Entscheidungsstichwort (Thema)
Impfschadensrecht: Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit für die Kausalität
Leitsatz (amtlich)
1. Entgegen dem Wortlaut von § 61 Satz 1 IfSG genügt als Beweismaßstab für die Kausalität im Impfschadensrecht insgesamt - also für haftungsbegründende und haftungsausfüllende - deren Wahrscheinlichkeit.
2. Es ist unzulässig, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden.
3. Die Kausalitätsbeurteilung im Impfschadensrecht hat in Form einer Gesamtabwägung aller relevanten Umstände zu erfolgen.
4. Die in Impfschadensstreitigkeiten von Klägerseite häufige Präsentation von erdachten Kausalzusammenhängen, mit denen untermauert werden soll, dass ein Impfschaden aber doch "nicht auszuschließen" sei, verkennt den rechtlich vorgegebenen Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit.
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 20. August 2009 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten wegen einer Versorgung nach dem Impfschadensrecht. Der Kläger macht eine Funktionsstörung des rechten Beins (Quadrizepsathrophie) als Impfschaden geltend.
Der 1976 geborene Kläger wurde am 05.08.1982 gegen Masern und Mumps geimpft (MM-Impfung); es handelt sich dabei seit jeher um eine Lebendimpfung. Nähere Informationen lassen sich dem Impfbuch nicht entnehmen; weder sind darin Impfstoff und Chargennummer noch die Impfstelle am Körper vermerkt. Nach den Angaben des Klägers wurde der Impfstoff in den rechten Oberschenkel injiziert. Er selbst hat im Lauf des Verfahrens entweder geäußert, die Impfung sei unkompliziert verlaufen (vor dem Psychiater H.), oder aber, er besitze keine Erinnerung an eventuelle negative Begleitumstände. Die Mutter des Klägers hat indes in einem Schreiben vom 29.02.2008, das sie in Zusammenhang mit der Begutachtung durch Dr. K. erstellt hat, angegeben, der Kläger habe bei der Impfung im Oberschenkel große Schmerzen gehabt.
In der Folgezeit trat beim Kläger eine Quadrizepsathrophie auf. Zur der Frage, wann zum ersten Mal eine Veränderung am rechten Bein bemerkt worden war, divergieren die Angaben erheblich. In einem Bericht des H. Kinderspitals, B-Stadt, vom 10.10.1985 über einen stationären Aufenthalt vom 25. bis 30.08.1985 ist vermerkt, der Mutter des Klägers sei im Frühjahr 1984 aufgefallen, dass dessen rechter Oberschenkel dünner sei; das bestätigte der Kläger im Versorgungsantrag vom 06.06.2003 und davon ist auch der Sachverständige Dr. H. ausgegangen. Eine erste fachärztlich-neurologische Untersuchung erfolgte im September 1984. Im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation vom 30.07. bis 27.08.1986 im Neurologischen Rehabilitationskrankenhaus für Kinder und Jugendliche in G. trugen die Eltern des Klägers vor, bereits im Mai 1983, als der Junge angefangen habe, kurze Hosen zu tragen, sei aufgefallen, dass der rechte Oberschenkel dünner sei. Bei den ärztlichen Untersuchungen im Rahmen der Begutachtungen nach Einleitung des Versorgungsverfahrens gab der Kläger jeweils an, ein Nachbar habe 1983 bemerkt, dass der rechte Oberschenkel dünner sei als der linke (vor dem Psychiater H.: etwa ein Jahr nach der Impfung; vor Dr. B.: im März 1983). In dem besagten Schreiben, das die Mutter des Klägers in Zusammenhang mit der Begutachtung durch Dr. K. erstellt hat, wird angegeben, neun Monate nach der Impfung sei eine Verschmächtigung aufgefallen.
Die Quadrizepsathrophie als solche verlief nicht progredient. Allerdings kam es durch sie zu Funktionsstörungen des rechten Knies, der Wirbelsäule und der Hüfte. Die exakte Ursache der Quadrizepsathrophie hat bis heute nicht festgestellt werden können. Der aktuelle Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht beträgt 30.
Mit Antrag vom 06.06.2003 begehrte der Kläger, die Verschmächtigung des rechten Oberschenkels als Impfschaden anzuerkennen und ihm Versorgung zu gewähren. In dem Antrag schrieb der Kläger, durch die Injektion in den rechten Oberschenkel sei der Nervus femoralis verletzt worden. Er wurde vom Psychiater H. versorgungsmedizinisch begutachtet. Im Rahmen der Anamnese gab der Kläger an, er halte es für möglich, dass bei der Impfung der Nerv geschädigt worden sei. Vor der Impfung sei er beim Laufen mit Gleichaltrigen immer der Schnellste gewesen, danach der Langsamste. Herr H. stellte eine deutliche Atrophie der Quadrizepsmuskulatur des rechten Oberschenkels bei zugrunde liegender Schädigung des Nervus femoralis fest. Eine direkte Schädigung durch den Impfvorgang hielt er für äußerst unwahrscheinlich, weil die Impfung an der Außenseite des Oberschenkels erfolgt war, der Nervus femoralis aber an der Innenseite verläuft. Aufgrund dessen lehnte die Beklagte den Antrag auf Impfschadensausgleich mit Bescheid vom 14.07.2004 ab.
Auf den Widerspruch des Klägers vom 23.07.2004 hin zog der Beklagte erneut seinen ärztlichen Dienst hinzu. Von dort...