie.
Der Beklagte lehnte mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region O. vom 12.10.2009 die Feststellung des Merkzeichens "RF" ab. Die hinzugekommenen Gesundheitsstörungen "Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, Neuropathie" mit einem Einzel-GdB von 40 sowie "arterielle Verschlusskrankheit des Beines rechts (Einzel-GdB von 20) würden die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht gestatten, da der Kläger mit Hilfe von Begleitpersonen und technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) an öffentlichen Veranstaltungen noch teilnehmen könne.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens legte der Kläger den Arztbrief des Dr. S. vom 28.03.2003 vor. Danach bestehe ein Postpoliomyelitis-Syndrom. Die Fallneigung nach links mit Gangabweichung und Gangunsicherheit bedinge bei dem Kläger eine Angst, zu stürzen. Weiterhin bestehe eine zunehmende muskuläre Schwäche insbesondere linksseitig.
Entsprechend der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. D. vom 01.11.2009 wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 02.02.2011 zurück. Mit Hilfe eines Rollstuhls und einer Begleitperson könne der Kläger das überwiegende Angebot an öffentlichen Veranstaltungen noch zumutbar besuchen. Die ungünstige Wohnsituation des Klägers könne nicht berücksichtigt werden.
Der Kläger hat mit Klageschrift vom 08.01.2010 Klage beim Sozialgericht Regensburg erhoben und beantragt, das Merkzeichen "RF" mit Wirkung ab 21.09.2009 festzustellen. Das Sozialgericht Regensburg hat sich mit Beschluss vom 06.04.2010 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das örtlich zuständige...