Leitsatz (amtlich)
1. § 169 Abs. 2 Satz 7 GWB, der bereits vor dem Abschluss des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer die Gestattung des Zuschlags ermöglicht, ist mit dem Europarecht, insbesondere mit der Rechtsmittelrichtlinie vereinbar.
2. Hat der Nachprüfungsantrag nach summarischer Prüfung keine Aussicht auf Erfolg und sind bei der Verzögerung der Erteilung eines Interimsauftrags schwerwiegende nachteilige Folgen für hochwertige Rechtsgüter (hier: Gefahren für Gesundheit und körperlicher Integrität von Schutzbedürftigen) zu erwarten, kann ausnahmsweise ein vorzeitiger Zuschlag nach § 169 Abs. 2 Satz 7 GWB gestattet werden.
3. Bei einem Interimsauftrag, der wegen Dringlichkeit in einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben wird, ist - soweit möglich - für einen angemessenen Bieterwettbewerb zu sorgen, wobei die Begrenzung der Teilnahme auf drei Bieter ordnungsgemäß sein kann und eine nachvollziehbare, willkürfreie Auswahl der Unternehmen zu erfolgen hat, die zur Angebotsabgabe aufgefordert werden. Es kann sachlich gerechtfertigt sein, den Bestandsdienstleister nicht zu beteiligen.
4. Ein solcher Interimsauftrag ist auf den Zeitraum zu beschränken, der für die Erhaltung der Kontinuität der Leistungserbringung bis zur Auftragsvergabe aufgrund eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens erforderlich ist. Der wegen eines laufenden Nachprüfungsverfahrens bestehenden Ungewissheit über den Zeitpunkt der Vergabe des Hauptauftrags kann durch eine kurze Mindestlaufzeit, verbunden mit monatlichen Verlängerungsoptionen Rechnung getragen werden.
Verfahrensgang
Vergabekammer Südbayern (Aktenzeichen 3194.Z3-3_01-22-48) |
Tenor
I. Der Beschluss der Vergabekammer Südbayern vom 26. September 2022 (Gz.: 3194.Z3-3_01-22-48) wird aufgehoben.
II. Dem Antragsgegner wird der sofortige Zuschlag auf den Auftrag "Bewachungsdienstleistungen ... (Interimsvergabe)" gestattet.
III. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Antragsgegners trägt die Antragstellerin.
IV. Der Streitwert wird auf bis zu 110.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Verfahrensbeteiligten streiten im Beschwerdeverfahren um eine vorzeitige Zuschlagsgestattung auf einen Interimsauftrag.
Mit Auftragsbekanntmachung vom 10. Juni 2022 schrieb der Antragsgegner einen Dienstleistungsauftrag über Bewachungsdienste in ... im Wege eines offenen Verfahrens europaweit aus. Der Auftrag hat eine Laufzeit vom 1. Oktober 2022 bis zum 30. September 2023 mit Verlängerungsmöglichkeit bis längstens 30. September 2026. Alleiniges Zuschlagskriterium ist der Preis.
Der bisherige Bewachungsauftrag endete am 30. September 2022.
Unter anderem die Antragstellerin als Bestandsdienstleisterin sowie die Beigeladene beteiligten sich an dem Vergabeverfahren mit einem Angebot.
Mit Informationsschreiben gemäß § 134 GWB vom 26. Juli 2022 und ergänzendem Schreiben vom 4. August 2022 setzte der Antragsgegner die Antragstellerin davon in Kenntnis, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden könne und beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das - günstigere - Angebot der Beigeladenen zu erteilen. Die Antragstellerin habe in der Bieterrangfolge ohne die Berücksichtigung von Angebotsausschlüssen anderer Bieter nur den 15. Platz und nach Berücksichtigung von Angebotsausschlüssen den 12. Platz belegt.
Diese stellte daraufhin mit Schreiben vom 5. August 2022 einen Nachprüfungsantrag, mit dem sie sich gegen die Wertungsentscheidung des Antragsgegners wandte. Sie machte geltend, das Wertungsergebnis könne nur darauf beruhen, dass der Antragsgegner die in der Rangfolge vorgehenden Angebote nicht ordnungsgemäß auf die Einhaltung seiner Vorgabe in Ziffer 6.2 der Leistungsbeschreibung - Sonstige Ausführungsbedingungen -, mithin auf die Einhaltung der tariflichen und gesetzlichen Vorgaben bei der Kalkulation der Stundenverrechnungssätze, überprüft habe. Gerade hinsichtlich der Beigeladenen mit Sitz im Bundesland Hessen dränge sich auf, dass diese nicht mit dem vorgegebenen, sondern mit dem für das Bundesland Hessen maßgeblichen und somit einem deutlich niedrigeren Lohntarifvertrag kalkuliert habe. Wegen unzulässiger Änderungen der Vergabeunterlagen seien alle in der Rangfolge vor ihr liegenden Angebote zwingend auszuschließen mit der Folge, dass sie, die Antragstellerin, an erster Stelle rangiere.
Mit Verfügung vom 24. August 2022 verlängerte die Vergabekammer in diesem unter dem Aktenzeichen 3194.Z3-3_01-22-40 geführten Verfahren die Frist bis zur Entscheidung bis zum 15. Dezember 2022. Sie wies mit rechtlichem Hinweis vom 8. September 2022 darauf hin, dass sie den Nachprüfungsantrag mangels Antragsbefugnis der Antragstellerin für unzulässig halte. Mit Beschluss vom 10. Oktober 2022, gegen den die Antragstellerin sofortige Beschwerde eingelegt hat, die bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht unter dem Aktenzeichen Verg 14/22 geführt wird, hat die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen.
Der Antragsgegner entschie...