Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht: Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung. Begrenzung rückwirkender Leistungsgewährung auf vier Jahre bei Erlass eines Zugunstenbescheides. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bei Fristversäumnis
Leitsatz (amtlich)
1. § 60 Abs. 1 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung nur beim Erstantrag.
2. Bei Erlass eines Zugunstenbescheides wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet daneben voll Anwendung.
3. Über die in § 60 Abs. 1 S. 3 BVG praktisch enthaltene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung erfasst der sozialrechtliche Herstellungsanspruch zusätzlich auch Fristversäumnisse, die auf Behördenfehlern beruhen.
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 7. Juli 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1964 geborene Klägerin begehrt mit vorliegender Klage Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) für den Zeitraum Oktober 1990 bis Oktober 1996.
Beim Versorgungsamt A-Stadt stellte die Klägerin am 29.10.1996 erstmals Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie wurde in der Zeit zwischen 1968 und 1978 in einem Dorf in der DDR durch mehrere Täter sexuell missbraucht. 1989 flüchtete die Klägerin über Ungarn in die Bundesrepublik. Am 29.05.1995 begann sie eine Psychotherapie bei Dr. S.. Wie die Klägerin durchgehend angibt, seien die ersten Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch 1996 im Rahmen dieser Psychotherapie geweckt worden. Sie macht im Verfahren geltend, zuvor auf Grund einer Amnesie o.ä. nicht gewusst zu haben, worauf ihre psychischen Beschwerden zurückzuführen seien.
Mit Bescheid vom 30.05.2002 lehnte das mittlerweile zuständige Amt für Familie und Soziales Chemnitz den Antrag der Klägerin ab, da die Voraussetzungen nach § 10a Abs. 1 Nr. 1 OEG (Schwerbeschädigteneigenschaft) nicht gegeben seien. Der Widerspruch hiergegen blieb ohne Erfolg. Im Widerspruchsbescheid vom 26.05.2004 ging das Amt zwar davon aus, dass die Schwerbeschädigteneigenschaft vorliege; es sei jedoch der Nachweis einer schädigenden Handlung nicht gegeben.
Hieran schloss sich das Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg - S 1 VG 2/04 - an. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde im Dezember 2005 ein Traumagutachten der Fa. T. angefertigt. Daraufhin gab der Beklagte im SG-Verfahren folgendes Vergleichsangebot ab:
* Aufhebung des Bescheids vom 30.05.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.05.2004
* Anerkennung einer schizotypen Störung mit Borderlinestrukturen als Folge einer Schädigung nach dem OEG ab 01.12.2001 mit einer MdE von 50
* Prüfung, ob Versorgung nach dem OEG im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG zusteht.
In der mündlichen Verhandlung des SG vom 19.01.2007 nahm die Klägerin das Vergleichsangebot als Teilvergleich an. Zu einer Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich kam es nicht, da die Klägerseite den Beginn der Versorgung bereits ab 29.10.1996 begehrte, der Beklagte jedoch von einer Rücknahme des damaligen Antrags im Rahmen eines Telefongesprächs ausging. Mit Urteil des SG vom 19.01.2007 wurde der Beklagte über den Teilvergleich hinaus verurteilt, der Klägerin bereits ab Oktober 1996 Versorgung im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Beklagten habe die Klägerin den Antrag vom 29.10.1996 nicht zurückgenommen. Dieses Urteil ist in Rechtskraft erwachsen.
Im Folgenden führte der Beklagte ein Feststellungsverfahren zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin durch. Mit Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 erkannte er die MdE von 50 als Folge einer Schädigung nach dem OEG für die Schädigungsfolge schizotype Störung mit Borderlinestrukturen bereits ab dem 01.10.1996 an. Die Höhe der Beschädigtenversorgung sei im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG festzustellen. Ob Leistungen zur Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit, Ausgleichsrente oder Ehegattenzuschlag zustünden, werde, so der Beklagte im Bescheid, gesondert geprüft.
Am 30.01.2008 beantragte die Klägerin eine Erhöhung der MdE. Am 20.03.2008 erhob sie Widerspruch gegen den Ausführungsbescheid vom 21.01.2008. Diesen (verfristeten) Widerspruch wertete der Beklagte als Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Am 23.07.2008 beantragte die Bevollmächtigte, den Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 gemäß § 44 SGB X dahingehend zu überprüfen, ob die MdE von 50 gerecht- fertigt sei; des Weiteren wurde beantragt, Beschädigtenversorgung bereits vor der Antragstellung zu erbringen, da die Klägerin ohne ihr Verschulden an einer früheren Antragstellung verhindert gewesen sei. Zur Begründung verwies sie darauf, dass erst durch die psychoth...