Entscheidungsstichwort (Thema)
Begründung eines Urteils)
Leitsatz (amtlich)
Ein Urteil eines FG ist nicht mit Gründen versehen, wenn es an Stelle von Entscheidungsgründen auf eine nicht zwischen den Beteiligten ergangene andere Entscheidung des FG verweist und hierfür nur die Fundstelle in einer Fachzeitschrift angibt, ohne diese Entscheidung als Anlage dem Urteil beizufügen.
Orientierungssatz
In den Entscheidungsgründen eines Urteils sind die wesentlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren, den Beteiligten mitzuteilen (Ausführungen mit Hinweisen auf die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Verweisung auf die Entscheidungsgründe eines anderen Urteils, insbesondere bei Verweisungen auf Entscheidungen, die zwischen den Beteiligten ergangen sind, und bei begründungsergänzender Bezugnahme).
Normenkette
FGO § 105 Abs. 2 Nr. 5, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) begehrte vor dem Finanzgericht (FG) den Abzug von Vorsteuerbeträgen aus dem Kauf eines Grundstücks, dessen Gebäude er an seine Ehefrau vermietet hat. In seiner Aufklärungsanordnung vom 21.August 1989 wies das FG die Beteiligten darauf hin, daß nach "der vom Senat in seinem Urteil vom 16.2.1989 14 K 14195/87 (UVR 1989, 213) entschiedenen Rechtsfrage darüber zu entscheiden sei, ob das Pachtverhältnis zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau auf klaren Vereinbarungen beruht und die Vereinbarungen entsprechend durchgeführt wurden". In der mündlichen Verhandlung vor dem FG berief sich der Kläger lt. Niederschrift auf das vorbezeichnete Urteil. Das FG gab der Klage des Klägers statt. In der von den mitwirkenden Berufsrichtern unterschriebenen Urschrift des Urteils heißt es nach Darstellung des Tatbestands und vor der Kostenentscheidung:
"Die Klage ist begründet.
Der Kl hat gegenüber K steuerpflichtige Verpachtungsleistungen erbracht,
da er gemäß § 9 UStG 1980 wirksam auf die Steuerbefreiung des § 4 Nr.12 a
UStG 1980 verzichtet hat. Er kann demgemäß auch die ihm anläßlich des
Kaufs der Massagepraxis in Rechnung gestellte USt nach § 15 Abs.1 Nr.1
UStG 1980 als Vorsteuer abziehen.
1. Das Pachtverhältnis wurde vertragsgemäß durchgeführt (vgl.
Bundesfinanzhof -BFH-Urteil vom 26.November 1987 V R 29/83, BStBl II 1988,
387). Dies ist unter den Beteiligten nunmehr unstreitig.
2. Der Pachtvertrag vom 4.Mai 1984 stellt auch keine mißbräuchliche
Rechtsgestaltung im Sinne des § 42 AO dar.
Zur Begründung verweist der Senat auf Nr.2 Buchstaben a) und b) der
Urteilsgründe seiner Entscheidung vom 16.Februar 1989 14 K 14195/87
(Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht 1989, 213)."
In der dem Bundesfinanzhof (BFH) vom FG übersandten Abschrift des Urteils
fehlt die Nummer 2 und der erste Satz des mit dieser Nummer beginnenden
Abschnitts.
Das Urteil wurde lt. Empfangsbekenntnis dem Beklagten und Revisionskläger
(Finanzamt --FA--) am 16.Juli 1990 zugestellt. Ausweislich der
Durchschrift eines Schreibens des FG an das FA vom 17.Juli 1990 hat das FG
auf einen Anruf des FA vom gleichen Tage diesem das Urteil 14 K 14195/87
auszugsweise ("Nummer 2 Buchstaben a) und b) der Gründe") in Kopie
übersandt.
Das FA hat Revision mit der Begründung eingelegt, die angegriffene Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen. Das in Bezug genommene Urteil sei ihm --dem FA-- zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur im Tenor bekannt gewesen (veröffentlicht in den Eilnachrichten einer Fachzeitschrift). Die Fachzeitschrift, auf die das FG verwiesen habe, werde vom FA nicht bezogen.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben.
Der Kläger beantragt, die Revision zu verwerfen bzw. zurückzuweisen.
Der Kläger ist der Auffassung, das FA hätte sich bereits vor der mündlichen Verhandlung den Text des in Bezug genommenen Urteils verschaffen können und müssen. In Anbetracht der technischen Gegebenheiten (Steuerrechtsdatenbank) sei dies dem FA möglich und zumutbar gewesen. In der mündlichen Verhandlung habe der Vertreter des FA auf Befragen des Vorsitzenden Richters zu erkennen gegeben, daß ihm das in Bezug genommene Urteil hinreichend bekannt und er mit der Inbezugnahme des Urteils einverstanden sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung.
1. Die Revision ist gemäß § 116 Abs.1 Nr.5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne Zulassung zulässig. Das FA hat die Rüge, das Urteil des FG sei nicht mit Gründen versehen, formgerecht erhoben (§ 120 Abs.2 Satz 2 FGO). Die Tatsachen, die den Mangel ergeben sollen, sind bezeichnet. Das Vorbringen des FA ist schlüssig (vgl. dazu die folgenden Ausführungen).
2. Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des FG ist nicht mit Gründen versehen.
a) Gemäß § 105 Abs.2 Nr.5 FGO muß ein Urteil Entscheidungsgründe enthalten. Darin sind die wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren, den Beteiligten mitzuteilen (Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 105 FGO, Tz.7; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 105 Rz.23 m.w.N.). Ein Urteil enthält daher Entscheidungsgründe, wenn die Beteiligten anhand des Urteilstextes die Möglichkeit haben, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Dabei müssen die Entscheidungsgründe den Beteiligten in einer Weise mitgeteilt werden, die gewährleistet, daß ihnen für die Prüfung die volle Rechtsmittelfrist zur Verfügung steht (vgl. BFH-Urteil vom 31.Juli 1990 VII R 60/89, BFHE 162, 1, BStBl II 1990, 1071, Beschluß des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 21.Dezember 1962 I ZB 27/62, BGHZ 39, 333, 337, und Urteil vom 27.Februar 1991 XII ZR 39/90, Wertpapier-Mitteilungen --WM-- 1991, 1005).
b) Die Verweisung auf die Entscheidungsgründe eines anderen Urteils ist unschädlich, wenn die Beteiligten von diesen Entscheidungsgründen hinreichend Kenntnis nehmen können.
aa) Diese Voraussetzung hat der BFH bei Verweisung auf Entscheidungen, die zwischen den Beteiligten ergangen sind, bejaht, wenn die in Bezug genommene Entscheidung bei Zustellung des Urteils bereits zugestellt war (zuletzt Beschluß vom 26.Juni 1990 VII R 124/89, BFH/NV 1991, 463) oder zeitgleich mit dem Urteil zugestellt worden ist (BFH- Beschluß vom 16.Oktober 1986 II R 233/82, BFH/NV 1988, 425) und verneint, wenn die in Bezug genommene Entscheidung erst nach Beginn der Revisionsfrist zugestellt worden ist (BFH in BFHE 162, 1, BStBl II 1990, 1071; BFH-Urteil vom 28.März 1984 I R 117/83, BFHE 141, 206, BStBl II 1984, 666).
bb) Die Verweisung auf eine Entscheidung, die nicht zwischen den Beteiligten ergangen ist, hat der BFH im Urteil vom 10.April 1984 VIII R 229/83 (BFHE 141, 113, BStBl II 1984, 591) im allgemeinen für unstatthaft, in den Urteilen vom 8.März 1988 VII R 53/86 (BFH/NV 1989, 31), und vom 30.September 1988 III R 27/87 (BFH/NV 1989, 511) dann für schädlich erachtet, wenn die in Bezug genommene Entscheidung nicht als Anlage beigefügt war. Der BFH hat jedoch die Bezugnahme auf "veröffentlichte Urteile" (Urteil vom 3.März 1970 VII R 43/68, BFHE 98, 525, BStBl II 1970, 494) bzw. auf Entscheidungen, die in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) veröffentlicht worden sind (Urteil vom 17.Oktober 1990 I R 177/87, BFH/NV 1992, 174) als ausreichend angesehen, auch wenn sie nicht dem Urteil als Anlage beigefügt waren.
Nach der Rechtsprechung des BGH (zu § 551 Nr.7 der Zivilprozeßordnung --ZPO--) reicht es in den Fällen der Verweisung auf eine nicht zwischen den Parteien ergangene Entscheidung aus, wenn diese "Gegenstand der mündlichen Verhandlung war" (Urteile in BGHZ 39, 333, 337; Beschluß vom 2.Oktober 1970 I ZB 9/69, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1971, 39; Urteil vom 4.Juli 1978 VI ZR 104/77, Versicherungsrecht --VersR-- 1978, 961; Urteil in WM 1991, 1005).
cc) Im Streitfall hat das FG eine nicht zwischen den Beteiligten ergangene Entscheidung in Bezug genommen, die in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden ist, ohne eine Ablichtung der Entscheidung der Ausfertigung des Urteils als Anlage beizufügen. In diesen Fällen der Verweisung auf veröffentlichte Entscheidungen ist danach zu differenzieren, ob die Bezugnahme lediglich der weiteren eingehenden Darlegung der Entscheidungsgründe dient (begründungsergänzende Bezugnahme) oder ob sie an die Stelle der Entscheidungsgründe tritt (begründungsersetzende Bezugnahme). Die ergänzende Bezugnahme ist unbedenklich, weil die wesentlichen Erwägungen des Gerichts im Urteil selbst enthalten sind. Ersetzt die Verweisung jedoch die Darlegung der Entscheidungsgründe im Urteil, muß gewährleistet sein, daß der beschwerte Beteiligte die volle Revisionsfrist zur Prüfung zur Verfügung hat. Dies ist nach Auffassung des Senats nicht der Fall, wenn ohne Beifügung der in Bezug genommenen Entscheidung auf die Fundstelle in einer Fachzeitschrift verwiesen wird. Es kann gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, daß den Beteiligten eines finanzgerichtlichen Rechtsstreits Fachzeitschriften im Original oder mit Hilfe von Datenrechtsbanken zur Verfügung stehen. Die Beteiligten würden demnach prozessuale Nachteile durch Zeitverlust erleiden, wenn sie sich erst Zugang zu dem Original oder einer Ablichtung der Fachzeitschrift verschaffen müßten. Allerdings ist das Bemühen des FG, überflüssigen Schreibaufwand zu vermeiden, billigenswert. Unter Berücksichtigung auch der Interessen der Beteiligten ist es dem FG aber zumutbar, im Falle begründungsersetzender Bezugnahme eine Ablichtung der veröffentlichten Entscheidung dem Urteil als Anlage beizufügen.
c) Da im Streitfall die Darstellung der Entscheidungsgründe durch die Verweisung auf eine nicht zwischen den Beteiligten ergangene Entscheidung unter Angabe der Fundstelle in einer Fachzeitschrift (und ohne Beifügung als Anlage zum Urteil) ersetzt worden ist, war das Urteil des FG nicht mit Gründen versehen. Dabei kann der Senat offenlassen, ob die dem FA zugestellte Ausfertigung --ebenso wie die dem BFH übersandte Abschrift-- eine sinnentstellende Auslassung enthält, die das Urteil unverständlich machte.
Es ist ohne Bedeutung, daß das FG in seiner Aufklärungsanordnung das FA auf die in Bezug genommene Entscheidung und deren Fundstelle hingewiesen hat. Das FA war zum einen nicht gehalten, sich den Text der Entscheidung zu verschaffen. Zum anderen konnte das FA dem Hinweis auch nicht entnehmen, das Gericht werde die Darstellung der Entscheidungsgründe durch Inbezugnahme ersetzen. Bereits aus diesen Gründen konnte der Hinweis in der Aufklärungsanordnung für sich allein genommen nicht dazu führen, daß die Voraussetzungen des § 105 Abs.2 Nr.5 FGO erfüllt sind.
d) Der Senat läßt dahinstehen, ob er der Auffassung des BGH (siehe oben bb) folgen könnte. Denn im Streitfall ist der Niederschrift über die mündliche Verhandlung nur zu entnehmen, daß der Kläger sich auf die vom FG in Bezug genommene Entscheidung "berufen" hat. Dadurch wurde diese nicht zum "Gegenstand der mündlichen Verhandlung".
Der Senat weicht nicht von Entscheidungen des BFH (siehe oben bb) ab. Das Urteil in BFHE 141, 113, BStBl II 1984, 591 bringt nicht zum Ausdruck, daß es auch die Verweisung auf veröffentlichte Entscheidungen für unstatthaft hält. Dem Urteil in BFHE 98, 525, BStBl II 1970, 494 kann nicht entnommen werden, daß es zum einen auch die begründungsersetzende Verweisung für zulässig hält und zum anderen auch die Veröffentlichung in Fachzeitschriften mit einbezieht.
Der Senat weicht auch nicht von den tragenden Gründen des Urteils des I.Senats des BFH vom 17.Oktober 1990 I R 177/87 ab, das auszugsweise in BFH/NV 1992, 174 abgedruckt ist. Dieser Entscheidung lag ein Urteil des FG zugrunde, welches die Begründung durch Bezugnahme auf eine in den EFG veröffentlichte Entscheidung ersetzte, jedoch lt. Urteilstext einen Abdruck aus den EFG als Anlage beifügte. Die Klägerin hatte geltend gemacht, die Ausfertigung des Urteils sei ihr ohne Anlage zugestellt worden. Es war der Klägerin demnach anhand des Urteilstextes erkennbar, daß das FG versehentlich die Anlage nicht beigefügt hatte. Für diesen Fall schließt sich der erkennende Senat der Auffassung des I.Senats an, daß der Klägerin zumutbar war, beim FG die fehlende Anlage anzufordern, und daß die Entscheidung des FG mit Rücksicht darauf mit Gründen versehen war.
3. Das Fehlen von Gründen ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 119 Nr.6 FGO), aus dem ohne weiteres die Verletzung von Bundesrecht folgt. Daher ist die Zurückverweisung an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO) ohne Sachentscheidung durch den erkennenden Senat geboten.
Fundstellen
Haufe-Index 64234 |
BFH/NV 1992, 75 |
BStBl II 1992, 1040 |
BFHE 168, 306 |
BFHE 1993, 306 |
BB 1992, 1846 (L) |
DB 1992, 2072 (L) |
DStR 1992, 1651 (KT) |
HFR 1992, 715 (LT) |
StE 1992, 538 (K) |