Leitsatz (amtlich)
›Der Tatbestand des § 111 StGB setzt nicht voraus, daß sich unter den Empfängern eines Flugblattes, mit dem zur Fahnenflucht aufgefordert wird, auch taugliche Täter (Soldaten) befinden.‹
Tatbestand
Am 18.11.1990 fand im Hofe des Schlosses Johannisburg in Aschaffenburg die jährliche Totenehrung des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer statt, an der auch Soldaten und Reservisten der Bundeswehr teilnahmen. Kurz vor der Veranstaltung verteilten die Angeklagten vor dem Eingang zum Schloß etwa 50 Exemplare eines "Offenen Briefes" der GRÜNEN mit der Überschrift: "Soldaten und Rekruten der Bundeswehr und der NVA".
Dieses Flugblatt enthielt eine längere kritische Auseinandersetzung mit dem Einsatz alliierter Truppen im Golfkrieg und eine in Fettdruck gehaltene Passage folgenden Inhalts.
"Wir rufen Euch ganz besonders deshalb dazu auf:
Verweigert Euch diesen Planungen! Verweigert den Kriegsdienst, verlaßt die Armee! Laßt Euch nicht zum Kanonenfutter für eine verfehlte und nicht dem Frieden und der Unabhängigkeit unseres Landes dienenden Politik machen - denn Ihr werdet es sein, die als erste für Großmachtambitionen und militärische Abenteuer den Kopf hinhalten müssen. Wenn Ihr den Befehl bekommt, in einen Krieg irgendwo auf der Welt zu gehen, dann SAGT NEIN und BEGEHT FAHNENFLUCHT!"
Das Amtsgericht hat die Angeklagten vom Vorwurf eines Vergehens der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten freigesprochen. Die hiergegen eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft verwarf das Landgericht. Es vertrat die Auffassung, eine Aufforderung im Sinne von § 111 StGB liege nur dann vor, wenn sie einen der "potentiellen Adressaten tatsächlich erreicht" habe. Dies sei die herrschende Meinung. Da im konkreten Fall kein Nachweis erbracht worden sei, daß das Flugblatt potentielle Adressaten, d.h. Bundeswehrsoldaten oder Reservisten, erreicht habe, sei der Freispruch durch das Amtsgericht die Angeklagten aus ihrer Sicht nicht zu einer rechtswidrigen Tat aufgefordert. Zwar stelle der Satz "Wenn Ihr den Befehl bekommt, in einen Krieg irgendwo auf der Welt zu gehen, dann SAGT NEIN und BEGEHT FAHNENFLUCHT!" für sich betrachtet eine Aufforderung zu einer Straftat dar und "verwirkliche damit den objektiven Tatbestand des § 111 StGB in Verbindung mit § 16 WStG". Es fehle aber an einem entsprechenden Vorsatz. Den Angeklagten sei nicht zu widerlegen, daß die Aufforderung nur für den Fall eines verfassungswidrigen Einsatzes im Golfkrieg gewollt gewesen sei. Im Hinblick auf die Kenntnis der Angeklagten von einem gewaltsamen Verbringen amerikanischer Wehrdienstverweigerer nach Saudi-Arabien sei aus der Sicht der Angeklagten die Fahnenflucht und nicht die bloße Befehlsverweigerung das "einzige erfolgversprechende und damit notwendige und verhältnismäßige Mittel" gewesen, einen befürchteten Verfassungsbruch zu verhindern.
Gegen diese Entscheidung wendete sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Verletzung des sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
1. Die Auffassung des Landgerichts, es fehle schon am Tatbestandsmerkmal der Aufforderung, weil ein Nachweis fehle, daß das Flugblatt einen "potentiellen Adressaten "erreicht habe, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
§ 111 StGB erweitert die Strafbarkeit über die §§ 26, 30 StGB hinaus, die die vollendete und die versuchte Anstiftung pönalisieren. Die Erweiterung der Strafbarkeit betrifft zum einen den Kreis der angesprochenen Personen, der nicht mehr individuell bestimmbar sein muß, zum andern den Grad der Konkretisierung der vorgesehenen Tat (BayObLGSt 1992, 15/19 mit zahlreichen Nachweisen). Schließlich erfaßt die Vorschrift auch die erfolglose Aufforderung zu Vergehen, während nach § 30 StGB nur die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen strafbar ist.
Der Grund für diese Ausdehnung der Strafbarkeit liegt in den besonderen Gefahren, die sich daraus ergeben, daß die Aufforderung zu rechtswidrigen Taten öffentlich oder doch quasi-öffentlich erfolgt. Eine derart qualifizierte Aufforderung kann nämlich geeignet sein, eine unbestimmte Vielzahl von Personen zu unkontrollierbaren kriminellen Aktionen zu veranlassen; außerdem sind ihre Auswirkungen weder überschaubar noch steuerbar und einer weiteren Einflußnahme des Auffordernden in aller Regel entzogen (LK/v. Bubnoff StGB 10. Aufl. § 111 Rn. 5 m.w.Nachw.). Der Täter hat "eine Fackel geworfen und weiß selbst nicht, ob sie zündet, verhindern kann er das nicht mehr" (Dreher Festschrift für Gallas 1973 S. 307/313). Die gegenüber der Anstiftung geringeren Anforderungen an die Konkretisierung der Tat und den angesprochenen Personenkreis finden ihren Ausgleich in dieser gesteigerten Gefährlichkeit (KK/v. Bubnoff aaO.). Rechtsgut ist daher neben dem Schutz der Rechtsgüter, zu deren Verletzung aufgefordert wird, die Gefährdung des Gemeinschaftsfriedens, die durch die öffentliche Aufforderung bewirkt wird (Rudolphi RdA 1987, 160/162; Franke GA 1984, 452/465; Rogall GA 1979, 11/16 f...