Entscheidungsstichwort (Thema)
Revision. Sachrüge. Feststellungen. lückenhaft. Aufhebung. Zurückverweisung. Körperverletzung. Notwehr. Abwehr. Abwehrhandllung. Verteidigung. Verteidigungswille. Verteidigungshandlung. Verteidigungsmittel. Erforderlichkeit. ex-ante-Betrachtung. Rechtfertigung. Rechtfertigungsgrund. Aggression. aggressiv. wegstoßen. schubsen. Ohrfeige. Faust. Faustschlag. Kiefer. Kieferbruch. Angriff. gegenwärtig. Gegenwärtigkeit. Provokation. provokativ. Rechtsgutsverletzung. Unmittelbarkeit. Wiederholungsgefahr. übergriffig. Passivität. Distanzlosigkeit. Gesamtumstände
Leitsatz (amtlich)
1. Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, ist der Angriff so lange gegenwärtig im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten sind.
2. Ein Verteidigungsverhalten in Form eines Faustschlags ins Gesicht ist erforderlich, wenn es zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihm um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Bei Beurteilung dieser Frage hat der Tatrichter insbesondere das bisherige Verhalten des Angreifers zu berücksichtigen, der sich durch geringer dosierte Abwehrmittel (hier: Wegstoßen) nicht von einer Körperverletzungshandlung zum Nachteil des Angegriffenen abhalten ließ.
3. Bei der Frage, ob eine das Notwehrrecht einschränkende Provokation des Angegriffenen vorausgegangen war, ist es rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter ein Verhalten desjenigen, der sich auf Notwehr beruft, einseitig aus einem Gesamtgeschehen herausgreift und dabei außer Acht lässt, dass dieses Verhalten rechtmäßig war und durch den Angreifer provoziert worden war.
Normenkette
StGB § 32 Abs. 1-2, § 223 Abs. 1; StPO § 349 Abs. 2, § 354 Abs. 2, § 353
Tenor
I.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 27.09.2021 mit den Feststellungen zum weiteren Geschehensablauf, nachdem die Nebenklägerin dem Angeklagten eine Ohrfeige versetzt hatte, aufgehoben; die übrigen Feststellungen bis zu diesem Zeitpunkt und diejenigen zu den von der Nebenklägerin erlittenen Verletzungen bleiben aufrechterhalten.
II.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 15.03.2021 wegen Körperverletzung zur Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 Euro verurteilt. Mit Urteil vom 27.09.2021 verwarf das Landgericht die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe, dass die Tagessatzhöhe auf 35 Euro festgesetzt wird. Mit seiner gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
III.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Am 04.09.2019 gegen 17:30 Uhr kam es auf dem Parkplatz der Firma W. in S. zu einer zunächst verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten, der seine Arbeitsstelle aufsuchen wollte, und der Nebenklägerin. Vorausgegangen war ein Überholmanöver des Angeklagten, das die Nebenklägerin, obwohl nach den Feststellungen des Berufungsurteils eine Gefährdung nicht vorgelegen hatte, als gefährlich empfand und diese veranlasste, dem Angeklagten nachzufahren, um ihn auf das Überholmanöver anzusprechen.
Die Nebenklägerin stellte ihr Fahrzeug schräg vor den parkenden Pkw des Angeklagten und fragte ihn, was er sich "dabei gedacht" habe, "so gefährlich zu überholen". Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, bei der sich die Nebenklägerin dem Angeklagten auf etwa eine Armlänge annäherte. Dies nahm der Angeklagte zum Anlass, die Nebenklägerin mit beiden Händen - gerichtet gegen die Schultern der Nebenklägerin - wegzustoßen, wodurch sie mehrere Schritte rückwärts machte und über die Motorhaube eines Fahrzeugs zu Boden fiel. Die Nebenklägerin stand sogleich wieder auf, ging erneut auf den Angeklagten zu und versetzte ihm mit der rechten Hand eine Ohrfeige ins Gesicht, "um sich für den Schubser zu revanchieren". Danach machte die Nebenklägerin "keinerlei Anstalten mehr, den Angeklagten weiter anzugreifen". "Nach kurzem Überlegen" schlug der Angeklagte mit der rechten Faust auf die linke Gesichtshälfte im Bereich unterhalb des Ohres, sodass die Nebenklägerin zu Boden ging und einen Bruch des linken Kiefers erlitt.
Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Verhaltens des Angeklagten wegen Notwehr gemäß § 32 StGB verneint. Zwar habe die Nebenklägerin ihm eine Ohrfeige versetzt, was einen rechtswidrigen Angriff darstellte. Dieser sei jedoch nicht mehr gegenwärtig gewesen, weil die Nebe...