Leitsatz (amtlich)
›Wer den in seinen Reisepaß eingestempelten Zurückweisungsvermerk einer deutschen Behörde heraustrennt, begeht keine Urkundenunterdrückung.‹
Tatbestand
Dem Angeklagten lag folgender Sachverhalt zur Last:
Der Angeklagte ist ungarischer Staatsangehöriger. Ihm wurde von den ungarischen Behörden ein Reisepaß ausgestellt. Nachdem er sich bis zum Jahr 1994 in Deutschland aufgehalten hatte, brachte das Amt für öffentliche Ordnung der Stadt Kassel am 19.4.1994 auf Seite 5 des Passes des Angeklagten einen Stempel mit ergänzenden Eintragungen an, wodurch auf die Ausreisepflicht des Angeklagten nach § 42 Abs. 1 AuslG mit Frist bis zum 22.4.1994 hingewiesen wurde. Bereits am 20.4.1994 wollte der Angeklagte über den Grenzübergang Neuhaus/Inn von Österreich kommend nach Deutschland einreisen. Er wurde jedoch gemäß § 60 AuslG zurückgewiesen; hierüber brachte die Grenzpolizei auf Seite 9 des Passes des Angeklagten einen entsprechenden Stempel an. In der folgenden Zeit, spätestens jedoch am 25.7.1994, trennte der Angeklagte aus seinem Paß das Blatt mit den Seiten 9 und 10 heraus und beseitigte es. Mit dem so veränderten Paß wollte er am 25.7.1994 gegen 23.00 Uhr über den vorgeschobenen, also in Österreich liegenden, Grenzübergang Neuhaus/Inn-Autobahn nach Deutschland einreisen. Bei der Grenzkontrolle zeigte er dem dortigen deutschen Grenzpolizeibeamten den veränderten Paß vor; durch die Heraustrennung des Zurückweisungsstempels hoffte er, sich Unannehmlichkeiten bei der beabsichtigten Einreise zu ersparen. Der Angeklagte wurde zurückgewiesen.
Das Amtsgericht sprach den Angeklagten am 12.3.1996 frei, weil es die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtete. Mit ihrer Revision rügte die Staatsanwaltschaft die Verletzung des sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist als Sprungrevision zulässig (§ 335 Abs. 1, §§ 312, 313 Abs. 1 Satz 2 StPO). Die Prüfung der Zulässigkeit der Sprungrevision umfaßt nicht die Frage, ob die Berufung hätte angenommen werden können (BGHSt 40, 395/397; BayObLGSt 1993, 147; OLG Zweibrücken NStZ 1994, 203; OLG Karlsruhe StV 1994, 292 und erneut NStZ 1995, 562; OLG Düsseldorf JMBlNW 1994, 273; Tolksdorf in Festschrift für Salger 1995 S. 393/402; Siegismund/Wickern wistra 1993, 86, 89; a.A. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 42. Aufl. § 335 Rn. 21 und Pfeiffer/Fischer StPO 1995 § 335 Rn. 5 je m.w.N.).
Die Revision hat in der Sache keinen Erfolg, denn das Amtsgericht hat aus zutreffenden Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet.
1. Eine Urkundenunterdrückung nach § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB liegt nicht vor.
Im Gegensatz zur Urkundenfälschung (§ 267 StGB) geht es dem Täter hier nicht um die Erlangung, sondern um die Beseitigung eines Beweismittels (Schönke/Schröder/Cramer StGB 25. Aufl. § 274 Rn. 2 m.w.N.).
Die Anwendung des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, daß die unterdrückte Urkunde dem Täter "überhaupt nicht oder nicht ausschließlich gehört". "Gehören" bezeichnet hier nicht die dinglichen Eigentumsverhältnisse, sondern das Recht, mit der Urkunde im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen (BGHSt 29, 192, 194; BayObLGSt 1968, 38, 42; 1979, 199, 202). In diesem Sinne gehören der Reisepaß und die in ihm enthaltenen Urkunden - wozu auch der deutsche Zurückweisungsstempelabdruck zählt - ausschließlich dem Inhaber, da sie allein dessen Gebrauchsbefugnis unterstehen (BayObLGSt 1989, 129, 130 f.; OLG Köln JMBlNW 1958, 114; Mätzke MDR 1996, 19, 20; LK/Tröndle StGB 10. Aufl. § 274 Rn. 5 und 7; Schönke/Schröder/Cramer § 274 Rn. 5; Dreher/Tröndle StGB 47. Aufl. § 274 Rn. 2; Lackner StGB 21. Aufl. § 274 Rn. 2; a.A. Schneider NStZ 1993, 16 ff.).
Daran ändert die dem Ausländer obliegende Vorlegungspflicht (§ 40 Abs. 1 AuslG) grundsätzlich nichts, da sie allein öffentlich-rechtlichen Überwachungsaufgaben dient (Mätzke aaO.; LK/Tröndle § 274 Rn. 6 und 7; Schönke/Schröder/Cramer § 274 Rn. 5; Dreher/Tröndle StGB § 274 Rn. 2; Lackner § 274 Rn. 2). Deswegen kommt es nicht darauf an, daß im vorliegenden Fall ein weitergehendes Beweisführungsinteresse der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der unerlaubten Einreise ohnedies nicht besteht. Die deutschen Grenzbehörden hatten nämlich deshalb keine Beweisschwierigkeiten, weil das Blatt mit Seite 5 im Paß des Angeklagten verblieben war. Darauf ist der Stempelabdruck mit ergänzenden Eintragungen zur Ausreisepflicht des Angeklagten enthalten (§ 42 Abs. 1 AuslG).
Soweit die Staatsanwaltschaft in ihrer Revision zur Strafbarkeit der Paßverfälschung rechtspolitische Erwägungen anstellt, sind diese sicher von Gewicht. Sie müssen sich aber an den Gesetzgeber richten.
2. Eine Straftat nach § 92 Abs. 1 Nr. 6 oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a) AuslG liegt nicht vor.
Strafbar ist hiernach, wer unerlaubt in das Bundesgebiet einreist. Eingereist ist der Angeklagte nicht. Er wurde am vorgeschobenen Grenzübergang Neuhaus/Inn-Autobahn, der in Österreich liegt, zurückgewiesen....