Leitsatz (amtlich)
Hat ein lediger Arbeitnehmer mehrere Wohnungen und ist die vom Beschäftigungsort weiter entfernt liegende Wohnung der örtliche Mittelpunkt seiner Lebensinteressen, so kann er auch Aufwendungen für Fahrten zwischen dieser Wohnung und der Arbeitsstätte als Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG abziehen. Die weiter entfernt liegende Wohnung wird regelmäßig nicht der örtliche Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sein, wenn er sich in dieser Wohnung nur selten aufhält.
Normenkette
EStG § 9 Abs. 1 Nr. 4
Tatbestand
Die im Jahre 1934 geborene, ledige Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) lebte bis 1968 zusammen mit ihrer Mutter in deren Wohnung in S. Ihr stand bis einschließlich 1971, dem Streitjahr, in der Wohnung ihrer Mutter ein von ihr mit selbstbeschafften Möbeln eingerichtetes Zimmer zur Verfügung. Für dieses Zimmer zahlte sie an ihre Mutter monatlich 50 DM Miete. Seit 1968 ist die Klägerin in H in einem Arzthaushalt als Wirtschafterin tätig und bewohnte im Streitjahr 1971 im Hause ihres Arbeitgebers ein von ihm möbliertes Zimmer. Ihr Arbeitgeber behielt die Lohnsteuer unter Zugrundelegung eines Bruttoarbeitslohns für das Kalenderjahr 1971 von rd. 10 000 DM von ihren Bezügen ein. Darin waren die Sachbezüge der Klägerin (Verpflegung, Wohnung, Heizung und Beleuchtung) mit 2 700 DM enthalten.
Beim Lohnsteuer-Jahresausgleich 1971 machte die Klägerin u. a. Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung in Höhe von 975 DM als Werbungskosten geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte die Berücksichtigung dieser Aufwendungen ab. Nach erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Das FG begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt:
Die Klägerin habe im Streitjahr keinen doppelten Haushalt geführt, weil sie in S keinen eigenen Hausstand gehabt habe. Gleichwohl habe die Klage Erfolg. Im Urteil vom 19. November 1971 VI R 132/69 (BFHE 103, 533, BStBl II 1972, 155) habe der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, daß trotz Fehlens einer doppelten Haushaltsführung Werbungskosten eines ledigen Steuerpflichtigen grundsätzlich anzuerkennen seien, wenn er nur für vorübergehende Zeit an einen neuen Beschäftigungsort abgeordnet worden oder wenn ihm ein Umzug an den neuen Beschäftigungsort noch nicht zuzumuten sei. Auch bei einer langfristigen auswärtigen Beschäftigung könnten die Kosten der Unterkunft am Beschäftigungsort Werbungskosten sein. Die Aufwendungen für eine vom Arbeitgeber zugewiesene Unterkunft seien keine Kosten der persönlichen Lebenshaltung, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet sei, sich in dieser Unterkunft aufzuhalten. Unterhalte in einem solchen Fall ein lediger Arbeitnehmer auf seine Kosten außerhalb der ihm von seinem Arbeitgeber zugewiesenen Unterkunft eine eigene Wohnung, um dort seine freie Zeit zu verbringen, so seien die Kosten für die Unterkunft an der Arbeitsstelle Aufwendungen, die die Ausübung des Dienstes mit sich bringe und die nicht durch die allgemeine Lebensführung bedingt seien. Die Aufwendungen für eine als Wohnung ungeeignete Unterkunft beim Arbeitgeber seien dann Werbungskosten.
Im Streitfall habe die Klägerin den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht in das Haus ihres Arbeitgebers nach H verlegt und dort keine Wohnung innegehabt. "Wohnung" sei nach dem BFH-Urteil vom 4. August 1967 VI R 261/66 (BFHE 89, 530, BStBl III 1967, 727) der Raum, der einem Menschen für sein Privatleben zur Verfügung stehe; ein Arbeitnehmer habe seine Wohnung in dem Raum, von dem aus er regelmäßig seine Arbeitsstelle aufsuche und wohin er nach der Arbeit zurückkehre. Nach Auffassung des BFH sei deshalb für Ledige, die in einem möblierten Zimmer wohnten, in der Regel dieses Zimmer die Wohnung, unabhängig davon, ob das Zimmer besser oder weniger gut eingerichtet sei. Im Streitfall liege aber kein solcher Regelfall vor. Hausangestellte, die in einer Familie mit Kindern Tag und Nacht am Familienleben ihres Arbeitgebers zwangsläufig teilnähmen und ihre Freizeit nicht ungestört in einer abgeschlossenen Wohnung verbringen könnten, hielten sich praktisch ständig an ihrer Arbeitsstelle auf und befänden sich in ständiger Arbeitsbereitschaft. Behalte eine Hausangestellte, obwohl ihr vom Arbeitgeber freie Wohnung gewährt werde, ihre eigene Wohnung bei, so könne daraus entnommen werden, daß sie das Zimmer in der Wohnung ihres Arbeitgebers nicht zum Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen gemacht habe. Ihre Aufwendungen für das Zimmer bei ihrem Arbeitgeber seien nicht durch die private Lebensführung bedingt, sondern Werbungskosten.
Die Kosten für 12 Fahrten der Klägerin nach S im Jahre 1971 in Höhe von insgesamt 252 DM seien ebenfalls Werbungskosten. Der Klägerin sei es nicht zuzumuten, bei den gegenwärtigen Mietpreisen nach H umzuziehen, solange ihre Wohnung in S so mietpreisgünstig sei.
Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung des § 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG), hilfsweise macht es eine Verletzung des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Im wesentlichen führt das FA aus:
Der BFH habe bisher in Ausnahmefällen anerkannt, daß der auswärts beschäftigte, ledige Arbeitnehmer Werbungskosten für monatliche Heimfahrten zum bisherigen Wohnort und für die Unterkunft am neuen Beschäftigungsort haben könne. Der BFH habe dies jedoch nur für Fälle zugelassen, in denen sich der Steuerpflichtige am neuen Beschäftigungsort eine Wohnung noch nicht habe beschaffen können oder in denen ihm ein Umzug nicht zuzumuten gewesen sei. Dagegen seien keine BFH-Urteile bekannt, in denen wegen mangelnder Geeignetheit der Wohnung am neuen Beschäftigungsort Werbungskosten anerkannt worden seien. Der Umstand, daß eine Hausangestellte nicht die Wahl habe, ob sie mehr oder weniger Miete für ihre Wohnung beim Arbeitgeber ausgeben wolle, und daß sie ihr Zimmer auch nicht wechseln könne, rechtfertige es nicht, Werbungskosten für Heimfahrten und für die Miete für ein weiteres Zimmer anzuerkennen. Bei dem Zimmer, das die Klägerin bei ihrem Arbeitgeber bewohne, handele es sich um ihre Wohnung. Die Klägerin habe den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen an den Beschäftigungsort verlegt. Aufwendungen für die Fahrten nach S und die Kosten der Unterkunft an ihrem Beschäftigungsort seien deshalb Kosten der persönlichen Lebenshaltung.
Die Entscheidung des FG verstoße auch gegen § 76 FGO, weil das FG nicht geklärt habe, ob die Klägerin tatsächlich ihre Wohnung in S beibehalten habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg.
Soweit das FG die Kosten der Klägerin für die Miete der Wohnung in H und die Aufwendungen für 12 Fahrten der Klägerin nach S und zurück nach H als Werbungskosten anerkannt hat, kann ihm nicht gefolgt werden.
a) Allerdings hat der Senat in den Urteilen vom 17. Februar 1961 VI 32/60 U (BFHE 72, 461, BStBl III 1961, 169) und vom 19. November 1971 VI R 132/69 (BFHE 103, 533, BStBl II 1972, 155) trotz Fehlens einer steuerrechtlich relevanten doppelten Haushaltsführung Werbungskosten für eine Übergangszeit deshalb grundsätzlich anerkannt, weil die Steuerpflichtigen aus beruflicher Veranlassung eine zweite Zimmermiete hatten aufwenden und aus den gleichen Gründen jeweils in gewissen Abständen ihre bisherige Wohnung hatten aufsuchen müssen, um dort mit der Wohnung zusammenhängende Angelegenheiten regeln zu können. In dem Falle des Urteils VI 32/60 U konnte der Steuerpflichtige am neuen Dienstort eine Wohnung noch nicht beschaffen; ihm war ein Umzug also nicht möglich. In dem Falle des Urteils VI R 132/69 war dem Steuerpflichtigen, weil er an den neuen Beschäftigungsort lediglich abgeordnet war, ein Umzug an diesen Ort nicht zuzumuten. In beiden Fällen war es den Steuerpflichtigen also nicht möglich oder zuzumuten, an den neuen Beschäftigungsort endgültig umzuziehen. So liegt der Sachverhalt im Streitfall jedoch nicht.
Im Streitjahr 1971 war die Klägerin bereits im dritten Jahr bei ihrem Arbeitgeber in H beschäftigt. Sie wohnte auch schon so lange bei ihm. Es war in diesem Jahr auch kein baldiges Ende dieses Zustandes abzusehen, so daß nicht davon die Rede sein kann, die Klägerin habe nur vorläufig ihren Aufenthalt in H genommen, ihr sei ein Umzug bisher unzumutbar gewesen.
Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Klägerin im Streitjahr bereits nach H umgezogen war. Sie hatte im Haushalt ihres Arbeitgebers eine Wohnung inne. Das FG führt insoweit aus, die Klägerin habe in S keinen eigenen Hausstand gehabt. Wenn es dennoch eine "Wohnung" der Klägerin in H als nicht gegeben angesehen hat, kann ihm der Senat nicht folgen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es insoweit nicht darauf an, ob sie die Wohnung in H für angemessen hält sowie ob die Wohnung in H ausreicht, um ihre Möbel unterzubringen und allen ihren Lebensbedürfnissen uneingeschränkt nachzugehen. Die Übergangszeit, in der alleinstehende Steuerpflichtige ohne doppelte Haushaltsführung nach der Rechtsprechung Fahrtkosten und Mietaufwendungen als Werbungskosten abziehen können, findet mit dem Umzug des Hausrats in eine für die Lebensbedürfnisse des Steuerpflichtigen ausreichende Wohnung am Beschäftigungsort ihr Ende. Dabei ist es bei Umzügen von Alleinstehenden - wie auch bei Umzügen Verheirateter, die zu einer Beendigung einer doppelten Haushaltsführung führen - nicht erforderlich, daß die Wohnung in jeder Hinsicht den persönlichen Anforderungen entspricht, die der Steuerpflichtige an seine Wohnung stellt (vgl. BFH-Urteil vom 23. Juli 1976 VI R 228/74, BFHE 119, 561, BStBl II 1976, 795). Das heißt, eine zweite Wohnung muß, um als Wohnung anerkannt werden zu können, ausstattungsmäßig nicht in jeder Beziehung der ersten Wohnung gleichwertig sein (BFH-Urteil vom 15. November 1974 VI R 195/72, BFHE 114, 340, BStBl II 1975, 278); selbst wenn ein Arbeitnehmer nur in einer Holzbaracke wohnt, kann er insoweit eine Wohnung haben (BFH-Urteil VI R 195/72). Es kommt deshalb im Streitfall auch nicht darauf an, ob die Wohnung der Klägerin in H groß genug ist, um alle ihre Möbel darin unterzustellen und ob die Klägerin darin zu jeder beliebigen Zeit Besucher empfangen und uneingeschränkt ihr Privatleben führen kann. Entscheidend ist vielmehr, daß die Klägerin von dieser Wohnung aus ihrer Arbeit nachging und daß dieser Zustand offenbar nicht nur vorübergehend gedacht war. Denn sie hatte sich darauf eingerichtet, in dieser Wohnung bei ihrem Arbeitgeber für längere Zeit zu wohnen. Der Umzug nach H war demnach nicht nur nicht unzumutbar oder unmöglich, sondern im Streitjahr bereits vollzogen, so daß Werbungskosten für das Aufsuchen der bisherigen Wohnung in S nach der vorbezeichneten Rechtsprechung des Senats nicht mehr in Betracht kamen.
Die Klägerin macht dagegen geltend, sie habe aufgrund ihrer Tätigkeit im Arbeitgeberhaushalt untergebracht werden müssen, ihren Wohnraum also nicht selbst bestimmen können; auch seien die Mieten in H so hoch, daß sie - jedenfalls bis zum Streitjahr - keine andere angemessene Wohnung habe finden können. Diese Einwendungen stehen den vorstehenden Erwägungen nicht entscheidend entgegen. Die Klägerin hat offenbar freiwillig die Wohnverhältnisse im Arbeitgeberhaushalt in Kauf genommen; denn sie kannte die Art ihrer Unterbringung bereits bei Eintritt in das Arbeitsverhältnis. Die Tatsache, daß die Wohnung, weil sie sich eine teurere nicht leisten konnte, nicht voll ihren Ansprüchen und Bedürfnissen entsprach, widerlegt nicht, daß sie nicht dennoch zunächst in den Haushalt ihres Arbeitgebers umgezogen war. Mit dem Umzug an den Beschäftigungsort entfiel aber die Möglichkeit, Fahrtkosten und Aufwendungen für eine Zimmermiete als Werbungskosten abzuziehen (BFH-Urteil VI R 228/74).
b) Die Aufwendungen der Klägerin für die Fahrten zwischen H und S sind auch nicht als Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG - Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte - abziehbar.
Der Senat hat zwar im Urteil vom heutigen Tage VI R 21/76 entschieden, daß bei einem Arbeitnehmer, der mehrere Wohnungen besitzt und der sich zum Teil von der einen und zum Teil von der anderen Wohnung aus zu seiner Arbeitsstätte begibt, auch die Fahrten zwischen der vom Beschäftigungsort weiter entfernt liegenden Wohnung zur Arbeitsstätte Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG sind, wenn die weiter entfernt liegende Wohnung den örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers darstellt. Im Urteil vom gleichen Tage VI R 240/74 hat der Senat darüber hinaus ausgeführt, daß Gleiches auch für alleinstehende Arbeitnehmer zu gelten habe. In dem letztgenannten Urteil hat der Senat aber hervorgehoben, daß der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen eines alleinstehenden Arbeitnehmers sich im allgemeinen am Ort der Wohnung befindet, von der aus er sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt. In dem Urteil VI R 240/74 hat der Senat jedoch auch ausgeführt, daß in Ausnahmefällen bei einem Alleinstehenden der Ort, von dem aus er sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt, und der örtliche Mittelpunkt seiner Lebensinteressen auseinanderfallen können. Der Senat ist der Auffassung, daß im Streitfall ein solcher Ausnahmefall nicht gegeben ist.
Wie sich aus dem Urteil des Senats VI R 21/76 ergibt, hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, wo sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen eines Steuerpflichtigen befindet. Bei der vom FG festgestellten Gestaltung des vorliegenden Falles hatte die Klägerin entgegen der Auffassung des FG nicht in S, sondern in H den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen.
Die Klägerin hatte in S nur ein Zimmer in der ohnedies kleinen Zweizimmerwohnung ihrer Mutter. Sie verbrachte in diesem Zimmer offenbar nicht ihre gesamte Freizeit. Insbesondere ist sie nach den tatsächlichen Feststellungen des FG nur selten nach S gefahren. Denn sie hat beim FA nur für insgesamt vier Reisen an Ostern, Pfingsten, in den Sommerferien und zu Weihnachten Fahrtaufwendungen nach S und zurück geltend gemacht. Selbst wenn sie aber 12 Fahrten im Streitjahr nach S und zurück nach H, wie vom FG anerkannt, durchgeführt haben sollte, so spricht dieser seltene Aufenthalt in S doch entscheidend dagegen, daß sich dort der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen der Klägerin befunden haben könnte. Es kommt hinzu, daß die Klägerin, wie sie selbst ausführt, in den Arbeitgeberhaushalt in H Tag und Nacht voll integriert war, insbesondere weil sie ständig die kleinen Kinder ihres Arbeitgebers zu betreuen hatte. Es gehört auch zum Berufsbild der Klägerin als Wirtschafterin, daß sie sich ständig am Arbeitgeberhaushalt aufhält. Unter diesen Umständen war das wesentliche berufliche, aber auch private Leben der Klägerin nach H ausgerichtet, so daß sich dort auch ihr Lebensmittelpunkt befand. War aber die weiter vom Beschäftigungsort entfernt liegende Wohnung der Klägerin nicht der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen, so kann sie von diesem Ort aus keine als Werbungskosten abziehbaren Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte haben (vgl. BFH-Urteil VI R 21/76).
Fundstellen
Haufe-Index 73035 |
BStBl II 1979, 226 |
BFHE 1979, 525 |