Entscheidungsstichwort (Thema)

Bußgeldverfahren. Geschwindigkeitsüberschreitung. Rechtsbeschwerde. Rechtsbeschwerdebegründung. Abwesenheit. Abwesenheitsurteil. Hauptverhandlung. Unterbrechung. Vertagung. Erscheinenspflicht. Entbindung. Verteidiger. Verfahrensrüge. Verfahrensfehler. Verfahrenstatsachen. Zulässigkeit. Rügeanforderungen. Darlegungsanforderungen. Angriffsrichtung. Hinweispflicht. Gehörsverstoß. Bußgeldbescheid. Schuldform. Fahrlässigkeit. Vorsatz. Geldbuße. Fahrverbot. faires Verfahren. Überraschungsentscheidung. Beruhen. Anforderungen an Rüge der Verletzung der Hinweispflicht gemäß § 265 Abs. 1 StPO im Rechtsbeschwerdeverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird der Betroffene von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden und nimmt weder er noch sein Verteidiger an dieser teil, reicht ein Hinweis auf eine abweichend vom Bußgeldbescheid in Betracht kommende Verurteilung wegen Vorsatzes nach § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 265 Abs. 1 StPO in der Hauptverhandlung nicht aus.

2. Anders als bei einer allein auf die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) gestützten Beanstandung setzt die Zulässigkeit der Rüge einer Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO nicht voraus, dass der Beschwerdeführer auch vorträgt, wie er sich im Falle eines ordnungsgemäß erteilten Hinweises verteidigt hätte, insbesondere was er in diesem Fall konkret geltend gemacht bzw. wie er seine Rechte im Einzelnen wahrgenommen hätte (Abgrenzung zu BayObLG, Beschl. v. 21.01.2022 - 202 ObOWi 2/22 = NZV 2022, 482 = BeckRS 2022, 3278).

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 265 Abs. 1, § 337 Abs. 1, § 344 Abs. 2 S. 2, § 353 Abs. 1; OWiG § 46 Abs. 1, § 71 Abs. 1, § 73 Abs. 2, § 79 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80a Abs. 1; StVG §§ 24, 25 Abs. 1 S. 1, § 26a; StVO § 3 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. c), § 49 Abs. 1 Nr. 3; BKatV § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; BKatV Anhang Tabelle 1 Nr. 11.3.7

 

Verfahrensgang

AG Passau (Entscheidung vom 23.09.2022; Aktenzeichen 202 ObOWi 1580/22)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Passau vom 23. September 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

  • II.

    Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Passau zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung gemäß § 73 Abs. 2 OWiG antragsgemäß entbundenen und in dieser auch nicht durch Verteidiger vertretenen Betroffenen in dessen Abwesenheit mit dem angefochtenen Urteil wegen einer am 06.12.2021 als Führer eines Pkw auf einer Bundesstraße begangenen vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h (§ 24 StVG i.V.m. §§ 3 Abs. 3 Nr. 2c, 49 Abs. 1 Nr. 3 StVO) zu einer Geldbuße von 960 Euro verurteilt. Daneben hat es gemäß §§ 25 Abs. 1 Satz 1 [1. Alt.], 26a StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV abweichend vom dem im vorgenannten Bußgeldbescheid gemäß lfd.Nr. 11.3.7 der Tabelle 1c zum BKat vorgesehenen einmonatigen (Regel-) Fahrverbot eine Fahrverbotsdauer von zwei Monaten angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsbeschwerde gemäß § 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG als unbegründet zu verwerfen.

II.

Das Rechtsmittel hat mit der nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge einer Verletzung der Hinweispflicht Erfolg, weil der Betroffene und seine Verteidigung während des gerichtlichen Verfahrens entgegen den §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 265 Abs. 1 StPO nicht auf die Möglichkeit einer von der rechtlichen Beurteilung des Bußgeldbescheids abweichenden Verurteilung wegen vorsätzlicher Verwirklichung des Bußgeldtatbestandes in der gebührenden Weise hingewiesen wurde. Auf die weiteren verfahrensrechtlichen und die sachlich-rechtlichen Beanstandungen der Rechtsbeschwerde kommt es nicht mehr an.

1. Entgegen der von der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer vorgenannten Antragsschrift vertretenen Auffassung ist die Rüge der Verletzung des § 265 Abs. 1 StPO zulässig ausgeführt.

a) Von der Rechtsbeschwerde werden gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO im Rahmen der Rechtsbeschwerdebegründung alle wesentlichen den Mangel enthaltenden Verfahrenstatsachen aus sich heraus verständlich und derart vollständig, genau und bestimmt mitgeteilt, dass der Senat in den Stand gesetzt ist, allein aufgrund des Rügevorbringens zu prüfen, ob der gerügte Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden.

b) Die Zulässigkeit der Rüge setzt nicht voraus, dass der Beschwerdeführer vorträgt, wie er sich im Falle eines ordnungsgemäß erteilten Hinweises nach § 265 Abs. 1 StPO verteidigt hätte. Denn für die Beurteilung eines Verstoßes gegen diese Norm kommt es hierauf nicht an. Dem steht die von der Generals...

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