Leitsatz (amtlich)
Versäumt das FA die Frist für die Begründung der Revision, dann kann ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden, wenn durch organisatorische Maßnahmen nicht eindeutig sichergestellt wurde, wer für die Kontrolle über die Einhaltung der Frist verantwortlich ist (Organisationsmangel).
Normenkette
FGO §§ 56, 120
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hatte der Klage der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), mit der sie Herabsetzung der Einkommensteuer 1975 begehrte, stattgegeben und die Revision zugelassen.
Das Urteil des FG wurde dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --) am 21. März 1979 zugestellt. Das FA legte am 19. April 1979 Revision ein. Die Revisionsbegründung ging dem Bundesfinanzhof (BFH) am 11. Juni 1979 zu. Ein Fristverlängerungsantrag ist nicht gestellt worden. Mit der Revisionsbegründung stellte das FA den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, den es wie folgt begründet:
Die Prozeßakten würden zentral von einer Geschäftsstelle des Amtes geführt. Nach der Amtsverfügung vom 19. Dezember 1977, die allen Bediensteten des FA zugänglich gemacht worden sei, seien Fristen nach Anweisung des Hauptsachgebietsleiters FGO in einem von der Geschäftsstelle geführten besonderen Fristenkalender einzutragen. Zusätzlich sei ein sogenannter Mahntermin (zwei Wochen vor Fristablauf) zu notieren. Die Eintragungen erfolgten durch eine erfahrene Kanzleikraft. Die Überwachung der Revisionsund Revisionsbegründungsfristen sei zusätzlich Aufgabe des zuständigen Sachgebietsleiters. Bei Rechtsmitteln sehe die Amtsverfügung vor, daß der Hauptsachgebietsleiter FGO den Fristablauf in der Prozeßakte vermerke, die Geschäftsstelle das Datum im Fristenkalender eintrage und den Hauptsachgebietsleiter FGO zwei Wochen vor Fristablauf daran erinnere. Nach der Amtsverfügung würden vom Vorsteher schlußgezeichnete Schriftsatzentwürfe vom zuständigen Sachgebietsleiter mittels Verfügung über den zuständigen Sachbearbeiter an die Kanzlei gegeben, in Reinschrift gefertigt, zur Unterschrift vorgelegt und vom Veranlagungsbezirk über die Poststelle abgesandt. Die Einhaltung der Fristen werde überwacht durch Kontrollanrufe der Geschäftsstelle oder des die Frist zusätzlich überwachenden Sachgebietsleiters beim Veranlagungsbezirk zum Mahntermin oder zwei Tage vor dem Fristendtermin.
Im Streitfall sei die Verfügung über die Revisionsbegründung am 27. April 1979 vom Vertreter des Vorstehers abgezeichnet worden. Der sonst zuverlässige Bürobote habe die Akte bei dem normalerweise zuständigen Sachgebietsleiter abgelegt. Er habe dabei nicht beachtet, daß dieser am 30. April 1979 seinen Urlaub angetreten hatte. Durch eine dem Boten am 23. April 1979 ausgehändigte Amtsverfügung sei ihm aber die Urlaubsvertretung des Sachgebietsleiters bekannt gewesen.
Die Fristenkontrolle habe aus folgendem Grund keinen Erfolg gehabt: Am 2. Mai 1979 habe der Vertreter des Vorstehers verfügt, daß die Revisionsbegründung nicht an das FG, sondern an den BFH zu richten sei. Die Verfügung sei dem zuständigen Sachbearbeiter zugeleitet worden, der am gleichen Tage in der Prozeßakte vermerkt habe, daß "die Stellungnahme" bereits an das FG Berlin abgesandt worden sei. Am 11. Mai 1979 habe der Hauptsachgebietsleiter FGO den zurückgekehrten Vorsteher gefragt, ob er von der Revision Kenntnis erlangt habe. Als der Vorsteher dies verneint habe, sei der zuständige Sachbearbeiter herbeigerufen worden, der wieder die (irrtümliche) Absendung bestätigt habe. Damit sei die Angelegenheit als erledigt angesehen und die Fristenkontrolle eingestellt worden. Die Säumnis sei am 28. Mai 1979 vom zurückkehrenden zuständigen Sachgebietsleiter entdeckt worden.
Mit Schriftsatz vom 3. Oktober 1979 trägt das FA weiter vor, die Absendung eines Schriftsatzes auf dem gewöhnlichen Postweg werde nur durch einen entsprechenden Absendevermerk in den Akten dokumentiert. Sei dieser, wie im Streitfall, unzutreffend, sei diese Unrichtigkeit durch keine zumutbare Kontrolle aufdeckbar.
Im übrigen rügt das FA Verletzung der §§ 7 und 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen und hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig, weil sie nicht rechtzeitig begründet wurde (§ 120 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Die Frist für die Begründung der Revision lief am 23. Mai 1979 ab. Die Revisionsbegründung ist aber erst am 11. Juni 1979 beim BFH eingegangen.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO kann dem FA nicht gewährt werden. Grundsätzlich ist die Wiedereinsetzung dem FA nach den gleichen Grundsätzen zu gewähren wie dem Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Urteil vom 28. März 1969 III R 2/67, BFHE 96, 85, BStBl II 1969, 548).
1. Wie ein Prozeßbevollmächtigter so ist auch der Vorsteher des FA verpflichtet, ein Fristenkontrollbuch zu führen, in dem u. a. die Frist für die Revisionsbegründung zu vermerken ist. Eine Fristnotierung darf frühestens dann gelöscht werden, wenn die Rechtsmittelschrift unterzeichnet und postfertig gemacht worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 9. Mai 1961 I 237/60 S, BFHE 73, 491, BStBl III 1961, 445). Die Erledigung des fristwahrenden Schriftsatzes muß bis zu seiner Absendung (Ausgangskontrolle) überwacht werden (vgl. Beschluß des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 31. Mai 1976 VII ZB 8/76, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1977, 98; ferner Ziemer/Haarmann/ Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 1923). Die Fertigung der Schriftsätze sowie deren Absendung und die Überwachung dieser Vorgänge sind zweierlei. Daraus ergibt sich, daß Schriftsätze nicht nur rechtzeitig abgesandt werden müssen, sondern die Absendung auch in einem besonderen Vorgang kontrolliert werden muß. Die mit der Versendung der Post beauftragte Poststelle (Boten) kann diese Kontrolle regelmäßig nicht selbst -- z. B. durch Vermerk in einem Postausgangsbuch -- vornehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ein zur Versendung bestimmtes Schriftstück sie gar nicht erreicht hat. Die Kontrolle muß daher durch jemand erfolgen, der den gesamten Vorgang überwacht, z. B. durch denjenigen, der den Fristenkalender führt, oder zumindest durch jemand, der den Vorgang zuletzt bearbeitet hat oder an der Bearbeitung beteiligt war.
Geht man von diesen Grundsätzen aus, hat der Vorsteher des FA die Frist für die Revisionsbegründung schuldhaft versäumt. Nach der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags war durch organisatorische Maßnahmen nicht sichergestellt, daß die Überwachung der Einhaltung der Revisionsbegründungsfrist unter normalen Umständen gewährleistet war. Im FA wurde zwar ein Fristenkalender geführt. Es ist aber nicht erkennbar, ob und unter welchen Voraussetzungen die Einhaltung der Fristen in diesem Fristenkalender vermerkt oder die Frist gelöscht wurde. Das FA trägt vielmehr in seinem Schriftsatz vom 3. Oktober 1979 vor, daß die Absendung eines Schriftsatzes auf dem gewöhnlichen Postwege nur durch einen entsprechenden Absendevermerk "in den Akten" notiert wurde. Das ist aber nicht ausreichend. Aus der Darstellung des FA ergibt sich, daß mit dem Aktenvermerk nicht die Aufgabe zur Post, sondern die Absendung zur Poststelle innerhalb des FA vom Veranlagungsbezirk vermerkt wurde. Wenn man einen Vermerk in den Akten durch den Bearbeiter der Sache selbst als Nachweis der Ausgangskontrolle gelten läßt, dann jedenfalls nur, wenn damit die Aufgabe zur Post durch die Poststelle vermerkt wird. Im übrigen muß, wenn eine Ausgangskontrolle der Fristsache wie bei Rechtsanwälten üblich (d. h. durch Ausgangsvermerk im Fristenkontrollbuch) nicht vorgesehen ist, zumindest die mit der Absendung beauftragte Poststelle auf die Frist und die Wichtigkeit des Schriftstücks hingewiesen werden (BFH-Beschluß vom 1. Oktober 1981 IV R 100/80, BFHE 134, 220, BStBl II 1982, 131). Auch dafür ist nichts vorgetragen worden.
2. Aus der darstellung des FA ergibt sich ferner nicht eindeutig, wer letztlich verantwortlich vom Vorsteher beauftragt war, die Einhaltung der Revisionsbegründungsfrist zu überwachen. Diese Unklarheit geht zu Lasten des FA (vgl. BGH-Beschluß vom 4. Oktober 1982 II ZB 9/82, Versicherungsrecht 1982, 1167).
Das FA legt zwar dar, daß die zusätzliche Überwachung Sache des zuständigen Sachgebietsleiters gewesen sei, nicht jedoch, wer neben dem zuständigen Sachgebietsleiter zunächst mit der Überwachung betraut war. Sollte dies der Hauptsachgebietsleiter FGO oder die Kanzleikraft gewesen sein, die den Fristenkalender führte, dann hätte der Urlaub des zuständigen Sachgebietsleiters und damit die falsche Aktenablage und auch der Irrtum des Sachbearbeiters für die Fristversäumnis nicht ausschlaggebend sein können. Der Hauptsachgebietsleiter FGO selbst oder die Kanzleikraft hätten nämlich den Ausgang feststellen müssen. Sollte der für den Veranlagungsbezirk zuständige Sachgebietsleiter für die Überwachung verantwortlich gewesen sein, dann hätte die Überwachung der Frist auf seine Vertreter übertragen werden müssen. Letzteres geht jedoch aus der Verfügung über die Urlaubsvertretung nicht hervor. Es ist auch nicht dargelegt, wie er dies hätte durchführen können.
Da ein Organisationsmangel im Streitfall die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits ausschließt, kann unentschieden bleiben, ob der Vorsteher und der Hauptsachgebietsleiter FGO fahrlässig die Fristversäumnis verursacht haben, indem sie die Fristenkontrolle lediglich aufgrund der Aussage des Sachbearbeiters einstellten und schließlich, ob dieser Sachbearbeiter schuldhaft gehandelt hat.
Fundstellen
BStBl II 1983, 229 |
BFHE 1982, 221 |
NVwZ 1983, 703 |