Zukünftige Änderung der BAG-Rechtsprechung
Am 14.12.2023 hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts die Absicht mitgeteilt, seine bisherige Rechtsprechung zur Auswirkung unterlassener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen aufgeben zu wollen. Danach könnten Kündigungen zukünftig trotz unterbliebener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige wirksam sein. Die betreffenden Verfahren wurden zunächst ausgesetzt und der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts wurde angefragt, ob dieser an der bisherigen Rechtsauffassung weiterhin festhält.
Der Arbeitgeber ist gemäß § 17 Abs. 1 KSchG verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
- in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
- in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 % der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
- in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt.
Nach früherem Rechtsverständnis war unter Entlassung nicht der Ausspruch der Kündigung, sondern die Freisetzung des Arbeitnehmers nach Ablauf der Kündigungsfrist zu verstehen. Daher war früher die Anzeigepflicht nicht von der Zahl der ausgesprochenen Kündigungen abhängig, sondern von der Zahl der Arbeitnehmer, die infolge von – durchaus zu unterschiedlichen Zeiten – ausgesprochenen Kündigungen innerhalb des 30-Tage-Zeitraums arbeitslos wurden.
Dem hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) widersprochen und entschieden, dass der Begriff der Entlassung im Sinne der dem deutschen Recht zugrunde liegenden Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG dahin zu verstehen ist, dass die Kündigungserklärung das Ereignis ist, das als Entlassung gilt. Dem hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) angeschlossen und legt § 18 Abs. 1 KSchG entsprechend aus. Änderungskündigungen sind "Entlassungen" i. S. v. § 17 KSchG. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer das ihm mit der Kündigung unterbreitete Änderungsangebot ablehnt oder – und sei es ohne Vorbehalt – annimmt.
Entlassungen, die ordnungsgemäß angezeigt worden sind, werden vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren Zustimmung wirksam; die Zustimmung kann auch rückwirkend bis zum Tag der Antragstellung erteilt werden. Die Agentur für Arbeit kann im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens 2 Monaten nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam werden. In der Praxis stellt dies nur ein Problem dar, wenn die Kündigungsfrist kürzer als einen Monat ist. Der EuGH hat dazu klargestellt, dass die Kündigungen sofort nach der Massenentlassungsanzeige ausgesprochen werden dürfen. Dies hat das BAG bestätigt. Lediglich zwischen der Anzeige und dem Ablauf der Kündigungsfrist muss die Frist von einem Monat eingehalten sein. Damit bewirkt die Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 KSchG im Ergebnis nur noch eine Mindestkündigungsfrist von einem Monat. Sie wird der Kündigungsfrist nicht hinzuaddiert. Nach der sog. Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG müssen die Entlassungen dann innerhalb von 90 Tagen ausgesprochen werden.
Die Massenentlassungsanzeige ist bei der für den Betriebssitz örtlich zuständigen Agentur für Arbeit zu erstatten. Geht die Anzeige dort vor Zugang der Kündigung nicht ein oder ist die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft, so sind die auf sie bezogenen Kündigungen unwirksam. Das Gleiche gilt, sofern die Anzeige in Folge der Verkennung des Betriebsbegriffs objektiv unrichtige "Muss-Angaben" enthält. Die Anzeige muss nach § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG betriebsbezogene Angaben, u. a. über den Sitz und die Art des Betriebes sowie über die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, enthalten. "Betrieb" in diesem Sinne ist die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehören. An die erforderliche Leitungsstruktur sind keine hohen organisatorischen Anforderungen zu stellen. Ausreichend ist es, wenn die Leitung die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellt.
Die Massenentlassungsanzeige kann erst dann wirksam erstattet werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist. Maßgeblich für die Wirksamkeit der Kündigung ist, dass die ordnungsgemäße Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist. Unschädlich ist, wenn der Arbeitgeber die Kündigungsschreiben zuvor schon ausgefertigt hat.
Beabsichtigt der Arbeitgeber Massenentlassungen, hat er den Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG schriftlich u. a. über die Gründe für die geplanten Entlassung...