Leitsatz (amtlich)

Gemäß Art. 177 Abs. 1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft werden dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. Ist Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 19 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Getreide vom 4. April 1962 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1962 S. 933), wonach die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zur Anpassung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften treffen, damit diese Verordnung ab 1. Juli 1962 tatsächlich angewandt werden kann, dahin zu verstehen, daß die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet sind, durch nationale Vorschriften die Begriffe der der Abschöpfung unterliegenden Erzeugnisse (Art. 1 der Verordnung) näher zu erläutern und voneinander abzugrenzen?
  2. Bei Verneinung der Frage zu a):

    Ist Art. 1 der Verordnung Nr. 19/02 des Rates, der Waren des Gemeinsamen Zolltarifs aufführt, dahin auszulegen, daß diese Warenbegriffe durch den nationalen Gesetzgeber ausgelegt werden können, solange es an einer gemeinschaftsrechtlichen Auslegung fehlt?

  3. Bei Verneinung der Frage zu b):

    Ist der Begriff „Mehl von Manihot” im Sinne des Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 19/62 in Verbindung mit der Anlage zu dieser Verordnung dahin auszulegen, daß ein solches Erzeugnis, ohne Rücksicht auf das Herstellungsverfahren, vorliegt, wenn es von Manihotknollen herrührt und über 40 % Stärke enthält, oder sind noch sonstige Höchst- oder Mindestgehalte anderer Bestandteile, z. B. von Rohfasern, Zucker oder Protein, für diesen Begriff maßgebend?

 

Normenkette

EWGV 19/62 des Rates vom 4. April 1962 Art. 1, 23

 

Tatbestand

I.

Am 11. Juli 1966 beantragte die Klägerin und Revisionsbeklagte beim Zollamt (ZA), „Rückstände aus der Tapiokastärkeherstellung – Waste – mit einem Stärkegehalt von über 40 %” zum freien Verkehr abzufertigen. Als Ursprungsland war Thailand angegeben. Das ZA wies die Ware nicht, wie in der Zollanmeldung begehrt, der Tarifnr. 23.03 des Deutschen Zolltarifs (DZT), sondern der Tarifnr. 11.06 A bzw. 11.06 (A) des Abschöpfungstarifs zu, wobei sich das ZA auf die Erläuterungen zum DZT 1966 in der Fassung der Zweiten Verordnung zur Änderung dieser Erläuterungen vom 27. Juni 1966 (BGBl II 1966, 509, BZBl 1966, 528) stützte. Es erhob durch vorläufigen formlosen Bescheid vom 22. Juli 1966 9 481,40 DM Abschöpfung und 2 249,96 DM Ausgleichsteuer. Mit Bescheid vom 26. Oktober 1966 forderte es 52,92 DM Ausgleichsteuer nach.

Der Einspruch, mit dem die Klägerin Zuweisung der Waren zur Tarifnr. 23.03 begehrte, hatte keinen Erfolg. Die Klage führte zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 30. August 1966 und des Abschöpfungsbescheids vom 22. Juli 1966. Der damit verbundene Ausgleichsteuerbescheid wurde in Höhe von 379,26 DM aufgehoben.

Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auflassung, daß Tapiokawaste nicht zur Tarifnr. 11.06 A gehöre, weil das Erzeugnis kein Mehl von Tapiokaknollen sei, sondern aus einem Schlämmerzeugnis herrühre, dem ein beträchtlicher Teil der Stärke entzogen worden sei, und das danach getrocknet und gemahlen worden sei.

II.

1. Mit seiner Revision beantragt das Hauptzollamt (HZA), die Vorentscheidung aufzuheben, offensichtlich mit dem weiteren Begehren, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt es im wesentlichen vor, daß es für den Begriff „Mehl von Manihot” nicht auf das Herstellungsverfahren ankomme. Die Auslegung des Begriffs „Rückstände von der Stärkeherstellung” dürfte nicht allein auf die primitiven, kleinbäuerlichen Methoden eines technologisch noch nicht entwickelten Landes ausgerichtet werden. Eine rationelle Stärkegewinnung erfordere technische Anlagen, wie sie nur in Industriebetrieben zum Einsatz kämen. Auch in Thailand und Indonesien bestünden solche Betriebe. Unter Rückständen im Sinne der Tarifnr. 23.03 könne es sich nur um Waren handeln, aus denen in wirtschaftlich sinnvoller Weise maßgebende Inhaltsstoffe nicht mehr gewonnen werden könnten. Die Brüsseler Erläuterungen zur Tarifnr. 23.03 bestimmten, daß zu dieser Tarifnummer als „Rückstände” von der Stärkeherstellung” nur Waren gehörten, die in der Hauptsache aus Rohfasern bestünden. Die Zweite Verordnung zur Änderung der Erläuterungen zum DZT 1966 vom 27. Juni 1966 sei auch für die Auslegung des Abschöpfungstarifs verbindlich zufolge der Vorbemerkungen zum Abschöpfungstarif, der sich auf die Abschöpfungstarifverordnung vom 17. Dezember 1963 (BGBl II 1963, 1498) gründe.

2. Der Bundesminister der Finanzen (BdF), der dem Verfahren beigetreten ist, schließt sich den Ausführungen des HZA an. Er hält eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) nicht für erforderlich. Im Streitfalle sei die Marktordnungsvorschrift (Verordnung Nr. 19/62) mit ihrer Ansprache nach Tarifnummern des Gemeinsamen Zolltarifs (ZT) für sich gesehen eindeutig und nicht Gegenstand der Auseinandersetzung. Für das Verfahren stelle sich die Frage der Subsumtion unter die eindeutig angesprochenen Tarifnummern, die zur Zeit der Einfuhr der hier betroffenen Ware für die Bundesrepublik Deutschland (BRD) durch deutsche Rechtsnormen (DZT nach dem Zolltarifgesetz – ZTG –, geändert durch Rechtsverordnungen auf Grund der Ermächtigungen des Zollgesetzes – ZG –) festgesetzt gewesen seien. Die Auslegung dieser deutschen Rechtsnormen könne jedoch nur Gegenstand von Verfahren vor deutschen Gerichten sein.

3. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, eine Vorabentscheidung des EGH darüber einzuholen, ob die Verordnung vom 27. Juni 1966 mit dem Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vereinbar sei.

Zur Begründung trägt sie vor, daß Mehl von Manihot im Sinne der Tarifnr. 11.06 eine müllerische Bearbeitung erfahren haben müsse. Der Müllerei seien Ausschlämmvorgänge in jeder Beziehung fremd. Die Verordnung vom 27. Juni 1966 sei ungültig, da die Einführung einer Stärkegrenze von 40 % absolut willkürlich sei. Es sei produktionstechnisch unmöglich, aus thailändischen Tapiokawurzeln industriell Rückstände mit einem Stärkegehalt von weniger als 40 % herzustellen, wie es sich aus dem Gutachten vom 22. Dezember 1966 ergebe. Unmöglich sei eine Erzeugung in diesem Sinne selbst dann, wenn ihre Durchführung gegen jede wirtschaftliche Vernunft verstoße und damit unzumutbar sei. Die Verordnung vom 27. Juni 1966 gehe von der unzutreffenden Voraussetzung aus, daß es unmöglich sei, Rückstände aus der Tapiokastärkegewinnung von gemahlenen Tapiokawurzeln zu unterscheiden. Es gäbe aber mehrere absolut sichere Kriterien für diese Unterscheidung. Jeder geübte Handelschemiker vermöge Tapiokawaste von gemahlenen Wurzeln auf Grund des optischen Gesamteindrucks, des Sandgehalts, des Gehalts an korrodierten Stärkekörnern, des Rohfasergehalts und des Gehalts an löslichen Kohlehydraten zu unterscheiden.

Die Erläuterungen zum DZT könnten nicht automatisch auch zur Auslegung des Abschöpfungstarifs herangezogen werden, weil sonst § 9 Abs. 3 des Abschöpfungserhebungsgesetzes gegenstandslos wäre. Sollte der Bundesfinanzhof (BFH) die Verordnung vom 27. Juni 1966 mit dem DZT und dem Abschöpfungsrecht für vereinbar halten, müsse er gemäß Art. 177 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) die Vorabentscheidung des EGH einholen. Denn es könne keinem Zweifel unterliegen, daß die Auslegung, die der Begriff „Mehl von Manihot” durch die Erläuterungen zum DZT erhalte, automatisch auch eine Auslegung des insoweit übereinstimmenden Abschöpfungstarifs darstelle. Das EWG-Recht enthalte keine für die Auslegung der Tarifnr. 11.06 verbindliche Durchführungsbestimmungen. In Art. 24 der Verordnung Nr. 19/62 des Rates der EWG sei bestimmt, daß der Rat der EWG befugt sei, auf Vorschlag der EWG-Kommission den Warenkatalog zu Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 19/62 zu ändern. Eine ausdrückliche Ermächtigung an die EWG-Kommission, die Tarifstellen abzugrenzen und zu erläutern, fehle. Derartige Änderungen hätten nicht im Wege einer Verwaltungsanordnung, sondern nur durch einen Rechtssatz getroffen werden dürfen.

 

Entscheidungsgründe

III.

1. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von Abschöpfungen für die hier in Rede stehende Ware hängt von der Beantwortung der im Tenor gestellten Fragen ab. Das HZA und der BdF vertreten, wie ausgeführt, die Auffassung, daß die Ware ein Mehl von Manihot darstellt, weil sie über 40 % Stärke enthält, während die Klägerin der Meinung ist, daß es sich um einen Rückstand der Stärkeherstellung handelt, weil sie keine müllerische Bearbeitung erfahren habe und weil es produktionstechnisch unmöglich sei, aus thailändischen Tapiokawurzeln industriell Rückstände mit einem Stärkegehalt von weniger als 40 % i. T. herzustellen. Mehl von Manihot ist in Art. 1 Buchst. 1 d der Verordnung Nr. 19/62 des Rates der EWG in Verbindung mit der Anlage hierzu namentlich genannt. Es kommt also für die Entscheidung darauf an, wie dieser Begriff auszulegen ist. In den Erläuterungen zum DZT in der für den Streitfall maßgebenden Fassung ist der Begriff „Mehl von Manihot” dahin erläutert, daß hierunter – ohne Rücksicht auf das Herstellungsverfahren und die Bezeichnung – alle aus den Wurzelknollen des Kassavastrauches gewonnenen feinen oder gröberen Mehle gehören, und der Begriff „Rückstände von der Tapiokastärkegewinnung” dahin, daß als solche nur Waren gelten, deren Stärkegehalt, bezogen auf den Trockenstoff, nicht mehr als 40 Gewichtshundertteile beträgt. Es ist also zunächst die Frage zu entscheiden, ob die Erläuterungen zum DZT für die Auslegung eines aus dem Gemeinsamen Zolltarif entnommenen Warenbegriffs des EWG-Rechts herangezogen werden können. Sollte das verneint werden, kann sich die Beantwortung der Frage, wie der Warenbegriff „Mehl von Manihot” zu verstehen ist, ausschließlich durch die Auslegung der einschlägigen Gemeinschaftsnorm selbst ergeben. Die Brüsseler Erläuterungen (in der für den Streitfall maßgebenden Fassung) sind zum Brüsseler Zolltarifschema ergangen, haben also im Streitfalle für die Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs keinen rechtsverbindlichen Charakter.

2. Nach Art. 177 Abs. 1 EWGV entscheidet der BGH im Wege der Vorabentscheidung u. a. über die Auslegung des Vertrages und über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Nach Abs. 3 (a. a. O.) ist, wenn eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt wird, dessen Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet.

 

Fundstellen

Haufe-Index 514766

BFHE 1970, 222

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