Leitsatz (amtlich)

Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die Befreiung des Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern für den ersten Erwerb eines Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen (oder einer Eigentumswohnung) voraussetzt, daß sich das Erwerbsgeschäft auf das Wohngebäude (die Eigentumswohnung) in bezugsfertigem Zustand bezieht.

 

Normenkette

GrESWG Bayern Art. 1 Nr. 4

 

Tatbestand

Die Kläger, Antragsteller dieses Verfahrens, sind Eheleute. Sie haben nach den tatsächlichen Feststellungen des mit der Revision angefochtenen Urteils am 20. Mai 1974 für 150 000 DM je zur Hälfte ein Grundstück samt einem noch nicht vollständig fertiggestellten Reiheneinfamilienhaus mit Garage gekauft, das Wohnhaus selbst bezugsfertig gemacht und im Juli 1974 bezogen. Das Landratsamt hat die Wohnräume als steuerbegünstigt anerkannt; die Grundsteuervergünstigung ist ab 1. Januar 1975 gewährt worden.

Das Finanzamt (Beklagter und Antragsgegner) hat gegen jeden der Kläger 5 250 DM Grunderwerbsteuer festgesetzt. Das Finanzgericht hat deren Klage abgewiesen. Die Befreiung aus Art. 1 Nr. 1 Buchst. b Art. 2 Abs. 3 des bayerischen Gesetzes über die Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau (GrESWG Bayern) hat es deshalb verneint, weil der Veräußerer für das Bauvorhaben mehr als die Hälfte der für die Vollendung des Bauvorhabens erforderlichen Baukosten aufgewendet hatte, die aus Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern, weil das Einfamilienhaus nicht bezugsfertig erworben worden sei. Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung des § 76 FGO und des Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern.

Die Kläger beantragen, die Vollziehung der angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheide auszusetzen, "zumal" die Vollziehung eine unbillige Härte bedeute.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag ist begründet. Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide ist ernstlich zweifelhaft (§ 69 FGO).

Daß Art. 1 Nr. 1 Buchst. b GrESWG Bayern nicht anwendbar ist, wird von der Revision anerkannt; sie wendet sich nur gegen die Nichtanwendung des Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern. Gemäß dessen Satz 1 ist auf Antrag von der Besteuerung ausgenommen (u. a. ) "der erste Erwerb eines Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen ..., sofern die Wohnungen ... nach § 92 Abs. 2 II. WoBauG grundsteuerbegünstigt sind". Die Voraussetzung eines solchen Wohngebäudes ist erfüllt, ebenso die der Grundsteuerbegünstigung (vgl. Urteil vom 8. August 1973 II R 92/66, BFHE 110, 373 [376], BStBl II 1974, 38). Wie das Finanzgericht nicht verkannt hat, ist die Befreiungsvorschrift des Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern gemäß ihrem Satz 5 (= Unterabsatz 3) "auch anzuwenden, wenn das Gebäude, das den Gegenstand des Erwerbsvorgangs bildet, sich im Zeitpunkt des Erwerbsgeschäfts noch im Zustand der Bebauung befindet". Es hat aber gemeint, es müsse sich gleichwohl "um den Erwerb eines bezugsfertigen, vom Veräußerer zu erstellenden Wohngebäudes" handeln.

Diese Auffassung ist insoweit problematisch, als sie neben dem Vorliegen eines "Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen" fordert, daß sich der Vertrag auf deren bezugsfertige Übergabe richten müsse. Bei dieser Auslegung wäre Art. 1 Nr. 4 Satz 5 GrESWG Bayern nur Ausdruck der allgemeinen Regel, daß sich die grunderwerbsteuerrechtliche Befreiung ebenso wie bei der Bemessung der Gegenleistung (Urteil vom 4. September 1974 II R 119/73, BFHE 113, 480, BStBl II 1975, 91) und bei der Entscheidung über das Eingreifen (Urteile vom 28. November 1967 II 102/63, BFHE 90, 534, BStBl II 1968, 186; vom 6. Oktober 1976 II R 65/71, BFHE 120, 292, BStBl II 1977, 88; vgl. Urteil vom 16. Juni 1976 II R 117/72, BFHE 119, 306, BStBl II 1976, 645) und die Auflösung (Urteile vom 26. Juli 1961 II 151/59, BFHE 73, 571, BStBl III 1961, 473; vom 28. April 1970 II 109/65, BFHE 99, 250 [254], BStBl II 1970, 600) einer Steuerbefreiung nach dem Zustand richtet, in dem das Grundstück zum Gegenstand des Erwerbsvorgangs gemacht worden ist. Diese Regel trifft aber die Fälle, in denen "das Gebäude, das den Gegenstand des Erwerbsvorgangs bildet, sich im Zeitpunkt des Erwerbsgeschäfts noch im Zustand der Bebauung befindet", nur in gleicher Weise wie solche - in Art. 1 Nr. 4 Satz 5 GrESWG Bayern nicht erwähnten - Fälle, in denen das Grundstück im Zeitpunkt des der Steuer unterliegenden Erwerbs noch schlechthin unbebaut ist, sich der Kauf aber gleichwohl auf ein Grundstück mit einem "Wohngebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen" richtet.

Es liegt also nahe, Art. 1 Nr. 4 Satz 5 GrESWG Bayern nicht in diesem Sinne zu verstehen, sondern als eine Abgrenzungsvorschrift, die speziell das Verhältnis des Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern zu der Befreiungsvorschrift des Art. 1 Nr. 1 Buchst. b GrESWG Bayern für den "Erwerb eines Grundstücks mit einem begonnenen Bauvorhaben" regelt. Denn anders als die Befreiungsvorschriften anderer Länder für den Erwerb von Grundstücken im Zustand der Bebauung ist diese Befreiung nach dem Baufortschritt begrenzt; sie setzt voraus, daß "vom Veräußerer für das Bauvorhaben nicht mehr als die Hälfte der für die Vollendung des Bauvorhabens erforderlichen Baukosten aufgewendet worden ist". Bei anderen Grundstücken als solchen mit Ein- oder Zweifamilienhäusern oder dem Wohnungseigentum mit einer Eigentumswohnung ist von diesem Zeitpunkt an ein Erwerb nicht mehr befreit. Art. 1 Nr. 4 Satz 5 GrESWG Bayern kann aber - je nach dem Ergebnis der zur Hauptsache (II R 53/77) noch anzustellenden Prüfung - gegebenenfalls die Aussage entnommen werden, daß bei dem "ersten Erwerb eines Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen oder einer Eigentumswohnung" Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern eingreift, sofern dessen sonstige Voraussetzungen erfüllt sind und die Vergünstigung des Art. 1 Nr. 1 Buchst. b GrESWG Bayern wegen dessen Halbsatzes 2 nicht mehr eingreifen kann.

Eine solche Auslegung ist sinnvoll, weil der Erwerb eines (zunächst) unbebauten Grundstücks zur Errichtung eines Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen und eines solchen oder eines anderen Gebäudes mit Eigentumswohnungen nach Maßgabe des Art. 1 Nr. 1 Buchst. a GrESWG Bayern befreit ist und auch als "Grundstück mit einem begonnenen Bauvorhaben" bis zu dem eben erwähnten Zeitpunkt befreit bleibt (Art. 1 Nr. 1 Buchst. b GrESWG Bayern), andererseits aber der Erwerb eines solchen Gebäudes oder der Eigentumswohnung gemäß Art. 1 Nr. 4 GrESWG jedenfalls dann befreit ist, wenn das "Wohngebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen" oder die Eigentumswohnung bezugsfertig ist oder nach dem Kauf auf Grund kaufvertraglichen Anspruchs bezugsfertig zu übergeben ist. Bei anderer Auslegung des Art. 1 Nr. 4 Satz 5 GrESWG Bayern würde also im bayerischen Recht zwischen den Befreiungen für den Erwerb unbebauter und im Bau befindlicher Grundstücke (Art. 1 Nr. 1 Buchst. a und b GrEWSG) und der inhaltlich engeren Befreiung des "ersten Erwerbs eines Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen" (Art. 1 Nr. 4 GrESWG) eine Lücke klaffen, die in den Ländern nicht besteht, welche - ebenso wie Bayern (Art. 2 Abs. 3 GrESWG) - für den Erwerb von Grundstücken mit im Bau befindlichen steuerbegünstigten Gebäuden volle Befreiung gewähren, diese aber - anders als Bayern (Art. 1 Nr. 1 Buchst. b Halbsatz 2 GrESWG) - nicht auf einen schon vor der Bezugsfertigkeit des Gebäudes abgeschlossenen Zeitraum beschränken. Es ist ernstlich möglich, daß Art. 1 Nr. 4 Satz 5 GrESWG Bayern entweder dazu bestimmt ist, diese Lücke zu schließen, oder klarstellend hervorzuheben, daß im Sinne des Satzes 1 die Begriffe eines "Wohngebäudes mit nicht mehr als zwei Wohnungen" und einer "Eigentumswohnung" Bezugsfertigkeit nicht voraussetzen, oder daß dieses Ergebnis ohnehin aus dem Zusammenhang des Art. 1 Nr. 4 GrESWG Bayern zu dessen Nr. 1 in Buchst. b und a folgt.

Demnach bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des gegen den Kläger ergangenen Steuerbescheids des Finanzamts ... und des gegen die Klägerin ergangenen Steuerbescheids dieses Finanzamts; deren Vollziehung war daher gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO auszusetzen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72537

BStBl II 1978, 271

BFHE 1978, 248

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