Leitsatz (amtlich)
1. Ein Grunderwerbsteuerbescheid ist nicht deshalb nichtig, weil die Berechnung eines Zuschlages auf der ungültig gewordenen StVVO vom 14. September 1944 beruht.
2. Die Verwirkung der Rechtsbehelfsbefugnis trat auch nach der AO a. F. grundsätzlich nach Ablauf eines Jahres ein, wenn die Einspruchsfrist wegen unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung nicht in Lauf gesetzt wurde.
Normenkette
StVVO §§ 14-15, 21; AO a.F. § 246 Abs. 3
Tatbestand
Die Klägerin kaufte am 17. November 1955 in Hamburg ein Grundstück. Durch Grunderwerbsteuerbescheid vom 27. Dezember 1955 hat das Finanzamt (FA) nach §§ 14, 15 der Steuervereinfachungs-Verordnung vom 14. September 1944 – StVVO – (RGBl I 1944, 202, RStBl 1944, 577) neben der „Hauptsteuer” von 3 v. H. (§ 13 Abs. 1 GrEStG) und einem „Hamburger Zuschlag” von 2 v. H. der Besteuerungsgrundlage auch einen Zuschlag an Stelle der Wertzuwachssteuer in Höhe von 2 v. H. festgesetzt. Der Steuerbescheid wurde als einfacher Brief am 27. Dezember 1955 an den bevollmächtigten Makler zur Post gegeben; die festgesetzte Steuer wurde noch am selben Tage gezahlt.
Der zweite Absatz der Rechtsmittelbelehrung zum Grunderwerbsteuer-Bescheid lautete:
„Die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels beträgt einen Monat, sie beginnt mit dem Ablauf des Tages, an dem der Bescheid bekanntgegeben worden ist. Bei Zusendung durch einfachen Brief gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bewirkt.”
Am 18. Oktober 1962 legte die Klägerin gegen den Steuerbescheid hinsichtlich des an Stelle der Wertzuwachssteuer erhobenen Zuschlags Einspruch ein. Sie machte geltend, die Rechtsmittelbelehrung sei fehlerhaft gewesen und habe deshalb keine Rechtsmittelfrist in Lauf gesetzt.
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig.
Das Finanzgericht (FG) hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Rechtsmittelbelehrung sei mangels Hinweises auf den Vorbehalt in § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) unvollständig gewesen und eine Rechtsmittelfrist deshalb nicht in Lauf gesetzt worden. Die Klägerin habe die Rechtsmittelbefugnis jedoch infolge ihrer langen Untätigkeit, verbunden mit der Tatsache, daß sie von einer sachkundigen Maklerfirma vertreten worden sei und den Zuschlag anstandslos bezahlt habe, verwirkt. Nachsicht in entsprechender Anwendung des § 86 AO könne nicht gewährt werden. Der Steuerbescheid sei nicht nichtig. Die Nichtigerklärung eines Gesetzes sei nicht als Wegfall eines Merkmals im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG anzusehen; eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO komme nicht in Betracht.
Mit der Revision macht die Klägerin Nichtigkeit des Steuerbescheides geltend; die Rechtsmittelbefugnis sei nicht verwirkt, da sie nicht zu erkennen gegeben habe, daß sie ihr Klagerecht nicht ausüben werde, und das FA gewußt habe, daß sein Verhalten fehlerhaft gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Der angefochtene Steuerbescheid ist nicht nichtig. Er ist bezüglich des allein angefochtenen Zuschlags an Stelle der Wertzuwachssteuer auf §§ 14, 15 StVVO vom 14. September 1944 (RGBl I 1944, 202) gestützt; diese Vorschrift galt nach § 21 Abs. 4 StVVO nur „während der weiteren Dauer des Krieges”, also nicht mehr nach dem 5. Mai 1955, d. h. dein Ablauf des Tages, an dem die Pariser Verträge ratifiziert wurden (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – II 135/56 U vom 20. März 1957, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 64 S. 575 – BFH 64, 575 –, BStBl III 1957, 216; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – 2 BvL 15/59 vom 14. November 1961, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 13 S. 206 – BVerfGE 13, 206 –). Eine gesetzliche Grundlage bestand deshalb am 27. Dezember 1955 nicht mehr. Entgegen der Auffassung der Klägerin führt aber die Gesetzlosigkeit eines einzelnen Elements der Steuerfestsetzung für sich allein nicht zur Nichtigkeit des Steuerbescheids; sie wiegt nicht schwerer als die Gesetzesverletzung durch fehlerhafte Anwendung eines bestehenden Gesetzes. In beiden Fällen wird die ausgesprochene Rechtsfolge durch das Gesetz nicht gedeckt. Beide Verwaltungsakte können deshalb angefochten werden, weil sie im Gesetz keine Stütze finden. Ohne Anfechtung sind sie jedoch grundsätzlich wirksam (vgl. § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht – BVerfGG –; Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bd. 1 S. 67/69 – BVerwGE, 1, 67/69 –; 19, 284/287; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 9. Aufl. S. 236/237; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 5. Aufl., § 42 Anhang Tz. 12 mit weiteren Nachweisen).
Ein Steuerverwaltungsakt ist deshalb nur dann nichtig, wenn er besonders schwerwiegende formelle oder sachliche Mängel aufweist (vgl. BFH-Urteile III 77/62 vom 19. Dezember 1963, Steuerrechtsprechung in Karteiform – StRK –, Reichsabgabenordnung, § 91, Rechtsspruch 19; III 93/64 U vom 12. März 1965, BFH 82, 567, BStBl III 1965, 452; III R 108/69 vom 22. Januar 1971, BFH 101, 277, BStBl II 1971, 295; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl. § 93 Anm. 1 ff.; Mattern/Meßmer, Reichsabgabenordnung, Kommentar 1964, Tzn. 442 ff.; Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 2. bis 4. Aufl., § 91 Anm. 20 ff.; Eyermann/Fröhler, a. a. O., § 42 Anhang Tzn. 3 bis 10 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Der angefochtene Steuerbescheid leidet jedoch nicht an solchen Mängeln, die über das Ausmaß bloßer Fehlerhaftigkeit deutlich hinausragen. Das träfe zwar im Falle absoluter sachlicher Unzuständigkeit oder bei einer solchen Anforderung von Leistungen zu, welche der Rechtsordnung schlechthin unbekannt ist. Darum geht es hier aber nicht. Vielmehr ist in dem angefochtenen Bescheid die Grunderwerbsteuer festgesetzt, also eine existente, gesetzlich normierte Steuer. Dieser Bescheid ist von der für die Festsetzung der Grunderwerbsteuer zuständigen Stelle ergangen. Der gerügte Rechtsfehler betrifft nur die Höhe der festgesetzten Steuer. Denn der Zuschlag an Stelle der Wertzuwachssteuer ist Teil der Grunderwerbsteuer (§ 15 StVVO) im weiteren Sinne und keine von dieser unabhängige Steuer.
Der angefochtene Steuerbescheid war demzufolge nicht im ganzen gesetzlos, somit auch nicht im ganzen nichtig. Auch die Klägerin macht Nichtigkeit nur hinsichtlich des Teils der Steuerfestsetzung geltend, der auf § 15 StVVO beruht. Ob ein Steuerbescheid, der nicht mehrere Besteuerungsvorgänge zusammenfaßt, sondern aus einem einzigen Vorgang eine Steuer festsetzt, zu einem Teil nichtig sein kann, ist indessen zumindest problematisch (vgl. § 213 Abs. 1 AO). Die Frage braucht jedoch auch unter dem Gesichtspunkt, daß sich die behauptete Nichtigkeit auf einen genau abgegrenzten Bruchteil der Steuerfestsetzung – den Zuschlag gemäß § 15 StVVO – bezieht, nicht vertieft zu werden. Denn das Außerkrafttreten des § 15 StVVO war beim Ergehen des Steuerbescheids noch nicht „offenkundig”.
Die Geltung der StVVO war zwar zeitlich begrenzt. Da das Außerkrafttreten nicht auf einen bestimmten Tag festgelegt war, konnte es aber nur durch Beantwortung einer Rechtsfrage ermittelt werden. Über diese waren die Meinungen geteilt (vgl. BFH-Urteile III 230/51 S vom 28. Februar 1952, BFH 56, 207, BStBl III 1952, 84; I 19/53 S vom 7. Dezember 1954, BFH 60, 116, BStBl III 1955, 45; 1166/53 U vom 2. Februar 1954, BFH 58, 534, BStBl III 1954, 114; II 243/52 S vom 10. Dezember 1952, BFH 57, 153, BStBl III 1953, 60). Der BFH hatte in seinem Urteil II 243/52 S vom 10. Dezember 1952 (a.a.O.) daran festgehalten, daß § 15 StVVO fortgelte, obschon bei anderen Bestimmungen der StVVO die Fortgeltung anders beurteilt werden könne. Das FG Hamburg bejahte die Anwendbarkeit des § 15 StVVO noch für September 1955. Unter diesen Umständen war das Außerkrafttreten des § 15 StVVO zwar erkennbar, aber doch nicht offenkundig, auch wenn man berücksichtigt, daß er in anderen Bundesländern nach Änderung des GrEStG bereits abgelöst war und in Hamburg ähnliche Pläne seit 1953 im Gespräch waren (vgl. BVerfGE 13, 206, 213, a. a. O.).
Der Steuerbescheid vom 27. Dezember 1955 war somit nicht nichtig, sondern nur anfechtbar. Da der Steuerbescheid nicht auf dem Gesetz zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes und zur Aufhebung von Vorschriften über die Wertzuwachssteuer vom 1. April 1958 (GVBl I 1958, 93) beruht, können die mit der Rückwirkung dieses Gesetzes zusammenhängenden Fragen nicht für die Nichtigkeit, – sondern allenfalls für die nachträgliche Wirksamkeit des fraglichen Steuerbescheides und damit für die Begründetheit des Einspruchs von Bedeutung sein. Die Begründetheit ist jedoch nicht zu prüfen. Denn der Einspruch war unzulässig, da das Anfechtungsrecht im Zeitpunkt der Einspruchseinlegung bereits verwirkt war.
Die Einspruchsfrist wurde allerdings nicht in Lauf gesetzt, weil die Rechtsbehelfsbelehrung im Steuerbescheid unvollständig war (§ 246 Abs. 3 AO a. F.). Sie enthielt keinen Hinweis auf den Vorbehalt des § 17 Abs. 2 VwZG, wonach der dritte Tag nach der Aufgabe zur Post nicht als Tag der Bekanntgabe gilt, „wenn das zuzusendende Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist”. Ohne diesen Vorbehalt war die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig, weil sie für den Fristbeginn nur auf die Aufgabe zur Post und nicht auch auf den möglichen verspäteten Zugang abstellte. § 246 Abs. 3 AO a. F. setzt nicht voraus, daß der Betroffene im Einzelfall durch die falsche Belehrung abgehalten wurde, den Rechtsbehelf rechtzeitig einzulegen (vgl. BFH-Urteil VI 94/62 S vom 22. Januar 1964, BFH 78, 528, BStBl III 1964, 201).
Die Einspruchsbefugnis ist jedoch verwirkt. Zwar war in der AO a. F. eine zeitliche Beschränkung der Rechtsbehelfsbefugnis für den Fall, daß eine Rechtsbehelfsfrist nicht in Lauf gesetzt wurde (§ 246 Abs. 3 AO), nicht normiert. Der Rechtsgedanke der Verwirkung gilt aber auch im Prozeßrecht (vgl. Forsthoff, a. a. O. S. 165; Eyermann/Fröhler, a. a. O., § 58 Tz. 13; Staudinger/Weber, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 11. Aufl., Rdnr. A 58 ff. zu § 242; Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 1 zu § 242 BGB „Prozeßverwirkung”, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 43 S. 289/292 – BGHZ 43, 289/292 –; BVerwGE 7, 54/56; BFH-Urteile VI 94/62 S vom 22. Januar 1964, BFH 78, 528, BStBl III 1964, 201, und I 181/64 vom 9. Februar 1966, BFH 85, 337, BStBl III 1966, 330 jeweils mit weiteren Nachweisen). Die Rechtsbehelfsfristen sind kurz bemessene Ausschlußfristen; das Verfahrensrecht ist von dem Gedanken beherrscht, möglichst schnell klare Verhältnisse zu schaffen. Mit diesem Rechtsgedanken wäre es unvereinbar, in dem Fall des § 246 Abs. 3 AO a. F. eine unbefristete Anfechtung zuzulassen. In der Rechtsprechung ist deshalb regelmäßig als Zeitpunkt der prozessualen Verwirkung der Ablauf eines Jahres angenommen worden (vgl. BFH-Urteile IV 155/56 U vom 7. November 1957 BFH 66, 118, BStBl III 1958, 46, und I 171/57 U vom 1. April 1958, BFH 67, 35, BStBl III 1958, 285). Dieser Befristung ist zu folgen. Denn der Gesetzgeber hatte bereits für ähnlich gelagerte Fälle in § 58 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), § 87 Abs. 5 AO, § 21 Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGG) die Verwirkung in diesem Sinne geregelt (vgl. Forsthoff, a. a. O., S. 166/167; BFH a. a. O., 78, 528 und 85, 337), und nunmehr in § 237 Abs. 2 AO n. F. zu erkennen gegeben, daß eine entsprechende Anwendung dieser Vorschriften seinem Willen zumindest nicht zuwiderläuft (vgl. auch § 56 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Fundstellen
Haufe-Index 514532 |
BFHE 1972, 134 |