Leitsatz (amtlich)
1. Nach Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen einen Vorbescheid des FG vor dessen Urteilswirkung kann innerhalb der Frist des § 90 Abs.3 Satz 2 FGO noch Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt werden, wenn die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen wird.
2. Bei Zurücknahme einer Nichtzulassungsbeschwerde kann eine Einstellung des Beschwerdeverfahrens durch Beschluß zweckmäßig sein, wenn Unklarheit über die Zurücknahme besteht.
Orientierungssatz
1. Das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde einerseits und das weitere Verfahren vor dem FG aufgrund eines Antrags auf mündliche Verhandlung gegen einen Vorbescheid des FG andererseits sind so verschiedenartig, daß nicht durch Antragsumdeutung oder Antragsänderung von einer dieser Verfahrensarten in die andere übergewechselt werden kann.
2. Der Antrag auf mündliche Verhandlung nach Ergehen eines Vorbescheids ist ein Rechtsbehelf (vgl. BFH-Rechtsprechung).
3. An einen Verzicht auf einen Rechtsbehelf, der unwiderruflich ist und allenfalls sehr erschwert angefochten werden kann, sind strenge Anforderungen zu stellen, da er zu einer Einschränkung des Rechtsschutzes führt. Eine Verzichtserklärung muß deshalb den eindeutigen und klaren Willen zum Ausdruck bringen, ernsthaft und endgültig von dem Rechtsbehelf keinen Gebrauch zu machen. Dabei muß dem Verzichtenden die Bedeutung seiner Verzichtserklärung klar sein (vgl. BFH-Rechtsprechung, BVerfG-Rechtsprechung und BVerwG-Rechtsprechung).
Normenkette
FGO § 90 Abs. 3 S. 2, § 115 Abs. 3
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hatte Klage wegen gegen sie ergangener Gewerbesteuermeßbescheide 1977 und 1978 erhoben. Das Finanzgericht (FG) erließ einen die Klage abweisenden Vorbescheid und ließ darin die Revision nicht zu. Der Vorbescheid wurde an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 30.April 1987 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 26.Mai 1987, eingegangen beim FG am selben Tage, legte die Klägerin durch ihren Prozeßbevollmächtigten Beschwerde gegen den Vorbescheid ein, mit der sie die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung begehrte. Mit Schreiben vom 27.Mai 1987, eingegangen beim FG am selben Tage, führte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin dann aus:
"... berichtige ich mein Schreiben vom 26.05.1987 wie folgt: ich stelle - noch innerhalb der 1-Monats-Frist - Antrag auf mündliche Verhandlung. Gleichzeitig rege ich an, im späteren Urteil die Revision an den Bundesfinanzhof zuzulassen."
Im übrigen enthielt das Schreiben vom 27.Mai 1987 eine wörtliche Wiederholung der rechtlichen Erwägungen, mit denen am Vortag die Nichtzulassungsbeschwerde begründet worden war.
Das FG ging davon aus, daß zunächst über die Nichtzulassungsbeschwerde zu entscheiden sei und daß von dieser Entscheidung abhänge, wie weiter mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung zu verfahren sei. Es half der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ab.
Die Klägerin vertritt in Übereinstimmung mit dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) die Auffassung, daß die Nichtzulassungsbeschwerde durch das Berichtigungsschreiben vom 27.Mai 1987 konkludent zurückgenommen worden sei und daher vom FG die mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsse.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde ist einzustellen, weil die Nichtzulassungsbeschwerde wirksam zurückgenommen worden ist.
1. Mit der ausdrücklichen Bezeichnung des Schreibens vom 27.Mai 1987 als Berichtigung des Schreibens vom Vortag hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß er die Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr aufrechterhalten wollte, sondern statt dessen die mündliche Verhandlung vor dem FG begehrte. Dies ergibt sich auch aus der in dem Schreiben vom 27.Mai 1987 enthaltenen "Anregung" an das FG, im späteren Urteil die Revision an den Bundesfinanzhof (BFH) zuzulassen. Dies kann nur so verstanden werden, daß die Klägerin nunmehr nicht mehr den Vorbescheid zum Urteil werden lassen wollte, um dieses mit der eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde anzugreifen, sondern daß sie ein Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung erlangen wollte, in dem im Falle der Klageabweisung dann zunächst auch über die Zulassung der Revision entschieden werden sollte.
2. Dieses Ziel konnte die Klägerin nicht anders als durch Zurücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde erreichen. Das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde einerseits und das weitere Verfahren vor dem FG aufgrund eines Antrags auf mündliche Verhandlung gegen einen Vorbescheid andererseits sind so verschiedenartig, daß nicht durch Antragsumdeutung oder Antragsänderung von einer dieser Verfahrensarten in die andere übergewechselt werden kann. Es gab bei der Nichtzulassungsbeschwerde auch keine offenbaren Unrichtigkeiten oder Unklarheiten, die es erlauben würden, die Nichtzulassungsbeschwerde im Wege der Berichtigung in einen Antrag auf mündliche Verhandlung umzudeuten. Vielmehr war eindeutig eine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt worden. Die von der Klägerin gewollte Ersetzung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den Antrag auf mündliche Verhandlung konnte also nur in der Weise geschehen, daß das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde durch Rücknahme beendet und statt dessen das mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung verbundene Verfahren eingeleitet wurde. Im übrigen wäre die Nichtzulassungsbeschwerde im Falle ihrer Aufrechterhaltung durch einen wirksamen Antrag auf mündliche Verhandlung unzulässig geworden, weil der Vorbescheid, gegen den die Nichtzulassungsbeschwerde sich richtete, keine Urteilswirkung mehr erlangen konnte, sondern gegenstandslos geworden war.
Der von der Klägerin gewollte Übergang von der Nichtzulassungsbeschwerde zum Antrag auf mündliche Verhandlung kann somit nur als Zurücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde gedeutet werden. Die Klägerin hat ihren Willen zur Zurücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde folglich hinreichend klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Auf den Gebrauch des Wortes "Zurücknahme" kommt es nicht an (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 72 FGO Tz.4 zur Klagerücknahme und § 125 FGO Tz.4 zur Revisionsrücknahme, m.w.N.).
3. Die Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde war zulässig. Zwar fehlt eine gesetzliche Vorschrift darüber. Die Zulässigkeit wird aber allgemein bejaht (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 115 FGO Tz.96; Offerhaus, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A --DStZ/A-- 1967, 67).
4. Die Klägerin konnte auch mit der Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde den Antrag auf mündliche Verhandlung gegen den Vorbescheid verbinden.
a) Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist rechtzeitig gestellt worden. Da der Vorbescheid des FG der Klägerin am 30.April 1987 zugestellt worden ist, liegt der am 27.Mai 1987 beim FG eingegangene Antrag innerhalb der Frist des § 90 Abs.3 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
b) Die vorherige Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde hinderte nicht den Antrag auf mündliche Verhandlung. Die Nichtzulassungsbeschwerde war allerdings nicht von vornherein rechtsunwirksam, weil sie vor der möglichen Urteilswirkung des Vorbescheides nach § 90 Abs.3 Satz 3 FGO eingelegt worden war. Nach der Rechtsprechung des BFH hat die durch einen Vorbescheid benachteiligte Partei im Zeitraum zwischen Zustellung des Vorbescheids und Urteilswirkung vielmehr die Wahl, ob sie je nach Statthaftigkeit Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde einlegt oder ob sie einen Antrag auf mündliche Verhandlung stellt. Legt sie die Revision oder die Nichtzulassungsbeschwerde ein, verzichtet sie damit auf ihren Anspruch auf mündliche Verhandlung (BFH-Urteil vom 28.September 1967 IV R 284/66, BFHE 90, 72, BStBl II 1967, 761; BFH-Beschluß vom 17.Januar 1969 III B 2/68, BFHE 95, 147, BStBl II 1969, 342).
Die Klägerin hat somit zwar zunächst auf die Möglichkeit, mündliche Verhandlung zu beantragen, verzichtet. Dieser Verzicht kann aber nicht als förmlicher Verzicht angesehen werden, der endgültig zum Verlust des Antragsrechts auf mündliche Verhandlung führt. Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist nämlich ein Rechtsbehelf (BFH-Beschlüsse vom 24.Oktober 1975 III R 102, 118/73, BFHE 117, 207, BStBl II 1976, 115; vom 29.April 1977 VI K 1/76, BFHE 122, 26, BStBl II 1977, 502). An einen Verzicht auf einen Rechtsbehelf, der unwiderruflich ist und allenfalls sehr erschwert angefochten werden kann (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 50 FGO Tz.12, m.w.N.), sind strenge Anforderungen zu stellen, da er zu einer Einschränkung des Rechtsschutzes führt. Die Anforderungen sind auch strenger als bei einer Rücknahme eines Rechtsbehelfs, da der Verzicht zu einem völligen Verlust des Rechtsbehelfs führt, während die Rücknahme in der Regel nur den Verlust des eingelegten Rechtsbehelfs zur Folge hat und nicht eine erneute Rechtsbehelfseinlegung innerhalb der Frist hindert (vgl. § 362 Abs.2 der Abgabenordnung --AO 1977-- und § 125 Abs.2 FGO). Eine Verzichtserklärung muß deshalb den eindeutigen und klaren Willen zum Ausdruck bringen, ernsthaft und endgültig von dem Rechtsbehelf keinen Gebrauch zu machen (vgl. u.a. BFH-Zwischenurteil vom 15.Juni 1983 II R 30/81, BFHE 138, 517, BStBl II 1983, 680). Dabei muß dem Verzichtenden die Bedeutung seiner Verzichtserklärung klar sein (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 17.März 1959 1 BvL 5/57, BVerfGE 9, 194; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 30.Juni 1964 IV C 105.63, Deutsches Verwaltungsblatt --DVBl-- 1964, 874). Deshalb hat es das BVerfG zwar für möglich gehalten, der Einlegung eines wahlweise zu erhebenden Rechtsmittels die Wirkung des Verzichts auf ein anderes Rechtsmittel beizulegen. Erforderlich ist dann aber, daß sich der Betroffene über diese Wirkung klar ist. Auf diese Wirkung muß dann in der Rechtsmittelbelehrung hingewiesen werden (BVerfGE 9, 194).
Diesen Anforderungen wird der in der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde liegende Verzicht auf den Anspruch auf mündliche Verhandlung nicht gerecht. Er ist deshalb nur so zu verstehen, daß die beiden Möglichkeiten der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde und des Antrags auf mündliche Verhandlung nicht nebeneinander gewählt werden können, sondern sich gegenseitig ausschließen. Die durch einen Vorbescheid unterliegende Partei muß sich also für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden. Legt sie Nichtzulassungsbeschwerde ein, verzichtet sie insofern auf den Anspruch auf mündliche Verhandlung, als sie den Antrag auf mündliche Verhandlung neben der Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr stellen kann. Sie kann den Verzicht jedoch rückgängig machen, wenn sie die Nichtzulassungsbeschwerde zurücknimmt. So ist es hier geschehen. Das FG muß daher die mündliche Verhandlung durchführen. Über die Nichtzulassungsbeschwerde ist wegen ihrer Rücknahme nicht mehr zu entscheiden.
5. Da Unklarheit über die Zurücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde bestand, ist es zweckmäßig, das Verfahren durch förmlichen Beschluß einzustellen. Ein förmlicher Einstellungsbeschluß ist bei Zurücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde zwar nicht erforderlich (Offerhaus, DStZ/A 1967, 67), kann aber ergehen. Die Rechtslage ist vergleichbar mit der Rechtslage bei der Zurücknahme der Revision. Hier hält die Rechtsprechung des BFH einen Einstellungsbeschluß ebenfalls nicht für erforderlich, aber für möglich (Beschlüsse vom 20.September 1966 VI R 107/66, BFHE 86, 811, BStBl III 1966, 680; vom 14.Juli 1976 VIII R 52/76, BFHE 119, 233, BStBl II 1976, 630).
Fundstellen
Haufe-Index 61772 |
BStBl II 1988, 281 |
BFHE 151, 12 |
BFHE 1988, 12 |
WPg 1988, 299-299 |