Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Bei einem zur Buchführung verpflichteten Landwirt, der keine Bücher geführt hat und deshalb in Anlehnung an die VOL geschätzt worden ist, ist der Einheitswertbescheid des landwirtschaftlichen Betriebs kein Grundlagenbescheid im Sinne des § 218 Abs. 4 AO.
Wird bei der Veranlagung eines solchen Landwirts eine der Veranlagungsdienststelle des FA von der Bewertungsstelle zugegangene Mitteilung über eine Fortschreibung des Einheitswerts versehentlich nicht beachtet, so liegt eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 92 Abs. 3 AO a. F. vor.
Normenkette
AO § 92 Abs. 3, 2, §§ 217, 218 Abs. 4
Tatbestand
Streitig ist bei den Einkommensteuerveranlagungen 1955 bis 1958 die Zulässigkeit von Berichtigungsveranlagungen bei einem zur Buchführung verpflichteten Land- und Forstwirt, dessen Gewinne vom FA in Anlehnung an die Verordnung über die Aufstellung von Durchschnittsätzen für die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft vom 2. Juni 1949 (VOL), Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1949 S. 95, geschätzt wurden.
Der Stpfl. ist Eigentümer eines rd. 65 ha großen landwirtschaftlichen Betriebes. Trotz eines im Jahre 1946 ergangenen Hinweises des FA, daß er zur Führung von Büchern verpflichtet sei, führte er keine Bücher. Das FA schätzte die Gewinne in Anlehnung an die VOL unter Zugrundelegung des auf den 1. Januar 1935 festgestellten auf DM umgestellten Einheitswerts. Die Veranlagungen für die Streitjahre ergingen von 51.100 DM zu folgenden Zeitpunkten: Für 1955 am 6. Mai 1957, für 1956 am 3. Januar 1959, für 1957 am 17. September 1959 und für 1958 am 25. Februar 1960. Der Einheitswert wurde durch Bescheid vom 21. Juli 1959 zum 1. Januar 1956 auf 60.400 DM fortgeschrieben; die Fortschreibung wurde der Veranlagungsdienststelle am gleichen Tage mitgeteilt. Diese vermerkte die Fortschreibung nur in den Vermögensteuerakten des Stpfl. Das FA sah in der Einheitswertfortschreibung eine neue Tatsache im Sinn des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und berichtigte die rechtskräftigen Veranlagungen für die Streitjahre, indem es unter Beibehaltung der Schätzungsmethode den neuen Einheitswert zugrunde legte. Der Einspruch blieb erfolglos.
Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Das FG verneinte die Möglichkeit der Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO, da § 218 Abs. 4 AO zum Zuge komme. Der Einheitswertbescheid für den landwirtschaftlichen Betrieb sei nicht nur bei einer Veranlagung nach der VOL selbst ein Grundlagenbescheid im Sinn dieser Vorschrift, sondern auch bei einer Schätzung in Anlehnung an die VOL. Bei den Veranlagungszeiträumen 1957 und 1958 sei allerdings eine Folgeänderung gemäß § 218 Abs. 4 AO nicht zulässig, weil sie zeitlich nach dem Bekanntwerden der Wertfortschreibung durchgeführt worden seien. Die Berichtigungsveranlagungen für diese Jahre könnten aber auf § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) gestützt werden, da das übersehen eines Grundlagenbescheides eine offenbare Unrichtigkeit sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Stpfl. ist unbegründet. Da der Stpfl., obwohl er zur Buchführung verpflichtet war, keine Bücher führte, waren die Besteuerungsgrundlagen nach § 217 AO zu schätzen. Eine Schätzung in Anlehnung an die VOL war zulässig (Urteile des erkennenden Senats IV 92/52 U vom 21. August 1952, BFH 56, 676, BStBl III 1952, 259, IV 33/57 U vom 31. März 1960, BFH 70, 615, BStBl III 1960, 229, und IV 249/59 U vom 22. September 1960, BFH 71, 716, BStBl III 1960, 516).
Nach § 218 Abs. 2 AO werden die in den Feststellungsbescheiden nach den §§ 214, 215 AO getroffenen Feststellungen den Steuerbescheiden zugrunde gelegt. Ist die in einem Feststellungsbescheid enthaltene Feststellung durch Entscheidung über einen Rechtsbehelf, durch Berichtigungsfeststellung oder durch Fortschreibung nach § 225 a AO geändert worden, so werden nach § 218 Abs. 4 AO Bescheide, die auf dem bisherigen Feststellungsbescheid beruhen, von Amts wegen durch neue Bescheide ersetzt, die der änderung Rechnung tragen, und zwar auch dann, wenn ein zu ersetzender Bescheid bereits unanfechtbar geworden ist (sogenannte "Folgeänderung"). Voraussetzung für eine Folgeänderung nach § 218 Abs. 4 AO ist, daß der zu ändernde Bescheid auf dem geänderten Feststellungsbescheid beruht. Das ist nur dann der Fall, wenn in einer gesetzlichen Vorschrift bestimmt ist, daß die in einem Feststellungsbescheid enthaltenen Feststellungen dem Steuerbescheid zugrunde zu legen sind, daß in bezug auf den Steuerbescheid also eine Bindung an die in dem Feststellungsbescheid getroffenen Feststellungen besteht. Eine Vorschrift, die eine solche Bindungswirkung vorschreibt, ist u. a. § 3 Abs. 1 Satz 1 VOL.
Entgegen der Ansicht der Vorinstanz besteht eine solche Bindungswirkung nicht, wenn der Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft nicht nach den Vorschriften der VOL ermittelt, sondern in Anlehnung an die VOL geschätzt wird. In beiden Fällen hat der Einheitswert zwar eine ähnliche tatsächliche Bedeutung für die Gewinnermittlung; die rechtliche Bedeutung ist aber verschieden. Die Gewinnschätzung in Anlehnung an die VOL ist nur eine von mehreren Schätzungsmethoden, die gleichwertig nebeneinander stehen. Für den Fall einer Schätzung fehlt es an einer Vorschrift, die eine gesetzliche Bindung an einen Grundlagenbescheid vorschreibt.
Die Vorinstanz kann ihre Ansicht auch nicht auf das Urteil des erkennenden Senats IV 33/57 U vom 31. März 1960 (BFH 70. 615, BStBl III 1960, 229) stützen. Diesem Urteil ist nur zu entnehmen, daß die Berechnungsvorschriften der VOL als aufeinander abgestimmtes System grundsätzlich beachtet werden müssen, daß also das FA nicht etwa bei der Schätzung in der VOL nicht vorgesehene Zu- und Abrechnungen beim Grundbetrag oder sonstige grundlegende änderungen des Gewinnermittlungsschemas der VOL ohne eine besondere ins System passende Begründung vornehmen darf. Daß dem Einheitswert im Fall einer Schätzung in Anlehnung an die VOL die Bedeutung eines Grundlagenbescheids im Sinn des § 218 Abs. 4 AO zukomme, hat der Senat mit dem Urteil nicht ausgesprochen. Eine Schätzung in Anlehnung an die VOL kann vielmehr nur unter den gleichen Voraussetzungen geändert oder berichtigt werden wie eine nach einer anderen Methode durchgeführte Schätzung.
Als Grundlage für eine Berichtigung kann im Streitfall die Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht kommen. Danach ist eine Berichtigung zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist.
Eine neue Tatsache in diesem Sinne ist die am 21. Juli 1959 vorgenommene Fortschreibung des Einheitswerts mit Wirkung vom 1. Januar 1956. Es ist davon auszugehen, daß die Umstände, die die Fortschreibung rechtfertigen, zu diesem Zeitpunkt bereits vorlagen. Damit sind die Voraussetzungen für Berichtigungsveranlagungen für die Veranlagungszeiträume, in die das Wirtschaftsjahr 1956/57 und (in sinngemäßer Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 2 VOL) auch das Wirtschaftsjahr 1955/56 fällt, erfüllt; denn der Stpfl. hat nach der Feststellung des FG selbst darauf hingewiesen, der Einheitswertstelle sei die Größe der Flächen auf deren Anfrage bereits im März 1955 mitgeteilt worden, so daß die Fortschreibung schon auf den 1. Januar 1955 hätte vorgenommen werden können.
Dagegen rechtfertigt die bezeichnete Wertfortschreibung keine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958, weil die Veranlagungen für diese Jahre nach den Feststellungen des FG erst durchgeführt wurden, nachdem der Veranlagungsdienststelle die Fortschreibung des Einheitswerts mitgeteilt worden war. Daß sie die Mitteilung nur in den Vermögensteuerakten vermerkte und bei den Einkommensteuerveranlagungen nicht verwertete, ist ein von dieser Dienststelle zu vertretendes Versehen, das die Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO für die bezeichneten Veranlagungszeiträume ausschließt.
Für diese Veranlagungszeiträume sind die Berichtigungsveranlagungen aber auf Grund des § 92 Abs. 3 AO a. F. zulässig. Nach dieser Vorschrift können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten auch nach der Bekanntgabe einer Verfügung, insbesondere eines Steuerbescheids, berichtigt werden. Offenbare Unrichtigkeiten in diesem Sinn sind nach der ständigen Rechtsprechung des BFH nur mechanische Versehen und menschliches Versagen, nicht hingegen Fehler in der Rechtsanwendung. Ist auch nur die Möglichkeit eines Rechtsirrtums gegeben, so ist die Anwendbarkeit des § 92 Abs. 3 AO a. F. ausgeschlossen (BFH-Urteil II 113/53 U vom 10. Juni 1953, BFH 57, 558, BStBl III 1953, 214; Urteile des erkennenden Senats IV 486/53 U vom 18. November 1954, BFH 60, 52, BStBl III 1955, 19, und IV 310/63 vom 16. Juli 1964, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 92, Rechtsspruch 31 sowie Urteil II 137/55 U vom 14. März 1956, BFH 62, 372, BStBl III 1956, 137). Die von der Rechtsprechung bisweilen angewandte Unterscheidung, daß es sich um Fehler handeln müsse, die bei der Erklärung des Entscheidungswillens, nicht aber um solche, die bei der Bildung des Entscheidungswillens unterlaufen sind, führt, worauf der BFH im Urteil I 270/60 U vom 17. Januar 1961 (BFH 72, 392, BStBl III 1961, 144) hinweist, nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen. Der BFH hat im Urteil VI R 5/66 vom 10. Februar 1967 (BFH 88, 155, BStBl III 1967, 348) ausgeführt, daß sowohl eine zu weite als auch eine zu enge Auslegung des § 92 Abs. 3 AO a. F. verfehlt sei; denn da der Begriff der "offenbaren Unrichtigkeit" nicht verschieden danach ausgelegt werden könne, ob der Fehler sich zuungunsten des Stpfl. oder des Steuerfiskus auswirke, würde eine zu enge Auslegung den Stpfl. benachteiligen. Dem ist zuzustimmen.
Wie das FG zutreffend hervorhebt, ist der Veranlagungsbeamte bei den seit Jahren in Anlehnung an die VOL vorgenommenen Veranlagungen des Stpfl. erkennbar davon ausgegangen, daß der Gewinn aus dem für zutreffend angesehenen Bruchteil des zuletzt festgestellten Einheitswerts entwickelt werden müsse. Wenn er dies bei den Veranlagungen der Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 nicht getan hat, weil er die Mitteilung über die Einheitswertfortschreibung nicht beachtet hat, so liegt darin ein offenbares Versehen des zuständigen Veranlagungsbeamten, das auf einem menschlichen Versagen beruht, bei dem ein Rechtsirrtum aber nach Lage der Sache ausgeschlossen ist. Danach sind die Voraussetzungen des § 92 Abs. 3 AO a. F. gegeben.
Die Revision war hiernach gemäß § 126 Abs. 4 FGO als unbegründet zurückzuweisen, weil die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, die Entscheidung selbst sich aber aus anderen Gründen als richtig darstellt.
Fundstellen
Haufe-Index 412710 |
BStBl III 1967, 766 |
BFHE 1968, 6 |
BFHE 90, 6 |