Leitsatz (amtlich)

Gemäß Art. 177 Abs. 1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird dem Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist der Begriff „Mehl von Manihot” im Sinne des Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 19 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Getreide vom 4. April 1962 (ABLEG 1962, 933) in Verbindung mit der Anlage zu dieser Verordnung dahin auszulegen, daß ein solches Erzeugnis, ohne Rücksicht auf das Herstellungsverfahren, vorliegt, wenn es von Manihotknollen herrührt und über 55 % Stärke enthält, oder sind noch Höchst- oder Mindestgehalte an anderen Bestandteilen, z. B. Rohfaser, Zucker oder Protein erforderlich?

 

Normenkette

EWGV 19/62 des Rates vom 4. April 1962 Art. 1 Buchst. d

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte beantragte am 20. Mai 1966 beim Zollamt (ZA) „thailändisches Tapioka-Waste-Mehl” zum freien Verkehr abzufertigen. In der Zollanmeldung gab sie an, die Ware sei ungenießbar gemacht und enthalte laut Kontrakt 65 % Stärke incl. soluble carbohydrates. Nachdem die Warenuntersuchungsstelle beim ZA einen Stärkegehalt von mehr als 55 % festgestellt hatte, wies das ZA das Mehl nicht, wie begehrt, als Rückstände von der Stärkeherstellung der Tarifnr. 23.03 des Deutschen Zolltarifs (DZT) 1966 zu, sondern als Mehl von Manihot der Tarifnr. 11.06 – A bzw. der Tarifnr. 11.06 (A) des Abschöpfungstarifs. Dabei stützte sich das ZA auf einen Erlaß des Bundesministers der Finanzen (BdF) vom 29. Dezember 1965, in dem bestimmt war, daß Tapiokawaste der Tarifnr. 23.03 nur zugewiesen werden dürfe, wenn sie einen Stärkegehalt von maximal 55 % in der Trockensubstanz aufweise, während sie bei höherem Stärkegehalt als „Mehl von Manihot” unter die Tarifnr. 11.06 – A falle. Mit formlosem Bescheid vom 7. Juni 1966 forderte das ZA demgemäß von der Klägerin 2 129,67 DM Abschöpfung und 505,67 DM Ausgleichsteuer.

Der Einspruch, mit dem die Klägerin Zuweisung der Ware zur Tarifnr. 23.03 begehrte, hatte keinen Erfolg. Die Klage führte zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 14. Juli 1966 und des Abschöpfungsbescheides vom 7. Juni 1966. Der damit verbundene Ausgleichsteuerbescheid wurde in Höhe von 85,16 DM aufgehoben.

Die Vorinstanz vertrat die Auffassung, das eingeführte Erzeugnis sei eine andere Ware als Mehl von Tapiokaknollen, weil hier vor allem die ausgeschiedene Stärke fehle. Es handle sich um das Restprodukt der Stärkeherstellung. Die Ware sei außerdem kein Erzeugnis der Trockenmüllerei, wie es die Erläuterungen zur Tarifnr. 11.06 DZT forderten, sondern ein Schlämmprodukt, das nach dem Entzug der Stärke getrocknet werde. Die Ware müsse nach eigener Beschaffenheit verzollt werden.

II.

1. Mit seiner Revision beantragt das Hauptzollamt (HZA), die Vorentscheidung aufzuheben, offensichtlich mit dem weiteren Begehren, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt es vor, daß das ZA die Ware zu Recht der Tarifstelle 11.06 – A zugewiesen habe. Der BdF-Erlaß vom 29. Dezember 1965 habe keine neue Tariflage geschaffen, sondern nur bisher irrige Auslegungen des DZT korrigiert. Die Erläuterungen zum DZT zur Tarifnr. 11.06 führten von den möglichen Herstellungsverfahren nur das gebräuchlichste beispielhaft an. Kein Chemiker oder Fachmann könne bei einem Tapiokamehl mit handelsüblichen Stärkegehalten feststellen, auf welche Weise es hergestellt worden sei. Durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Erläuterungen zum Deutschen Zolltarif 1966 (Bundesgesetzblatt II 1966 S. 509 – BGBl II 1966, 509 –) werde die Tarifauffassung des HZA in vollem Umfange bestätigt. Die Regierungssachverständigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hätten festgestellt, daß sogenannte Tapiokawaste mit einem Stärkegehalt von mehr als 40 % im Trockenstoff als Mehl von Manihot zur Tarifnr. 11.06 des DZT gehöre. Die einzelnen Mitgliedstaaten seien von der EWG-Kommission aufgefordert worden, sich dementsprechend im nationalen Recht festzulegen.

2. Der BdF, der dem Verfahren beigetreten ist, vertritt ebenfalls die Auffassung, daß es nicht darauf ankomme, auf welche Weise das Mehl hergestellt worden sei, weil die nach verschiedenen Verfahren hergestellten Tapiokamehle mangels geeigneter Unterscheidungsmerkmale nicht voneinander zu unterscheiden wären. Die Tarifnr. 23.03 des DZT umfasse nach ihrem Wortlaut „Rückstände von der Stärkeherstellung”. Die Auslegung dieses Begriffes könne nicht allein auf die primitiven, kleinbäuerlichen Methoden eines technologisch noch nicht entwickelten Landes ausgerichtet werden. Eine rationelle Stärkegewinnung erfordere technische Anlagen, wie sie nur in Industriebetrieben zum Einsatz kämen. Auch in Thailand und in Indonesien bestünden solche Betriebe. Unter Rückständen im Sinne der Tarifnr. 23.03 könne es sich nur um Waren handeln, aus denen in wirtschaftlich sinnvoller Weise maßgebende Inhaltstoffe nicht mehr gewonnen werden könnten.

3. Die Klägerin beantragt, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, daß das Finanzgericht (FG) der Klage zu Recht stattgegeben habe. Die Festsetzung eines maximalen Stärkegehalts von 55 % in Trockenstoff durch den BdF-Erlaß vom 29. Dezember 1965 sei willkürlich. Es gäbe absolut sichere Kriterien für die Unterscheidung zwischen Tapiokawaste und gemahlenen Tapiokawurzeln. Jeder geübte Handelschemiker vermöge Tapiokawaste von gemahlenen Tapiokawurzeln auf Grund des optischen Gesamteindrucks, des Sandgehalts, des Gehalts an korrodierten Stärkekörnern, des Rohfasergehalts und des Gehalts an löslichen Kohlehydraten zu unterscheiden. Es sei produktionstechnisch fast unmöglich, aus thailändischen Tapiokawurzeln Rückstände mit einem Stärkegehalt von weniger als 55 % i. T. herzustellen, wie sich auch aus dem Gutachten vom 22. Dezember 1966 ergebe.

 

Entscheidungsgründe

III.

1. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Erhebung der Abschöpfung für die in Rede stehende Ware hängt im vorliegenden Falle von der Beantwortung der im Tenor gestellten Frage ab. Das HZA und der BdF gehen, wie ausgeführt, davon aus, daß die Ware – ohne Rücksicht auf das Herstellungsverfahren – ein Mehl von Manihot darstellt, weil sie über 55 % Stärke i. T. enthält, während die Klägerin die Auffassung vertritt, daß es sich bei der Ware um einen Rückstand von der Stärkegewinnung handelt, weil es produktionstechnisch nicht möglich sei, aus thailändischen Tapiokawurzeln Rückstände mit einem Stärkegehalt von weniger als 55 % i. T. herzustellen. Mehl von Manihot ist in Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 19/62 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Verbindung mit der Anlage hierzu namentlich genannt. Es muß also darüber entschieden werden, wie dieser Begriff auszulegen ist. Der BdF-Erlaß vom 29. Dezember 1965, der sagt, daß ein Rückstand der Stärkeherstellung nur dann vorliegt, wenn der Stärkegehalt maximal 55 % i. T. beträgt, ist für die nationalen Gerichte nicht verbindlich. Die Brüsseler-Erläuterungen (in der für den Streitfall maßgebenden Fassung) sind zum Brüsseler Zolltarifschema ergangen, haben also im Streitfalle für die Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs ebenfalls keinen rechtsverbindlichen Charakter. Wie der Warenbegriff „Mehl von Manihot” zu verstehen ist, kann sich daher ausschließlich durch die Auslegung der einschlägigen Gemeinschaftsnormen selbst ergeben.

2. Nach Art. 177 Abs. 1 EWG-Vertrag entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung unter anderem über die Auslegung des Vertrages und über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Nach Abs. 3 a. a. O. ist, wenn eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht sich stellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

 

Fundstellen

Haufe-Index 514714

BFHE 1970, 217

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