Leitsatz (amtlich)
I. Bei sowohl vom Angeklagten als auch von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen ist § 340 StPO grundsätzlich nicht anwendbar.
II. Das Berufungsgericht muss auch bei Vertretung des Angeklagten durch einen mit besonderer Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger ausreichende Feststellungen dazu treffen, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vorliegen.
III. Zur "Erforderlichkeit" der Anwesenheit des Angeklagten.
IV. Vorliegend kann der Senat wegen der zulässig erhobenen Verfahrensrüge aufgrund der Aktenlage selbst feststellen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben ist.
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 1, 3 Buchst. c; StGB § 47 Abs. 1, § 56; StPO §§ 34, 244 Abs. 2, §§ 267, 329 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 4, § 338 Nr. 5, §§ 340, 344 Abs. 2 S. 2, § 411 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
AG Fürth (Bayern) (Entscheidung vom 30.06.2023) |
LG Nürnberg-Fürth (Entscheidung vom 14.11.2023; Aktenzeichen 14 NBs 995 Js 2880/22) |
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten W. wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 14. November 2023 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Fürth hat den Angeklagten am 30.06.2023 wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
Gegen dieses Urteil haben - jeweils form- und fristgerecht - der Angeklagte am 03.07.2023 unbeschränkt und die Staatsanwaltschaft am 05.07.2023 zu dessen Lasten beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch Berufung eingelegt.
Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist dem Angeklagten und seinem Pflichtverteidiger nicht zugestellt worden. Dem Pflichtverteidiger ist auf seinen Antrag gemäß Verfügung vom 19.07.2023 Akteneinsicht gewährt worden.
Zur Berufungshauptverhandlung ist nur der Pflichtverteidiger des Angeklagten, der eine Strafprozess- und Vertretungsvollmacht vom 30.10.2023 übergeben hat, nicht aber der Angeklagte selbst erschienen.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat nach Beweisaufnahme mit Urteil vom 14.11.2023 auf die Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts Fürth vom 30.06.2023 dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer (nicht zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird, und die Berufung des Angeklagten verworfen.
Gegen dieses seinem Verteidiger am 28.11.2023 zugestellte Urteil hat jener am 15.11.2023 Revision eingelegt und diese am 28.12.2023 begründet, wobei er neben der Verletzung materiellen Rechts mit der ausgeführten Verfahrensrüge einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend macht.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt,
die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen.
Hierauf erwiderte der Angeklagte mit der Gegenerklärung seines Verteidigers vom 28.02.2024.
II.
Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO frist- und formgerecht eingelegte Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge jedenfalls vorläufig Erfolg.
Das Berufungsgericht hat über die vom Angeklagten unbeschränkt und von der Staatsanwaltschaft zu dessen Lasten auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt eingelegten Berufungen in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt. Mit der Verfahrensrüge nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO kann gerügt werden, dass das Gericht nicht in Abwesenheit des Angeklagten hätte verhandeln dürfen (BeckOK StPO/Eschelbach, 50. Ed. 01.01.2024, § 329 Rn. 72). Deren Zulässigkeit steht § 340 StPO nicht entgegen (vgl. unten unter 1.). Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat nur unzureichend festgestellt, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vorlagen (vgl. unten unter 2.). Der Angeklagte wurde zwar in der Hauptverhandlung durch einen mit besonderer Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger vertreten (vgl. unten unter 2.a). Es fehlen jedoch erforderliche Feststellungen dazu, dass die Anwesenheit des Angeklagten bei der Hauptverhandlung nicht erforderlich war (vgl. unten unter 2.b). Ob die fehlenden Feststellungen hierzu bereits zur Aufhebung des Berufungsurteils führen würden, kann dahinstehen. Denn die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung war aufgrund der Umstände des Einzelfalles zur Durchführung eines fairen Verfahrens erforderlich, was der Senat aufgrund der zulässig erhobenen Verfahrensrüge aufgrund der Aktenlage selbst feststellen kann (vgl. unten unter 3.). Damit ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben.
1. Die durch das Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerke...