Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbeschwerde. Rechtsbeschwerdegericht. Zulassungsrechtsbeschwerde. Statthaftigkeit. Geldbuße. Einzelgeldbußen. Addition. Additionsverbot. Wertgrenze. Sachrüge. Kumulationsprinzip. Urteilsformel. Urteilstenor. Urteilsgründe. Tat. Tatbegriff. materiell. prozessual. Geschehen. Lebensvorgang. einheitlich. geschichtlich. Unterscheidbarkeit. Feststellungen. Feststellungsmangel. Tateinheit. Tatmehrheit. Tathandlung. Verknüpfung. Unrechtsgehalt. Schuldgehalt. Aufspaltung. unnatürlich. Auftraggeber. Tatzeitpunkt. tabellarisch. Konkurrenzverhältnis
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Beurteilung der Frage, ob bei der Verhängung mehrerer Geldbußen die Wertgrenze des § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG überschritten ist, sind einzelne Geldbußen zu addieren, soweit sie wegen einer Tat im prozessualen Sinne gemäß § 264 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG verhängt wurden.
2. Kann aufgrund der unzulänglichen tatrichterlichen Feststellungen nicht beurteilt werden, um wie viele prozessuale Taten es sich bei den abgeurteilten Verstößen gegen das Steuerberatungsgesetz handelt, sind die verhängten Geldbußen für die Prüfung der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde zusammenzurechnen.
Normenkette
OWiG §§ 19-20, 46 Abs. 1, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80 Abs. 1, § 80a Abs. 1; StPO § 264 Abs. 1, § 267 Abs. 1, § 353
Verfahrensgang
AG Nürnberg (Entscheidung vom 05.04.2022) |
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 05.04.2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen am 05.04.2022 wegen unbefugter Hilfeleistung in Steuersachen in 2653 Fällen zu einer Geldbuße von 142.435 Euro. Mit seiner hiergegen gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffenen die Verletzung materiellen Rechts.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG statthaft.
a) Allerdings folgt die Statthaftigkeit noch nicht daraus, dass das Amtsgericht in Verkennung des aus § 20 OWiG resultierenden Kumulationsprinzips im Entscheidungstenor eine Addition der verhängten Einzelgeldbußen vorgenommen hat. Für die Frage, ob die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG oder ein Zulassungsantrag § 80 Abs. 1 OWiG statthaft ist, kommt es nicht auf die (fehlerhafte) Urteilsformel der angefochtenen Entscheidung, sondern - wie sich aus § 79 Abs. 2 OWiG ergibt - darauf an, ob mehrere Taten im prozessualen Sinne (§ 264 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG) Gegenstand des Urteils sind und ob für einzelne Taten Bußgelder jeweils über der Wertgrenze des § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG verhängt wurden. Die Beurteilung, ob eine oder mehrere Taten im prozessualen Sinne vorliegen, hat das Rechtsbeschwerdegericht anhand der tatrichterlichen Feststellungen in eigener Zuständigkeit zu treffen (vgl. nur BayObLG, Beschluss vom 14.05.2004 - 1 ObOWi 185/04 = BayObLGSt 2004, 62 = VerkMitt 2004, Nr 57 = ZfSch 2004, 384 = VRS 107, 59 [2004] = NZV 2004, 480 = DAR 2004, 532 = VD 2005, 77; 21.10.1993 - 3 ObOWi 95/93 = BayObLGSt 1993, 183 = ZfSch 1994, 32 = wistra 1994, 80 = VRS 86, 304 [1994] = NStE Nr 8 zu § 79 OWiG).
b) Die Frage, wie viele prozessuale Taten der Verurteilung zugrunde liegen, kann indes aufgrund der Urteilsgründe, die den Anforderungen des § 267 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG nicht gerecht werden, nicht beantwortet werden.
aa) Nach Tatzeit, Auftraggeber und Auftragsdaten hinreichend präzisierte Tathandlungen werden in den Urteilsgründen nicht geschildert. Vielmehr beschränken sich diese darauf, dass der Betroffene im Zeitraum vom 05.04.2018 bis 19.03.2020 geschäftsmäßig in Steuersachen Hilfeleistungen erbrachte. Eine Differenzierung erfolgt lediglich nach Art und Anzahl der geleisteten Tätigkeiten in stichpunktartiger Aufzählung, wobei zudem teilweise völlig unklar bleibt, welches konkrete Verhalten des Betroffenen überhaupt zugrunde gelegt wird.
bb) Nachdem das Amtsgericht weder die Auftraggeber noch die Zeiten der jeweiligen Auftragserteilungen noch die Zeitpunkte der Ausführung der Arbeiten feststellt, bleibt gänzlich offen, ob gegebenenfalls bei mehreren Hilfeleistungen nur eine Tat im prozessualen Sinne anzunehmen ist.
(1) Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte bzw. Betroffene einen Straftatbestand bzw. eine Ordnungswidrigkeit verwirklicht haben soll. Erfasst wird das gesamte Verhalten des Täters, das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bildet (st.Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 20.10.2021 - 1 StR 46/21 bei juris; 14.04.2021 - 5 StR 143/20 bei juris; 17.03.2021 - 5 StR 273/20 = wistra 2021, 369 = NStZ 2022, 420; 30.09.2020 - 5 StR 99/20 = NStZ-RR 2020, 377 = wistra 2021, 35; Besc...