Leitsatz (amtlich)
Ein "Zweifel" an der Bekanntgabe eines Steuerbescheids "am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post" kann begründet sein, wenn der Buchhalter der Finanzkasse auf der beim FA verbleibenden Bescheidsausfertigung einen Freitag als Tag der Aufgabe zur Post vermerkt, in einem weiteren Arbeitsgang die für den Steuerpflichtigen bestimmte, den Steuerbescheid enthaltende Sendung von der Poststelle des FA freigestempelt und danach die Sendung bei der Post aufgegeben wird.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hatte für die Kalenderjahre 1974 und 1975 keine Einkommensteuererklärungen abgegeben. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) hatte daraufhin die Besteuerungsgrundlagen geschätzt. Die Einkommensteuerbescheide 1974 und 1975 wurden dem Kläger in einer Postsendung mit einfachem Brief bekanntgegeben. Die bei den Steuerakten befindlichen Ausfertigungen der Bescheide tragen den Absendevermerk "zur Post am 28.1.1977". Gegen die Einkommensteuerbescheide 1974 und 1975 legte der Kläger Einspruch ein, der am 4. März 1977 beim FA einging. Mit Einspruchsentscheidung vom 12. Juli 1977 verwarf das FA den Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig.
In seiner Klage begehrte der Kläger, die Steuer unter Änderung der Steuerbescheide und der Einspruchsentscheidung entsprechend den von ihm eingereichten Steuererklärungen festzusetzen. Der die Steuerbescheide enthaltende Brief des FA habe den Poststempel vom 1. Februar 1977 getragen. Allerdings könne er den Briefumschlag nicht vorlegen, da er ihn nicht aufgehoben habe. Seien die Steuerbescheide erst am 1. Februar 1977 mit einfachem Brief abgesandt worden, sei sein Einspruch am 4. März 1977 noch rechtzeitig beim FA eingegangen.
Das Finanzgericht (FG) hob die Einspruchsentscheidung auf.
Das FG führte aus, das FA habe den Einspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen. Der Kläger habe vorgetragen, er könne sich genau daran erinnern, daß der Poststempel auf dem die Steuerbescheide enthaltenden Briefumschlag das Datum vom 1. Februar 1977 getragen habe. Er berufe sich hierfür auf den von ihm auf den Einkommensteuerbescheiden angebrachten Vermerk "Poststempel 1.2.77". Da der auf den Steuerbescheiden vermerkte Absendetag (28. Januar 1977) ein Freitag gewesen sei, bedeute dies, daß der betreffende Brief erst am Dienstag, dem 1. Februar 1977, in der Poststelle des FA durch die Frankiermaschine gelaufen sein müsse. Das sei zwar zweifelhaft, aber doch nicht auszuräumen. Der vom Buchhalter der Finanzkasse am 28. Januar 1977 versandfertig gemachte und in den für die Poststelle bestimmten Ausgangskorb gelegte Brief mit den Steuerbescheiden könne bei dem starken Umlauf von Schriftstücken innerhalb des FA auf dem Wege zur Poststelle zunächst verlorengegangen und vielleicht erst auf einem Umweg am 1. Februar 1977 dorthin gelangt und dann frankiert worden sein. Gegen die Richtigkeit der Angaben des Klägers bestünden zwar gewisse Bedenken. Das reiche aber nicht aus, die Zweifel am Zeitpunkt des Zugangs der Bescheide zu beseitigen, zumal der Tag der Aufgabe zur Post nicht von Bediensteten der Poststelle, sondern vom Buchhalter der Finanzkasse auf den Bescheiden vermerkt worden sei. Dem FA obliege es daher, den Zeitpunkt des Zugangs der Steuerbescheide nachzuweisen. Dieser Nachweis sei nicht geführt, da der Stempel vom 28. Januar 1977 nicht von der Poststelle des FA, sondern schon vorher vom Buchhalter in der Finanzkasse angebracht worden sei. Die Möglichkeit, daß der Brief an einem späteren Tage als dem 28. Januar 1977 zur Poststelle oder zum Postbriefkasten gebracht worden sei, sei nicht ausgeräumt. Daran könnten auch etwa bestehende Dienstanweisungen innerhalb des FA nichts ändern. Selbst wenn der Buchhalter in der Finanzkasse den Datumsstempel erst aufdrucken solle, wenn er die Bescheide abgerechnet habe, und die versandfertige Post so rechtzeitig in den Abholkorb zu legen habe, daß sie noch am selben Tage in der Poststelle frankiert und dann zum Postbriefkasten gebracht werden könne, sei die Gefahr eines anderen Geschehensablaufs in Einzelfällen doch außerordentlich groß. Jedenfalls lasse sich so nicht nachweisen, daß die Bescheide tatsächlich auch am 28. Januar 1977 bei der Post aufgegeben worden seien.
Gegen diese Entscheidung wendet sich das FA mit der vom FG zugelassenen Revision. Das FA rügt Verletzung des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Den vollen Beweis für den Zugang und für den Zeitpunkt des Zugangs schriftlicher Steuerbescheide treffe das FA erst, wenn der Steuerpflichtige die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ernstlich dargetan habe. Die Absendung der vielen Steuerbescheide lasse sich bei einem FA nicht so organisieren, daß eine Person die Bescheide kontrollieren, abrechnen, kuvertieren, freistempeln und zur Post tragen könne. Die Erleichterung der Beweisführung solle gerade den Verhältnissen in Massenverfahren Rechnung tragen. Die Richtigkeit des Absendevermerks könne daher nicht schon wegen der Ausgestaltung des Absendevorgangs so in Frage gestellt werden, daß die schlichte Behauptung, der Briefumschlag weise ein anderes Datum auf, ernstliche Zweifel hinsichtlich des Zeitpunkts des Zugangs begründe. Es habe im Streitfall zumindest eines unzweifelhaften Nachweises, wie z. B. der Vorlage des Briefumschlags oder des Zeugnisses einer unbeteiligten Person, bedurft, um die Richtigkeit des Absendevermerks ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Für die Behauptung des Klägers sei eine Bestätigung auch deswegen notwendig, weil die Wahrscheinlichkeit, daß der Brief, wenn schon nicht am Freitag, dem 28. Januar 1977, so doch am Montag, dem 31. Januar 1977, freigestempelt worden sei, genauso groß sei wie die Wahrscheinlichkeit, daß dies erst am Dienstag, dem 1. Februar 1977, geschehen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das FG hat zu Recht die Einspruchsfrist als gewahrt angesehen.
Die Einspruchsfrist beginnt mit der Bekanntgabe des Steuerbescheids (§ 355 Abs. 1 AO 1977). Nach § 122 Abs. 2 AO 1977 gilt bei Versendung eines Steuerbescheids durch einfachen Brief die Bekanntgabe (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bewirkt, es sei denn, daß das Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang zu beweisen. Diese kann den ihr obliegenden Beweis nach den Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins führen, indem sie die Tatsachen, insbesondere die Aufgabe zur Post und deren Zeitpunkt, beweist, aus denen aufgrund der Lebenserfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit gefolgert werden kann, daß der Adressat den Steuerbescheid innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten hat. Die volle Beweispflicht der Behörde kommt erst dann in Betracht, wenn der Steuerpflichtige die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ernstlich dargetan hat, so daß Zweifel am erwartungsgemäßen Zugang des Bescheids begründet sind (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 4. März 1977 VI R 242/74, BFHE 121, 389, BStBl II 1977, 523, mit Rechtsprechungshinweisen). Für diese Darlegung stehen dem Steuerpflichtigen alle Möglichkeiten offen, den Nichtzugang, den Zugang erst nach Ablauf der Dreitagefrist oder die Unrichtigkeit des vom FA vermerkten Postaufgabedatums geltend zu machen. Die Darlegungen des Steuerpflichtigen müssen aber die Behauptung einer gegenüber dem gesetzlich vermuteten Zugang verspäteten Bekanntgabe als schlüssig erscheinen lassen. Er muß erschöpfende Auskunft über den tatsächlichen Geschehensablauf in dem für ihn zugänglichen Bereich der Postzustellung der betreffenden Sendung geben, indem er z. B. vorhandene Briefumschläge oder selbstgefertigte Eingangsvermerke vorlegt, Zeugen benennt oder sich selbst zur Vernehmung anbietet (BFH-Urteile vom 5. Dezember 1974 V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286; vom 8. Dezember 1976 I R 240/74, BFHE 121, 142, BStBl II 1977, 321). Der durch schlüssige Darlegung des Steuerpflichtigen begründete und nicht widerlegte Zweifel am Zugang zu dem gesetzlich vermuteten Zeitpunkt genügt, um die volle Beweispflicht der Behörde entstehen zu lassen.
Im Streitfall hat der Kläger behauptet, der die Bescheide enthaltende Briefumschlag sei erst am 1. Februar 1977 von der Poststelle des FA mit einem eigenen Freistempler frankiert worden; dieses Datum habe er auf den Bescheiden handschriftlich vermerkt; Poststempel und Postaufgabevermerk der Finanzkasse (28. Januar 1977) wichen um mehrere Tage voneinander ab. Dieses Vorbringen war insofern erheblich, als bei einem Widerspruch zwischen dem Absendevermerk auf dem bei den Steuerakten verbliebenen Bescheid und dem Poststempel auf dem Briefumschlag dem aus dem Poststempel ersichtlichen Datum der Vorzug zu geben ist (vgl. BFHE 121, 389, BStBl II 1977, 523, mit weiteren Nachweisen). Das FG hat zwar Bedenken gegen die Richtigkeit des Vorbringens des Klägers geäußert, zumal der Kläger im Einspruchsverfahren auf die Rückfrage des FA über den Zugang der Steuerbescheide keine Antwort gegeben und erst im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens als Datum des Poststempels den 1. Februar 1977 angegeben hat. Es vermochte aber in Anbetracht der Abwicklung des Postausgangs beim FA aus seinen Bedenken nicht den Schluß zu ziehen, daß das Vorbringen des Klägers der Wahrheit widerspreche. Das ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Bringt wie im Streitfall der Buchhalter der Finanzkasse den Postabsendevermerk auf dem Bescheid an, ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß zu versendende Bescheidsausfertigungen auf dem Weg zur Poststelle irgendwo liegenbleiben und einen vom Absendevermerk des Buchhalters abweichenden Poststempel erhalten. Benutzt die Poststelle des FA zur Frankierung einen Freistempler, ist ebenfalls nicht immer die Gewähr gegeben, daß alle abgestempelten Briefe noch am selben Tage beim örtlichen Postamt aufgegeben werden. Im Streitfall kommt noch hinzu, daß der vom Buchhalter vermerkte Absendetag ein Freitag, somit der letzte Arbeitstag einer Woche mit frühzeitigerem Dienstschluß war. Dadurch können sich ebenfalls Verzögerungen ergeben. Es ist daher nicht sicher, daß ein Bescheid, auf dem der Buchhalter als Tag der Aufgabe zur Post einen Freitag vermerkt hat, bei einer Verzögerung der Übermittlung innerhalb des FA der den Bescheid enthaltende Brief stets noch am selben Tage oder spätestens am nächsten Montag freigestempelt und bei der Post aufgegeben wird.
Aus dem Vorbringen des Klägers und dem Vortrag des Vertreters des FA in der mündlichen Verhandlung vor dem FG über die Absendung von Steuerbescheiden bleibt eine Ungewißheit über den wirklichen Tag der Absendung bestehen. Das begründet den Zweifel i. S. des § 122 Abs. 2 AO 1977 ungeachtet der Frage, ob dem FG die Möglichkeit zur Aufklärung des unbewiesenen Vorbringens des Klägers gegeben gewesen wäre. Dieser Zweifel kann nicht mit dem Hinweis ausgeräumt werden, bei der Vielzahl der abzusendenden Bescheide lasse sich kein anderes Absendeverfahren organisieren und durch interne Verwaltungsanweisungen sei gewährleistet, daß der auf dem Bescheid vermerkte Absendetag mit dem Tag der Aufgabe bei der Postanstalt übereinstimme. Denn die Nachweispflicht i. S. des § 122 Abs. 2 AO 1977 betrifft den Zugang des schriftlichen Verwaltungsaktes im jeweiligen Einzelfall.
Für den Streitfall ergibt sich somit, daß der Tag der Aufgabe zur Post und damit der Zeitpunkt der Bekanntgabe (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) nicht nachgewiesen werden können. Der Beginn der einen Monat betragenden Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) steht demzufolge nicht fest. Der Einspruch des Klägers ist daher als zulässig anzusehen.
Das FG hat nach alledem zu Recht die den Einspruch des Klägers als unzulässig verwerfende Einspruchsentscheidung des FA aufgehoben. Das FG konnte sich bei seiner Entscheidung auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beschränken, damit dieses Gelegenheit hat, über den Einspruch des Klägers nunmehr sachlich zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 74145 |
BStBl II 1982, 102 |
BFHE 1981, 213 |