Leitsatz (amtlich)
Die Entscheidung des Senats vom 10. November 1978 VI R 21/76, daß bei einem verheirateten Arbeitnehmer, der mehrere Wohnungen besitzt und der sich zum Teil von der einen und zum Teil von der anderen Wohnung aus zu seiner Arbeitsstätte begibt, auch die Aufwendungen für Fahrten zwischen der vom Beschäftigungsort weiter entfernt liegenden Wohnung zur Arbeitsstätte in der Regel Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG sind, wenn die weiter entfernt liegende Wohnung den örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers darstellt, gilt entsprechend auch für alleinstehende Arbeitnehmer. Der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen eines alleinstehenden Arbeitnehmers befindet sich im allgemeinen am Ort der Wohnung, von der aus er sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt. In Ausnahmefällen können auch bei einem Alleinstehenden der Ort, von dem aus er sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt, und der örtliche Mittelpunkt seiner Lebensinteressen auseinanderfallen.
Normenkette
EStG § 9 Abs. 1 Nr. 4
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist unverheiratet. Er ist Eigentümer eines Einfamilienhauses in I, das er an Wochenenden, Feiertagen und während seines Urlaubs bewohnt. Seit Jahren ist er Arbeitnehmer in D und wohnt die Woche über in einer Gemeinschaftsbaracke des Arbeitgebers neben der Arbeitsstätte. In der Baracke stehen dem Kläger allein ein Raum sowie mit anderen Bewohnern zusammen eine Gemeinschaftswaschanlage zur Verfügung.
In der Einkommensteuererklärung 1970 machte der Kläger u. a. Fahrtkosten wegen doppelter Haushaltsführung für 49 Fahrten zwischen D und I über je 188 km Entfernung mit eigenem Pkw sowie Verpflegungsmehraufwendungen als Werbungskosten geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) versagte die Anerkennung der Kosten einer doppelten Haushaltsführung und - im Einspruchsverfahren - auch den Werbungskostenabzug für die Fahrten zwischen der Wohnung in I und der Arbeitsstätte in D.
Die auf die Abziehbarkeit der Fahrtkosten beschränkte Klage hatte zum Teil Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte 1975 S. 14 - EFG 1975, 14 -). Das Finanzgericht (FG) hielt zwar eine doppelte Haushaltsführung nicht für gegeben, weil der Kläger als Lediger nicht an zwei verschiedenen Orten einen Haushalt führen könne. Auch scheitere das Begehren des Klägers daran, daß er in D keinen Haushalt, vielmehr nur eine Schlafstelle habe. Die Fahrten zwischen I und D seien jedoch als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzuerkennen. Der Kläger habe in I eine Wohnung unterhalten und sei 49mal zwischen dieser Wohnung und seiner Arbeitsstätte hin- und hergefahren. Allerdings ordne Abschnitt 25 Abs. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) an, daß bei mehreren Wohnungen eines Arbeitnehmers diejenige für den Abzug der Fahrtkosten maßgebend sei, von der aus er sich regelmäßig zu seiner Arbeitsstätte begebe. Maßgeblich wäre danach die Baracke in D, wenn sie als Wohnung des Klägers anzusehen wäre. Doch könne dies dahingestellt bleiben. Denn Abschnitt 25 Abs. 3 LStR stehe mit dem Gesetz nicht in Einklang. § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG habe die Anerkennung von Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht erkennbar davon abhängig gemacht, daß der Steuerpflichtige nur eine Wohnung besitze oder daß er regelmäßig von einer Wohnung zur Arbeitsstätte fahre.
Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG. Es trägt im wesentlichen vor: Abschnitt 25 Abs. 3 LStR enthalte eine zutreffende Auslegung der vorgenannten Vorschrift. Habe ein Alleinstehender zwei Wohnungen, von denen er zur Arbeitsstätte fahre, so seien dafür in der Regel nicht berufliche, sondern private Gründe maßgebend. Der Gestaltung durch den Arbeitnehmer werde weitestgehend Rechnung getragen, wenn bei der steuerlichen Anerkennung der Kosten auf die Wohnung abgestellt werde, von der aus er sich regelmäßig zur Arbeitsstätte begebe. Das sei im Falle des Klägers die Wohnung in D.
Das FA beantragt, unter Aufhebung des FG-Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Auf Aufforderung des Senats gemäß § 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist der Bundesminister der Finanzen (BdF) dem Verfahren beigetreten. In seiner Stellungnahme geht der BdF davon aus, daß es bei den wöchentlichen Fahrten des Klägers an der nach den Lohnsteuer-Richtlinien und nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) erforderlichen "Regelmäßigkeit" fehle.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist nicht begründet.
Soweit das FG die Fahrten zwischen I und D als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG 1969 anerkannt hat und sie deshalb im Rahmen der im Streitjahr geltenden Entfernungsbeschränkung von 40 km zum Abzug zugelassen hat, ist die Vorentscheidung zutreffend.
Im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob ein Steuerpflichtiger einen doppelten Haushalt führt, hat der Senat entschieden, daß die Wohnung am Beschäftigungsort, die einen doppelten Haushalt ausschließt, nicht in jeder Hinsicht den persönlichen Anforderungen entsprechen muß, die ein Steuerpflichtiger an seine Wohnung stellt (vgl. BFH-Urteil vom 23. Juli 1976 VI R 228/74, BFHE 119, 561, BStBl II 1976, 795). Das heißt, eine zweite Unterkunft muß, um als Wohnung angesehen zu werden, nicht in jeder Beziehung der ersten Wohnung gleichwertig sein (BFH-Urteil vom 15. November 1974 VI R 195/72, BFHE 114, 340, BStBl II 1975, 278). Nach dem vorbezeichneten Urteil VI R 195/72 können Arbeitnehmer, die in Holzbaracken leben, selbst dort ihre "Wohnung" haben. Es kann deshalb auch im Streitfall angenommen werden, daß der Kläger in D eine Wohnung hatte. Auch wenn man, wie es das FG im Ergebnis getan hat, demnach von zwei Wohnungen des Klägers - einer in I und einer weiteren in D - ausgeht, konnte er doch Aufwendungen für Fahrten zwischen der Wohnung in I und der Arbeitsstätte in D als Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG abziehen.
Der Senat hat im Urteil vom heutigen Tage VI R 21/76 entschieden, daß bei einem verheirateten Arbeitnehmer, der mehrere Wohnungen besitzt und der sich zum Teil von der einen und zum Teil von der anderen Wohnung aus zu seiner Arbeitsstätte begibt, auch die Fahrten zwischen der vom Beschäftigungsort weiter entfernt liegenden Wohnung zur Arbeitsstätte Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG sind, falls die weiter entfernt liegende Wohnung den örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers darstellt. Gleiches muß auch für einen ledigen Arbeitnehmer gelten.
Der Senat geht zwar in Übereinstimmung mit seiner ständigen Rechtsprechung zur doppelten Haushaltsführung von Alleinstehenden davon aus, daß ein lediger Arbeitnehmer aus beruflichen Gründen regelmäßig nicht zwei Haushalte unterhält. Im allgemeinen wird ein Alleinstehender, der mehrere Wohnungen besitzt, dort seinen Lebensmittelpunkt haben, wo sich die Wohnung befindet, von der aus er sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt. Auch ein lediger Arbeitnehmer kann aber in Ausnahmefällen seine Wohnung als örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG außerhalb seines Beschäftigungsortes haben, selbst wenn er regelmäßig von einer Bleibe in der Nähe der Arbeitsstätte aus zur Arbeit fährt.
Wie sich aus dem Urteil des Senats VI R 21/76 ergibt, hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, wo sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen eines Steuerpflichtigen befindet. Bei der besonderen tatsächlichen, vom FG festgestellten Gestaltung des vorliegenden Falles hatte der Kläger seinen Mittelpunkt der Lebensinteressen in I.
Die Baracke in D, von der aus der Kläger sich überwiegend zur Arbeitsstelle begab, gehörte seinem Arbeitgeber. Für den Fall der Auflösung des Arbeitsverhältnisses konnte der Kläger also nicht mehr dort wohnen. Der Kläger hatte in der Baracke auch keine eigene Waschstelle. Dagegen besitzt er in I nicht nur eine Wohnung, sondern sogar ein eigenes Haus, in dem sich diese Wohnung befindet. Die Vier-Zimmer-Wohnung ist - anders als die Barackenunterkunft in D - mit Küche und Bad ausgestattet. Der Kläger verbringt dort, von den Abenden an den Arbeitstagen Montag bis Donnerstag abgesehen, seine gesamte Freizeit. Bei dieser Gestaltung kann die Wohnung des Klägers in I als Mittelpunkt seiner Lebensinteressen angesehen werden. Dies um so mehr, als offenbar auch das FA in I sich örtlich für die Einkommensteuerveranlagung des Klägers zuständig hielt. Es mußte also davon ausgegangen sein, daß der Kläger seinen ausschließlichen Wohnsitz in I hat (§ 73 a Abs. 2 der Reichsabgabenordnung - AO -) oder daß er doch - bei der Unterstellung eines mehrfachen Wohnsitzes - sich "vorwiegend" in I aufhielt (§ 73 a Abs. 3 Nr. 1 AO).
Daß der Kläger nur einmal wöchentlich Fahrten zwischen I und D durchführte, steht der Berücksichtigung der Fahrtaufwendungen als Werbungskosten nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG nicht entgegen. Denn Fahrten von der Arbeitsstätte zum Mittelpunkt der Lebensinteressen sind unabhängig davon Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, ob sie nur einmal oder mehrmals wöchentlich durchgeführt werden (Urteil des Senats VI R 21/76).
Nach dem Urteil des Senats vom heutigen Tage VI R 112/75 sind die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte allerdings dann nicht als Werbungskosten abziehbar, wenn sie nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind. Ein solcher Fall liegt hier indessen nicht vor. Der Kläger könnte die Strecke zwischen I und D arbeitstäglich zurücklegen und dennoch am gleichen Tag seiner täglichen Arbeit nachgehen. Der Kostenaufwand für die Strecke von 188 km erscheint dem Senat auch betragsmäßig nicht im Verhältnis zu den Einkünften des Klägers unangemessen. Insbesondere hat der Kläger aber die Fahrtaufwendungen nicht dadurch verursacht, daß er aus privaten Gründen seine Wohnung vom Arbeitsort in D nach I verlegt hätte. Vielmehr ist das Auseinanderfallen des Mittelpunktes der Lebensinteressen des Klägers und seines Arbeitsortes dadurch zustandegekommen, daß er aus beruflichen Gründen, obwohl er in I bereits sein Haus hatte, eine Tätigkeit in D aufnahm. Dementsprechend hat das FG im Ergebnis zu Recht die Aufwendungen des Klägers als Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG behandelt.
Fundstellen
Haufe-Index 73034 |
BStBl II 1979, 224 |
BFHE 1979, 522 |