Leitsatz (amtlich)
1. Begehrt eine frühere Partei eines Zivilprozesses Einsicht in die Akten des abgeschlossenen Rechtsstreits, ist ihr rechtliches Interesse in der Regel zu bejahen.
2. Wendet sich die Person, die der Gewährung von Akteneinsicht widersprochen hat, mit einem Anfechtungsantrag nach § 23 Abs. 1 EGGVG gegen die Bewilligung von Akteneinsicht, führt ein Ermessensfehler der Justizbehörde in Form des Ermessensnichtgebrauchs dann nicht zur Aufhebung des Bewilligungsbescheids und Zurückverweisung an die Justizverwaltung, wenn das Ermessen der Justizbehörde "auf Null" reduziert und deshalb eine eigene Sachentscheidung des Gerichts ausnahmsweise zulässig ist.
Verfahrensgang
LG München I (Aktenzeichen 21 O 11879/02) |
Tenor
I. Der Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Entscheidung vom 19. April 2023 wird zurückgewiesen.
II. Der Geschäftswert des Verfahrens wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
III. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die weitere Beteiligte, eine eingetragene société civile französischen Rechts mit Sitz in Paris, und ihre damaligen Gesellschafter erstritten am 16. August 2006 ein Endurteil des Landgerichts München I (Az. ...), durch das die Antragstellerin und einer ihrer damaligen Geschäftsführer (im Folgenden auch: "Beklagte") zur Unterlassung der Herstellung und des Vertriebs des Sessels mit der Bezeichnung "XXX" sowie zur Auskunftserteilung und Rechnungslegung verurteilt wurden, der verklagte Geschäftsführer darüber hinaus zur Einwilligung in die Löschung eines Eintrags in der Urheberrolle des Deutschen Patent- und Markenamts. Daneben traf das Landgericht die Feststellung, dass die Beklagten verpflichtet sind, der weiteren Beteiligten jeglichen Schaden infolge der vom Unterlassungsgebot umfassten Handlungen zu ersetzen. In dem anschließenden Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht München (Az. ...) schlossen die Parteien des Ausgangsrechtsstreits einen Vergleich, in dem sich die Beklagten unter anderem zur Zahlung eines Geldbetrags zur Abgeltung der Schadensersatzansprüche der Kläger verpflichteten. Infolge der - ebenfalls im Vergleich vereinbarten - Berufungsrücknahme seitens der Beklagten wurde das landgerichtliche Urteil, soweit es nicht durch den Vergleich abgeändert worden war, rechtskräftig.
Mit Schriftsatz vom 1. Februar 2023 beantragte die V. AG, eine Lizenznehmerin der weiteren Beteiligten mit Sitz in CH-... (Kanton ...), bei dem Landgericht München I die Gewährung von Einsicht in die Akten des Ausgangsrechtsstreits durch Übersendung der Akten an die Kanzlei ihrer anwaltlichen Bevollmächtigten in Zürich. Zur Begründung führte sie unter Vorlage einer Kopie des zwischen ihrer Rechtsvorgängerin, der ... AG, und der weiteren Beteiligten abgeschlossenen Lizenzvertrags vom 15. Oktober 2014 aus, dass sie zur Durchsetzung ihrer Rechte an den Möbeln von YYY insbesondere die im Endurteil des Landgerichts München I vom 16. August 2008 genannten Sachverständigengutachten vom 23. Dezember 2003, 30. April 2004 und 11. November 2004 benötige.
Die hierzu angehörte Antragstellerin widersprach der Gewährung von Akteneinsicht mit der Begründung, dass die V. AG das nach § 299 Abs. 2 ZPO erforderliche rechtliche Interesse nicht glaubhaft gemacht habe. Deren Legitimation zur Durchsetzung von Rechten an den Möbeln von YYY beruhe auf der exklusiven Rechtsstellung, die ihr die "Erben-GbR" mit Lizenzvertrag vom 14. Dezember 2014 eingeräumt habe, weshalb sie für die Durchsetzung ihrer Rechte "gegen Nachahmungen und deren Urheber" nicht auf die begehrte Akteneinsicht angewiesen sei. Tatsächlich gehe es der V. AG um die Einsichtnahme in die drei genannten Sachverständigengutachten; sie hoffe, dadurch Tatsachen ermitteln zu können, mit denen sie anderweitige, der Antragstellerin nicht bekannte Ansprüche verfolgen wolle. Die Antragstellerin habe - auch unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten - kein Interesse daran, dass Dritten Gutachten zugänglich gemacht würden, die in einem gegen sie eingeleiteten Verfahren zu ihrem Nachteil erstellt worden seien. Dadurch könnten Sachverhalte und Prüfungsergebnisse in die (Fach-)Öffentlichkeit gelangen, deren zukünftige Auswirkungen im geschäftlichen Verkehr nicht zu überschauen seien.
Der Antrag auf Übersendung der Gerichtsakten nach Zürich und damit in das Gebiet einer anderen Jurisdiktion sei ebenfalls nicht begründet. Weder die V. AG noch deren Bevollmächtigte unterlägen den Anforderungen der deutschen (auch standesrechtlichen) Rechtsordnung; Rückforderungsansprüche müssten nach Schweizer Recht begründet und durchgesetzt werden. Auch wenn diese Überlegungen angesichts der "unbestreitbaren Seriosität" der Bevollmächtigten der V. AG nur theoretischer Natur seien, sollten im vorliegenden Fall "natürliche wie rechtliche Grenzen" grundsätzlich nicht überschritten werden.
Der Vorsitzende der 21. Zivilkammer des Landgerichts München I (im Folgenden auch: "der Vorsitzende") wies mit Beschluss vom 21. März 2023 das Akteneinsichtsgesuch der V. AG zurück,...