Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Bekanntgabe des Verwaltungsaktes. Zugang des Verwaltungsaktes. Nachweis des Zugangs durch Leistungsträger bei Zweifeln. Arbeitslosengeldanspruch. Erlöschen. Geltendmachung innerhalb der Vierjahresfrist des § 125 Abs 2 AFG. Verjährungsrecht. Berücksichtigung des Übergangsrechts. Abschaffung der Unterbrechung. Hemmung. mahnungsähnliche Handlung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Fiktion der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes am 3. Tage nach der Aufgabe zur Post nach § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 gilt dann nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 37 Abs 2 S 2 Halbs 1 SGB 10). Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 37 Abs 2 S 2 Halbs 2 SGB 10). Zweifel bestehen insoweit dann, wenn die Behörde den Postausgang nicht vermerkt und sich der Versicherte nicht mehr an den Zugang des Verwaltungsakts erinnern kann.
2. Der Anspruch eines Versicherten auf Arbeitslosengeld kann nach der Bestimmung des § 125 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) erlöschen, denn der Anspruch auf Arbeitslosengeld kann dann nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung 4 Jahre verstrichen sind. Hat der Arbeitslose den Anspruch vor Ablauf der Frist geltend gemacht, stehen ihm Leistungen auch über das Fristende hinaus zu. Ein "Geltendmachen" liegt stets in einer Antragstellung.
3. Nach der Reform des Verjährungsrechts durch die Schuldrechtsreform von 2001, die unter anderem das Institut der Unterbrechung der Verjährung abgeschafft hatte, wurden die Abs 2 und 3 des § 45 SGB 1 an die neu gefassten Vorschriften des bürgerlichen Rechts angepasst. Für das Übergangsrecht sind nach § 70 SGB 1 die Regelungen des Art 229 § 6 Abs 1 und 2 EGBGB (juris: BGBEG) bei der Anwendung des § 45 Abs 2 und 3 SGB 1 in der seit dem 1.1.2002 geltenden Fassung zu berücksichtigen (vgl Art 5 Nr 4 des Gesetzes zur Einführung einer kapitalgedeckten hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze (Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 21.6.2002 = HZvNG, BGBl I 2002, 2167).
4. Eine "mahnungsähnliche Handlung" im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSG vom 15.6.2000 - B 7 AL 64/99 R = BSGE 86, 182 = SozR 3-1200 § 45 Nr 9) bei abschnittsweise bewilligten Sozialleistungen, die für eine Unterbrechung der Verjährung vorausgesetzt wird, kann darin liegen, dass ein Versicherter sich immer wieder arbeitslos gemeldet, bei der Beklagten vorgesprochen und sich nach seinen Bescheiden erkundigt hat, aber vertröstet worden und zu dem Verwaltungsverfahren bei der Bundesagentur keine Akte angelegt worden ist.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Juni 2006 und die Bescheide vom 29. März 2004 sowie der Bescheid vom 5. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Februar 2005 aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Zugrundelegung einer Antragstellung vom 4. Mai 1994, 19. Juni 1995, 18. August 1995, 27. Dezember 1995, 11. April 1996, 20. Dezember 1996, 28. Februar 1997 und 22. August 1997 Arbeitslosengeld nach den gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.
II Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin für die Zeit ab 4. Mai 1994 Arbeitslosengeld zu zahlen.
Die 1948 geborene Klägerin war als Kostümbildnerin im Bereich Film und Fernsehen beschäftigt. Während der verschiedenen Zeiten ihrer Beschäftigungslosigkeit meldete sie sich im Zeitraum vom 4. Mai 1994 bis zum 22. August 1997 bei der Beklagten achtmal arbeitslos. Persönliche Arbeitslosmeldungen erfolgten dabei am 4. Mai 1994, 19. Juni 1995, 18. August 1995, 27. Dezember 1995 zum 1. Januar 1996, 11. April 1996, 20. Dezember 1996 mit Wirkung zum 21. Dezember 1996, 28. Februar 1997 mit Wirkung zum 1. März 1997 und am 22. August 1997.
Auf die folgenden Arbeitslosmeldungen ab dem 2. August 2000, 17. Oktober 2000, 12. August 2001, 18. Mai 2002 und ab 17. Oktober 2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld in der Zeit vom 2. August 2000 bis zum 21. August 2000 sowie dann vom 17. Oktober 2000 bis zum 17. Dezember 2000 und vom 12. August 2001 bis zum 4. November 2001. Sie bezog schließlich Arbeitslosengeld vom 18. Mai 2002 bis zum 23. Juni 2002.
Die Originalanträge der Klägerin im Zeitraum vom 4. Mai 1994 bis zum 22. August 1997 gingen ausweislich der angebrachten Eingangsstempel bei der Beklagten (Agentur für Arbeit) am 23. Februar 2004 ein. Auf den Antragsformularen war durch die Beklagte jeweils für die persönliche Arbeitslosmeldung am 4. Mai 1994 auch der Tag der Antragstellung am 4. Mai 1994 bescheinigt, für die persönliche Arbeitslosmeldung am 19. Juni 1995 der Tag der Antragstellung ebenfalls am 19. Juni 1995, für die persönliche Arbeitslosmeldung...