Leitsatz (amtlich)

1. Die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts wegen Erziehungsversagens der alleinsorgeberechtigten Mutter setzt voraus, daß diese Maßnahme geeignet ist, einer Gefährdung des Kindeswohls entgegenzuwirken. Daran kann es fehlen, wenn eine 16jährige Jugendliche sich nachhaltig weigert, Erziehungshilfen in Anspruch zu nehmen, und das mit, der Aufenthaltsbestimmung betraute Jugendamt deswegen keine Möglichkeit sieht, durch eine auswärtige Unterbringung eine positive Persönlichkeitsentwicklung zu fördern.

2. Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts wegen Gefährdung des Kindeswohls durch das Verhalten Dritter (hier: Einflußnahme der älteren Schwester, der die sorgeberechtigte Mutter nicht entgegenwirken kann).

 

Normenkette

BGB §§ 1666, 1666a

 

Verfahrensgang

LG Schweinfurt (Beschluss vom 03.08.1994; Aktenzeichen 2 T 39/94)

AG Schweinfurt (Beschluss vom 19.04.1994; Aktenzeichen X 10/94)

 

Tenor

I. Auf die weitere Beschwerde der Beteiligten zu 1 wird der Beschluß des Landgerichts Schweinfurt vom 3. August 1994 teilweise abgeändert. Der Beschluß des Amtsgerichts Schweinfurt vom 19. April 1994 wird aufgehoben, soweit der Beteiligten zu 1 das Recht zur persönlichen Vertretung ihrer Tochter M. in Fragen der Aufenthaltsbestimmung, der ärztlichen Versorgung und Behandlung sowie der schulischen Angelegenheiten und der Beantragung von Sozialleistungen entzogen worden ist.

II. Im übrigen wird die weitere Beschwerde der Beteiligten zu 1 zurückgewiesen.

III. Der Geschäftswert des Verfahrens der weiteren Beschwerde wird auf 8.000 DM festgesetzt.

IV. Der Beteiligten zu 1 wird für das Verfahren der weiteren Beschwerde ab dem 5. September 1994 Prozeßkostenhilfe bewilligt und ihr Rechtsanwalt R. in Schweinfurt beigeordnet.

 

Tatbestand

I.

Die am 16.3.1978 in Algerien geborene M. und die am 26.7.1984 in Deutschland geborene S. sind die Töchter der Beteiligten zu 1. Sie ist algerische Staatsangehörige, hat im Jahr 1982 mit dem Beteiligten zu 2, einem deutschen Staatsangehörigen, die Ehe geschlossen und lebt seitdem in Deutschland. Der Beteiligte zu 2 hat M. im Jahr 1983 adoptiert und ist der leibliche Vater von S. Er hat sich im Juni 1988 von der Familie getrennt und seitdem keinen Kontakt zu den Kindern. Die Ehe der Beteiligten zu 1 und 2 wurde im Februar 1991 geschieden; die elterliche Sorge für beide Kinder wurde der Beteiligten zu 1 übertragen.

Im November 1988 entzog das Vormundschaftsgericht im Weg der einstweiligen Anordnung den Beteiligten zu 1 und 2 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für M. mit der Begründung, die Mutter habe das Kind unverhältnismäßig gezüchtigt und mißhandelt, sie erscheine erziehungsungeeignet und unbeeinflußbar. Das Kreisjugendamt brachte M. damals in einem Heim unter. Nachdem das Vormundschaftsgericht ein familienpsychologisches Gutachten eingeholt und die Eltern angehört hatte, stellten diese Antrag auf freiwillige Erziehungshilfe. Danach wurde die einstweilige Anordnung aufgehoben.

Am 19.1.1994 wandte sich das Kreisjugendamt erneut an das Vormundschaftsgericht. Es teilte mit, die Jugendhilfemaßnahme für M. sei vorzeitig beendet worden, nachdem das Mädchen vom Heim als nicht mehr tragbar beurteilt worden sei. Seit Februar 1992 besuche M. die Hauptschule an ihrem Wohnort. Dort sei es von Anfang an wegen unentschuldigten Fehlens und aggressiven Verhaltens zu erheblichen Schwierigkeiten gekommen. Die Schule rege die Unterbringung von M. in einer geschlossenen Einrichtung an. Die Mutter sei unfähig, konsequent auf das Mädchen einzuwirken. Zwischen ihr und M. sei es wiederholt zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen. Im Juli 1992 sei S. bei einem solchen Vorfall verletzt worden. Die Beteiligte zu 1 sei im April 1993 auf Veranlassung der Sozialhilfeverwaltung amtsärztlich untersucht worden. Dabei seien psychische Auffälligkeiten mit überwiegend depressiver Symptomatik festgestellt worden. Aufgrund der Erziehungsunfähigkeit der Mutter und der Tätlichkeiten innerhalb der Familie sei vor allem bei S. von einer Gefährdung des seelischen und körperlichen Wohls auszugehen, jedoch erscheine zunächst eine gutachterliche Abklärung angezeigt.

Das Vormundschaftsgericht veranlaßte die Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens zur Klärung der S. betreffenden Fragen, das am 17.3.1994 erstattet wurde. Nunmehr beantragte das Kreisjugendamt, der Beteiligten zu 1 die elterliche Sorge für beide Kinder zu entziehen. Das Vormundschaftsgericht hörte die beiden Mädchen, den Vertreter des Kreisjugendamts und den Sachverständigen mündlich an. Eine Anhörung der Beteiligten zu 1 unterblieb, weil sie sich zeitweilig im Krankenhaus befand. Mit Beschluß vom 19.4.1994 entzog das Vormundschaftsgericht im Weg der einstweiligen Anordnung der Beteiligten zu 1 das Recht zur persönlichen Vertretung ihrer Kinder in Fragen der Aufenthaltsbestimmung, der ärztlichen Versorgung und Behandlung, der schulischen Angelegenheiten sowie der Beantragung von Sozialleistungen und übertrug es auf das Kreisjugendamt als Pfleger. Zur Begründu...

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