Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung: Voraussetzung der Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung bei Rettungsassistent
Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen des Vorliegens einer posttraumatischen Belastungsstörung bei einem Rettungssanitäter und Einsatzleiter, der bei einem schweren Verkehrsunfall tätig war.
Orientierungssatz
1. Voraussetzung der Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung als Gesundheitsstörung ist der Nachweis eines Vermeidungsverhaltens in Bezug auf traumatypische Reize. Nimmt ein Betroffener eine Tätigkeit wieder auf, in deren Rahmen er zuvor einen belastenden Vorfall erlebt hat (hier: Wunsch zur Wiederaufnahme der Tätigkeit als Rettungsassistent nach traumatischem Erlebnis im Rahmen eines Rettungseinsatzes), so spricht dies deshalb gegen das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
2. Einzelfall zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen einem traumatischen Erlebnis und einem psychischen Gesundheitsschaden (hier: Kausalität verneint).
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 16.07.2013 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen Verschlimmerung der Folgen seines Arbeitsunfalls vom 22.09.2000 Anspruch auf Verletztenrente hat.
Der 1962 geborene Kläger musste eine Ausbildung zum Maler und Lackierer (1978 bis 1981) wegen Magenschleimhautentzündungen abbrechen. Er war von 1981 bis 1982 als Rettungsdiensthelfer tätig und nach seinem Grundwehrdienst (1982 bis 1983) kurz als Chemiearbeiter und anschließend seit 1985 als Rettungsassistent abhängig beschäftigt beim Bayerischen Roten Kreuz.
Am 22.09.2000 wurde der Kläger als Rettungssanitäter und Einsatzleiter zu einem Autounfall mit vier toten jungen Menschen im Alter zwischen 17 und 19 Jahren und fünf Schwerverletzten gerufen. Der Kläger war als Einsatzleiter im Wesentlichen mit der Verteilung der Verletzten befasst.
Am 05.10.2000 stellte sich der Kläger aufgrund anhaltender Niedergeschlagenheit und Angst beim Durchgangsarzt Prof. Dr. B. vor, der eine posttraumatische Belastungsreaktion als Erstdiagnose stellte und eine Vorstellung beim Psychiater veranlasste, die am selben Tag erfolgte.
Der behandelnde Psychiater und Psychotherapeut Dr. D. diagnostizierte im Arztbrief vom 13.10.2000 eine akute Belastungsreaktion, die offensichtlich in eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) übergegangen sei; differenzialdiagnostisch sei an eine depressive Reaktion zu denken (F 43.0, 43.1, 32.2 nach ICD 10). Der Kläger gab an, er habe nach dem Einsatz ca. vier Tage frei gehabt. Als er bei Dienstbeginn mit dem Rettungswagen an der Unfallstelle vorbeigekommen sei, habe er plötzlich die Toten wieder vor sich gesehen, ohne das Bild verdrängen zu können, und sei zunehmend unruhiger geworden. Er habe versucht, sich zu beschäftigen, um die Bilder zu verdrängen, sei gedrückt, lustlos, freudlos, interesselos, kraftlos und antriebslos bei zugleich erheblicher innerer Unruhe, Überempfindlichkeit und Gereiztheit. Er müsse grübeln, leide unter massiver Beeinträchtigung seiner Merkfähigkeit und unerklärlichen Angsterleben, könne nicht einschlafen und wache immer wieder auf. Beim Gedanken, dass der "Piepser" gehen könne, bekomme er panische Angst. Das Denken war inhaltlich auf die Problematik eingeengt, der Affekt deutlich depressiv mit fast völliger Aufhebung von Modulation und Schwingungsfähigkeit, fehlender Auslenkbarkeit und deutlicher Minderung bzw. Hemmung der Psychomotorik im Antrieb. Dr. D. berichtete mit Schreiben vom 01.12.2000 über einen schwankenden Verlauf und empfahl dringend eine Rehabilitation.
Gegenüber dem Berufshelfer gab der Kläger am 05.12.2000 u.a. an, er habe schon einmal vor mehreren Jahren eine solche Phase gehabt, nachdem er sechsmal hintereinander wegen Suizidfällen junger Leute im Einsatz gewesen sei.
Vom 11.12.2000 bis 19.01.2001 befand sich der Kläger stationär in der Reha-Klinik D. (Klinik für Neurologie, Psychosomatik und Schmerzklinik). Diagnostiziert wurde eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1). Der Kläger zeigte gedrückte Stimmung und Merkmale einer PTBS mit wiederholtem Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Nachhallerinnerungen und Träumen sowie einen Zustand vegetativer Übererregbarkeit mit Vigilanzsteigerung, übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Nicht vorhanden seien dagegen ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, sondern eher vermehrte Anrührbarkeit, psychovegetative Destabilisierung sowie ängstliche Anlehnung an die eigene Familie. Angst und Depression seien vorhanden, aber nicht so ausgeprägt wie bei einer primären affektiven Störung. Der Kläger hatte u.a. Angstzustände geschildert, vor dem "Piepser" bzw. Zukunftsängste. Die Erinnerungen an diesen Unfall würden sich mit anderen belastenden Ereignissen summieren. Währe...