Entscheidungsstichwort (Thema)

Messverfahren. Geschwindigkeitsmessung. standardisiert. Rohmessdaten. Messreihe. digital. Statistikdatei. Annullationsrate. Messgerät. Messdaten. Geschwindigkeitsüberwachungsgerät. PoliScanSpeed M1. Vitronic. Akte. Ermittlungsakte. Gerichtsakte. Vorverfahren. Akteneinsicht. Beiziehung. Auswertung. Sachverständiger. Verfahrensgrundrecht. fair. Waffengleichheit. Gehör. Gehörsverstoß. Beweisantrag. Rechtsbeschwerde. Verfahrensrüge. Antrag. Bußgeld. Fahrverbot. Verwaltungsbehörde. Messbilder. Messfehler. Hauptverhandlung. Aussetzung. Beschluss. Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Schutzbereich. Willkür. Willkürentscheidung. Anspruchsvoraussetzungen für Einsichtnahme in sog. ,Rohmessdaten'

 

Leitsatz (amtlich)

1. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren kann sich im Zusammenhang mit einer standardisierten Messung im Straßenverkehr ein Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu nicht bei der Bußgeldakte befindlicher, aber bei der Verfolgungsbehörde vorhandener und zum Zwecke der Ermittlungen entstandener bestimmter Informationen, hier der sog. ,Rohmessdaten' einer konkreten Einzelmessung, ergeben (Anschluss an BVerfG [3. Kammer des 2. Senats], Beschl. v. 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18 bei juris).

2. Demgegenüber wird durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung von nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. ,Rohmessdaten' das rechtliche Gehör des Betroffenen ( Art. 103 Abs. 1 GG ) regelmäßig nicht verletzt (Festhaltung u.a. an BayObLG, Beschl. v. 09.12.2019 - 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145 = BeckRS 2019, 31165; 06.04.2020 - 201 ObOWi 291/20 bei juris und KG, Beschl. v. 02.04.2019 - 122 Ss 43/19 bei juris).

3. Ein Anspruch des Betroffenen und seiner Verteidigung auf Einsichtnahme und Überlassung der (digitalen) Daten der gesamten Messreihe besteht nicht (u.a. Anschluss an OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2020 - 1 OWi 2 SsBs 94/19 = ZfSch 2020, 413 und 27.10.2020 - 1 OWi 2 SsBs 103/20 bei juris).

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; StPO §§ 261, 338 Nr. 8, § 344 Abs. 2; OWiG § 77 Abs. 2 Nr. 1, § 79 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1-2, §§ 80a, 79 Abs. 3 S. 1; StVG §§ 24, 25 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, § 26a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2; BKatV § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; BKat Anhang Tabelle 1c Nr. 11.3.6

 

Tenor

  • I.

    Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 4. August 2020 mit den Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.

  • II.

    Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 04.08.2020 wegen fahrlässiger Überschreitung der innerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 40 km/h zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt und gegen ihn wegen des groben Pflichtenverstoßes gemäß §§ 24 , 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. , 26a Abs. 1 Nr. 3 , Abs. 2 StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd.Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat in der zur Tatzeit gültigen - für innerörtliche Verstöße durch die am 27.04.2020 in Kraft getretene Neufassung vom 20.04.2020 (BGBl. I, 814) nicht geänderten - Fassung ein Regelfahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet.

Nach den Feststellungen erfolgte die polizeiliche Messung mit einem gültig geeichten digitalen Geschwindigkeitsüberwachungsgerät des Typs ,PoliScan Speed M1' (Gerätenummer 636074, Softwareversion 3.2.4) des Herstellers ,VITRONIC Dr.-Ing. Stein Bildverarbeitungssysteme GmbH' .

Mit der Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Mit der Verfahrensrüge wird - hinsichtlich des Verfahrensgeschehens durch den Akteninhalt belegt - insbesondere beanstandet, dass das Amtsgericht "Verfahrensrecht durch einen Verstoß gegen den Grundsatz auf ein faires Verfahren sowie gleichzeitig durch die Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch Ablehnung des Beweisantrags auf Beiziehung bestimmter Messdaten zur Akte" verletzt habe. Hierzu wird im Wesentlichen vorgetragen, dass bereits mit Schreiben vom 21.02.2020 gegenüber der Verwaltungsbehörde beantragt worden sei, der Verteidigung bzw. dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen die Messdatei samt Dateitoken und Passwort mit den Messbildern der gesamten Messreihe vom Tattag zur Verfügung zu stellen, weil andernfalls keine sachgemäße Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren möglich sei. Mit Schreiben vom 25.02.2020 sei der Antrag von der Verwaltungsbehörde mit dem Hinweis, dass die geforderten Unterlagen nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden, zurückgewiesen worden. Dieser Antrag auf Beiziehung der Messdatei samt Datei-Token und dem Passwort mit den Messbildern der gesamten hierzu zugrunde gelegten Messreihe sei sodann von der Verteidigung gegenüber dem Amtsgericht, bei dem sich die Akten mittlerweile befanden...

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