Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. psychischer Gesundheitsschaden. Posttraumatische Belastungsstörung mit affektiver Symptomatik nach DSM-5 und ICD-10. haftungsbegründende Kausalität. wesentliche Teilursache. zeitlich späteres Auftreten der Symptomatik. multifaktorielle Genese. mehrere traumatische Ereignisse. Lokführer. Überrollen einer auf dem Gleis stehenden Person mit dem Zug. späterer Suizid der Mutter
Leitsatz (amtlich)
1. Zwar ist in der Regel mit dem Auftreten der für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erforderlichen Symptome innerhalb der ersten Wochen bis Monate zu rechnen. Sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5 besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich eine PTBS im Vollbild erst mit einer Latenz von Monaten bis Jahren entwickelt, jedenfalls dann, wenn Brückensymptome vorhanden sind.
2. Die multifaktorielle Genese steht nach dem DSM-5 der Diagnose einer PTBS nicht entgegen.
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 2. Oktober 2018 wird zurückgewiesen. Der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung wird wie folgt gefasst:
Der Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2016 wird abgeändert. Es wird festgestellt, dass bei dem Kläger als Folge des Arbeitsunfalls vom 20. April 2011 eine posttraumatische Belastungsstörung verbunden mit einer affektiven Symptomatik besteht und der Kläger über den 29. Juni 2011 hinaus unfallbedingt behandlungsbedürftig ist.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte auch im Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Folgen eines Unfallereignisses, sowie die Dauer unfallbedingter Behandlungsbedürftigkeit.
Am 20.04.2011 erfasste der 1976 geborene und damals als Lokführer tätige Kläger eine auf dem Gleis stehende Person mit dem Zug. Die Person verstarb am Unfallort.
Am Folgetag suchte der Kläger den H-Arzt auf, der Arbeitsunfähigkeit attestierte. In der Folgezeit befand sich der Kläger in ambulanter Behandlung bei Dipl.-Psych. Z.... Sie berichtete am 11.05.2011 über die Symptomentwicklung des Klägers nach psychologischen Betreuungsgesprächen am 26.04.2011, 06.05.2011, 12.05.2011, 20.05.2011 und 27.05.2011. Sie sah deutliche Hinweise auf eine akute Belastungsreaktion, wie Schlafstörungen und Unruhe (Herzrasen und Beklemmungen). Im Verlauf der Gespräche habe sich eine leichte Besserung gezeigt, welche von dem Kläger selbst so jedoch nicht wahrgenommen worden sei. In einem Abschlussbericht vom 04.07.2011 berichtete Dipl.-Psych. Z... von einem deutlichen Beschwerderückgang. Es seien Hinweise auf das Vorliegen eines klinisch relevanten Traumas verifiziert worden. Trotz Vermeidungsbemühungen hätten sich zunächst in hoher Intensität Vorstellungen zu dem Ereignis aufgedrängt. Nach einem leichten Rückgang der Beschwerden sei eine Verschlechterung nach ca. zwei Wochen eingetreten. Nach erneuter Stabilisierung sei es zunehmend gelungen, den Kläger mit dem traumatischen Ereignis zu konfrontieren. Die starke Übererregbarkeit sei zunehmend abgeklungen. Am 27.06.2011 habe der Kläger beschlossen, seinen Dienst wieder anzutreten. Zunächst habe eine akute Belastungsreaktion vorgelegen. Die zeitliche Entwicklung der Beschwerden habe darüber hinaus auf die Ausprägung einer PTBS schließen lassen.
Nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit arbeitete der Kläger zunächst wieder, wobei er Bürotätigkeiten als Disponent ausübte. In einem Arztbrief der Hausärztin des Klägers Dr. Y... vom 14.08.2014 berichtete diese, dass sie dem Kläger ab 30.06.2011 Arbeitsfähigkeit attestiert habe, er zunächst jedoch nur mit Begleitperson fahrtauglich gewesen sei.
Im November 2012 beging die Mutter des Klägers Suizid.
Vom 15.05.2014 bis 27.06.2014 befand sich der Kläger in ambulanter psychosomatischer Behandlung in der F...-Klinik in B.... Hier wurde im Entlassungsbericht unter Krankheitsverlauf zusammengefasst, dass sich die Eltern des Klägers hätten scheiden lassen, als dieser elf Jahre alt gewesen sei, was er nur schwer verkraftet habe. Im Jahr 2000 habe seine Tante Suizid begangen. 2003 habe er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Lokführer zum ersten Mal einen Personenunfall erlebt, wobei sich eine Person in suizidaler Absicht vor den Zug geworfen habe. 2009 sei er von der Polizei einer Straftat verdächtigt worden. Die Ermittlungen hätten über ein Vierteljahr angedauert und er habe fast Todesangst durchlitten. Schließlich sei seine Unschuld ermittelt worden. 2011 habe er das zweite Mal einen Personenunfall gehabt, von dem ihm heute noch Bilder und vor allem Gerüche immer wieder präsent seien und sich oftmals regelrecht aufdrängten. Im November 2012 habe sich schließlich seine Mutter auf dem Dachboden erhängt. Es wurde eine PTBS mit erhöhtem Arousal, Konzentrationsstörungen und Grübeln diagnostiziert. Der Kläger habe u. a. von regelrechten Panikattacken mit Schwitzen und Herzrasen berichtet, vor alle...