Leitsatz (amtlich)
1. Sind mit der Revision nur Verfahrensmängel geltend gemacht worden, so ist der BFH nicht gehindert, das angefochtene Urteil auch materiell-rechtlich zu prüfen, sofern die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO vorliegen.
2. Bei Personen, die im Zeitpunkt der Vertreibung noch Kinder ohne eigene Einkünfte waren, ist als Erstjahr für die Gewährung des Freibetrags nach § 33a EStG 1953 das Jahr anzusehen, in dem dem Kind als unbeschränkt Steuerpfichtigem erstmals eigene steuerpflichtige Einkünfte zufließen, sofern es zu diesem Zeitpunkt seine Zugehörigkeit zu der Personengruppe der Vertriebenen nachweist.
Normenkette
FGO § 118 Abs. 3 S. 1; EStG 1953 § 33a; EStG 1965 § 52 Abs. 21; LStDV 1965 § 25b Abs. 3; BVFG §§ 7, 9-10, 13
Tatbestand
Der im Jahre 1941 geborene Kläger kam bei der Vertreibung seiner Eltern aus Oberschlesien im Jahre 1945 ins Bundesgebiet. Er wurde als Kind auf dem Flüchtlingsausweis A seiner Eltern eingetragen. Im Jahr 1961 hatte der Kläger als Beamtenanwärter lohnsteuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Im Jahr 1966, in dem er als Verwaltungsinspektor beschäftigt wurde, ließ er sich einen Flüchtlingsausweis ausstellen und beantrage beim FA die Eintragung eines Freibetrages nach § 25b LStDV auf seiner Lohnsteuerkarte. Das FA lehnte die Eintragung ab.
Der Einspruch und die Klage blieben erfolglos.
Das FG führte in seinem Urteil vom 26. März 1968 zunächst aus, daß einer der Richter, die nach dem Geschäftsverteilungsplan für 1968 bei der Entscheidung mitzuwirken hätten, in die Besoldungsgruppe A 14/Z eingestuft sei. Die Frage der ordnungsmäßigen Besetzung des Gerichts müsse jedoch zur Vermeidung vorzeitiger schwerwiegender Auswirkungen auf die Finanzrechtspflege bis zur Entscheidung dieser Frage durch oberste Gerichte dahinstehen. Zur Sache führte das FG aus: die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Freibetrages seien beim Kläger im Jahr der Vertreibung, 1945, erfüllt gewesen. In diesem Jahr habe er im Inland einen Wohnsitz begründet. Es sei nicht entscheidend, daß der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch keine Einkünfte gehabt habe, weil er erst vier Jahre alt gewesen sei. Der Beginn des Dreijahreszeitraums sei weder an die Arbeitsaufnahme noch an eine steuerliche Auswirkung des Freibetrags geknüpft.
Auch die Auffassung, daß dem Kläger der Freibetrag zustehe, weil ihm erst im Jahre 1966 ein Flüchtlingsausweis ausgestellt worden sei und er erst seitdem seine Zugehörigkeit zu dem begünstigten Personenkreis habe nachweisen können, teile das FG nicht. Es sei zwar für den Antrag auf Anerkennung als Vertriebener keine Frist vorgesehen. Das bedeute jedoch nicht, daß er durch die Wahl des Jahres, in dem er den Antrag stellt, den Zeitpunkt bestimmen oder beeinflussen könne, in dem er die Steuervergünstigung in Anspruch nehmen wolle. Der Zweck der Vergünstigung bestehe darin, sie dem Vertriebenen als Starthilfe, also für das Jahr der Flucht und die beiden folgenden Jahre, zu gewähren. Nur wenn die Ausstellung des Ausweises rechtzeitig, d. h. regelmäßig noch im Jahr der Vertreibung, beantragt worden sei, sich die Ausstellung aber verzögert habe, sei es gerechtfertigt, als Erstjahr das Jahr der Ausstellung des Ausweises anzusetzen. Der Kläger habe jedoch mit dem Antrag auf Ausstellung des Ausweises bis nach Abschluß seiner Berufsausbildung gewartet. Durch die Verzögerung des Antrags aus persönlichen Gründen werde jedoch das Erstjahr für den Freibetrag nicht hinausgeschoben.
Mit der am 22. April 1968 eingegangenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von Bundesrecht. Das FG habe die Revision nicht zugelassen. Es bedürfe jedoch keiner Zulassung, da als wesentlicher Verfahrensmangel gerügt werde, daß das FG nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe durch seinen Vorbescheid IV R 124/67 vom 18. Januar 1968 ausgesprochen, daß das FG nicht vorschriftsmäßig besetzt sei, wenn die Richter des FG rangmäßig nicht als Richter eines oberen Landesgerichts eingestuft seien. Sollte der BFH jedoch in der Zwischenzeit zu einer anderen Auffassung gekommen sein, so bitte er, die Revision als Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zu werten, um einen Fristablauf zu vermeiden.
Streitig sei, wann die Voraussetzungen des § 25b LStDV bei Personen erfüllt seien, die im Zeitpunkt der Vertreibung noch Kind waren. Die unbeschränkte Steuerpflicht liege seit dem Zeitpunkt der Geburt vor, die Zugehörigkeit zum Personenkreis der Vertriebenen frühestens seit dem Inkrafttreten des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 19. Mai 1953 (BStBl I 1953, 157). Die Gewährung des Freibetrages setze jedoch nicht nur die Eigenschaft eines Vertriebenen, sondern auch den Abschluß des Anerkennungsverfahrens nach dem BVFG voraus. Die grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreites gehe aus der Feststellung des FG hervor, daß der Zweck der Vergünstigung in der Gewährung einer Starthilfe bestehe. Diese Feststellung ergebe sich weder aus dem Gesetz noch der Durchführungsverordnung. Die Unterteilung der Flüchtlinge in solche, die durch ihr Alter anspruchsberechtigt seien, und in jüngere, die keinen Anspruch hätten, erscheine rechtsirrig.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision kann keinen Erfolg haben.
Die Revision, deren Streitwert 1 000 DM nicht übersteigt, ist nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO zulässig. Nach dieser Vorschrift bedarf es zur Einlegung der Revision keiner Zulassung, wenn als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, daß das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei. Es genügt allerdings nicht, daß dieser Mangel bloß behauptet wird. Im Streitfall hat das FG selbst auf diesen Mangel hingewiesen. Es liegen somit Feststellungen vor, die geeignet erscheinen, eine Verletzung der Normen über die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts darzutun (BFH-Urteil I R 101/68 vom 28. November 1968, BFH 94, 207, BStBl II 1969, 115). Außerdem durfte der Kläger im Zeitpunkt der Einlegung der Revision aufgrund der Ausführungen des BFH in dem Vorbescheid und dem gleichlautenden Urteil IV R 124/67 vom 18. Januar bzw. 14. März 1968 (BFH 91, 228, BStBl II 1968, 282) die Voraussetzungen für das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels als erfüllt ansehen. Der Große Senat des BFH hat in dem Beschluß Gr. S. 1/68 vom 27. Mai 1968 (BFH 92, 188, BStBl II 1968, 473) nicht die Meinung geteilt, daß die auch vom Kläger vorgetragene Auffassung unhaltbar sei. Der Große Senat hat jedoch in Übereinstimmung mit dem Beschluß des BVerfG 2 BvL 9-11/68 vom 14. Mai 1968 (BStBl II 1968, 467) entschieden, daß der Besoldung der Finanzrichter für den Status der FGe als obere Landesgerichte keine Bedeutung beigemessen werden könne. Die Verfahrensrüge ist demnach nicht begründet. Der BFH ist gleichwohl nicht gehindert, das Vorbringen des Klägers zur Sache zu würdigen.
Nach § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO ist nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden, wenn die Revision auf Verfahrensmängel gestützt wird und nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO vorliegt. Diese Vorschrift entspricht der Regelung des § 137 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach der Auffassung des BVerwG schließt § 137 Abs. 3 Satz 1 VwGO die Verfahrensrevisionen nicht aus. Die Vorschrift ist in ihrer Anwendung auch nicht auf die zugelassenen Revisionen beschränkt. Das BVerwG meint, der Gesetzgeber habe bewußt die Möglichkeit eines Mißbrauchs der Verfahrensrevision, der in der Umgehung des Zulassungsverfahrens liegen kann, in Kauf nehmen wollen, wenn eine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwGO vorliege (BVerwGE 17, 253). Daraus folgert das BVerwG, daß das angefochtene Urteil, gegen das mit der Revision nur Verfahrensmängel geltend gemacht worden sind, auch materiell-rechtlich nach Maßgabe des § 137 Abs. 3 Satz 1 VwGO, also bei Grundsätzlichkeit oder bei einer von der Rechtsprechung abweichenden Entscheidung, geprüft werden darf (BVerwGE 18, 64). Für das finanzgerichtliche Verfahren sind keine Gründe ersichtlich, die Anlaß gäben, den § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO anders auszulegen als den im Wortlaut mit ihm übereinstimmenden § 137 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Der Senat schließt sich deshalb der Auffassung des BVerwG an.
Der Kläger hat selbst die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht. Er sieht sie zwar in erster Linie in der Feststellung des FG, daß es sich bei der Gewährung des Freibetrages um eine Starthilfe handele. Diese Auffassung mag dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 33a EStG 1953 vorgeschwebt haben. Ob sie auch bei der Verlängerung der Geltungsdauer dieser Vorschrift durch § 52 Abs. 21 EStG 1965 noch maßgebend war, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist die Frage, wie steuerlich zu verfahren ist, wenn ein Steuerpflichtiger als Kind vertrieben worden ist und erst nach Beginn einer Berufstätigkeit den Flüchtlingsausweis beantragt und erhält, höchstrichterlich noch nicht entschieden worden. Ob in diesen Fällen die Vergünstigung überhaupt noch gewährt werden kann, hängt davon ab, welches Jahr als Erstjahr des Dreijahreszeitraums nach § 33a EStG 1953 zu gelten hat.
Nach § 52 Abs. 21 EStG 1965 gilt § 33a Abs. 1 EStG 1953 auch weiterhin mit der Maßgabe, daß er jeweils nur für das Kalenderjahr, in dem bei einem Steuerpflichtigen die Voraussetzungen für die Gewährung eines Freibetrags eingetreten sind, und die beiden folgenden Kalenderjahre anzuwenden ist. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Freibetrags sind nach der Erläuterung durch § 25b Abs. 3 LStDV 1965 bei einem Steuerpflichtigen in dem Kalenderjahr eingetreten, in dem er als unbeschränkt Steuerpflichtiger erstmalig zu den Vertriebenen, Heimatvertriebenen, Sowjetzonenflüchtlingen und diesen gleichgestellten Personen gehört hat.
Die Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen durch Vertriebene ist nach dem BVFG in der Fassung vom 23. Oktober 1961 (Bundesgesetzblatt I S. 1883) daran geknüpft, daß der Vertriebene seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland oder in Berlin (West) hat (§ 9 BVFG) und daß er diesen Aufenthalt bis zum 31. Dezember 1952 genommen hat (§ 10 Abs. 1 BVFG). Da auch nach der Vertreibung geborene oder legitimierte Kinder die Eigenschaft als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling des Elternteiles erwerben, dem im Zeitpunkt der Geburt oder der Legitimation das Recht der Personensorge zustand oder zusteht (§ 7 BVFG), gilt der Stichtag nicht für ein Kind, das nach dem 31. Dezember 1952 geboren ist, das aber im übrigen die Voraussetzungen der §§ 7 und 9 BVFG erfüllt (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 BVFG). Ob bei den Kindern der vererbliche Vertriebenenstatus noch zur Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen als Vertriebener führt, hängt davon ab, ob die Voraussetzungen des § 13 BVFG erfüllt sind. Über den Eintritt dieser Voraussetzungen hat die Finanzverwaltung nicht zu entscheiden.
Aus der Rechtslage, die sich aus den Vorschriften des BVFG ergibt, folgt, daß die in § 25b Abs. 3 Satz 2 LStDV bezeichneten Voraussetzungen für die Gewährung des Freibetrags im Streitfall einer ergänzenden Auslegung bedürfen. Bei den Kindern von Vertriebenen, die ebenfalls den Vertriebenenstatus erworben haben, genügt es nicht, für die Gewährung des Freibetrags den Zeitpunkt als maßgebend anzusehen, in dem das Kind als unbeschränkt Steuerpflichtiger erstmalig zu der Personengruppe der Vertriebenen gehört hat. Das würde in der Regel einer vom BVFG nicht gewollten Versagung der steuerlichen Vergünstigung gleichkommen. Die steuerliche Vergünstigung soll sich bei dem Einkommen auswirken. Der Freibetrag nach § 33a Abs. 1 EStG 1953 ist auf Antrag in der vom Gesetz bestimmten Höhe vom Einkommen abzuziehen. Das Gesetz setzt also voraus, daß in den Fällen, in denen der Freibetrag zu gewähren ist, Einkünfte vorhanden sind. Die in § 25b LStDV geforderten Voraussetzungen müssen deshalb bei Personen, die im Zeitpunkt der Vertreibung noch Kinder ohne eigene Einkünfte waren, dahin ergänzt werden, daß als Erstjahr für die Gewährung des Freibetrages das Jahr anzusehen ist, in dem dem Kind als unbeschränkt Steuerpflichtigem erstmals eigene steuerpflichtige Einkünfte zufließen, sofern es in diesem Zeitpunkt seine Zugehörigkeit zu der Gruppe der Vertriebenen nachweist.
Nach diesen Erwägungen ist im Streitfall die Gewährung der Vergünstigung abzulehnen. Das FG hat festgestellt, daß der Kläger bereits im Jahre 1961 als Beamtenanwärter lohnsteuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezogen hat. Demnach war bei Ausstellung des Flüchtlingsausweises im Jahre 1966 die gesetzliche Dreijahresfrist bereits verstrichen. Der Kläger kann den Beginn des Begünstigungszeitraums nicht dadurch hinauszögern, daß er den Antrag auf Ausstellung des Flüchtlingsausweises aus persönlichen Gründen, insbesondere um eine höhere steuerliche Auswirkung des Freibetrages zu erreichen, auf einen von ihm geplanten Zeitpunkt hinausschiebt. Die Ausstellung des Ausweises muß bei Personen, die den Vertriebenenstatus als Kind erhalten haben, im engen zeitlichen Zusammenhang mit den Voraussetzungen stehen, an die die Gewährung der steuerlichen Vergünstigung geknüpft ist. Nur wenn aus Gründen, die nicht in der Person des Vertriebenen liegen, die Ausstellung des Ausweises längere Zeit in Anspruch nimmt, hat der Senat eine begrenzte Verzögerung des Beginns des Erstjahres für zulässig gehalten (BFH-Urteil VI 213/60 U vom 13. April 1962, BFH 74, 695, BStBl III 1962, 257). Der Kläger hat sich auf eine derartige Verzögerung nicht berufen.
Fundstellen
Haufe-Index 557401 |
BStBl II 1969, 621 |
BFHE 1969, 269 |