Leitsatz (amtlich)
1. Muß für die Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts weniger aufgewendet werden, als durch das Ausscheiden des bisherigen Wirtschaftsguts erzielt wurde, so können stille Reserven, die in dem ausgeschiedenen Wirtschaftsgut enthalten waren, nur anteilig auf das Ersatzwirtschaftsgut übertragen werden. Eine Fortführung des nicht verbrauchten Teils der Rücklage kommt im Rahmen der in Abschn. 35 Abs. 6 EStR genannten Fristen nur dann in Betracht, wenn es sich bei der Ersatzbeschaffung um einen Teilersatz gehandelt hat und eine ergänzende Ersatzbeschaffung ernstlich geplant ist.
2. Zur Anwendung von Treu und Glauben bei Änderung der Einkommensteuer-Richtlinien.
Normenkette
EStG §§ 4-5; EStR Abschn. 35
Tatbestand
Die Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige), eine Gastwirtin, verkaufte im November 1957, um einem Enteignungsverfahren zu entgehen, ihr Betriebsgrundstück mit Gebäuden und Einbauten. Dem Erlös in Höhe von 173 000 DM stand ein Buchwert von 34 900 DM gegenüber, so daß stille Reserven in Höhe von 138 100 DM aufgedeckt wurden. Durch Vertrag vom 7. Februar 1958 kaufte die Steuerpflichtige ein mit Wohn- und Geschäftshaus bebautes Grundstück für 136 332 DM.
Die Steuerpflichtige vertrat gegenüber dem Revisionskläger (FA) die Auffassung, daß sie die im Jahre 1957 gebildete Rücklage für Ersatzbeschaffung im Streitjahr 1958 in Höhe der stillen Reserven des veräußerten Grundstücks voll auf das neu erworbene Grundstück übertragen könne, so daß nur mehr (138 100 ./. 136 332 =) 1 768 DM gewinnerhöhend aufzulösen seien.
Das FA ließ demgegenüber die Übertragung der stillen Reserven nur in Höhe von 109 100 DM zu. Es begründete seine Auffassung damit, daß Abschn. 35 Abs. 6 der (insoweit neu gefaßten) EStR 1958 nur die anteilige Übertragung der stillen Reserven gestatte, sofern nicht die gesamte Entschädigung zur Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts verwendet werde. Die Anschaffungskosten des erworbenen Grundstücks stellten rd. 79 v. H. des Erlöses des veräußerten Grundstücks dar. Die Übertragung der stillen Reserven sei daher nur in Höhe von 79 v. H. des Veräußerungsgewinns von 138 100 DM = 109 100 DM zulässig. Der Restbetrag in Höhe von 29 000 DM sei hingegen gewinnerhöhend aufzulösen.
Der Einspruch der Steuerpflichtigen (Anrufung des Steuerauschusses) gegen den Einkommensteuerbescheid 1958 hatte in vollem Umfang Erfolg. Die Berufung des Vorstehers des FA gegen die Einspruchsentscheidung des Steuerausschusses wurde zurückgewiesen.
Mit der gemäß § 184 FGO als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde rügt das FA unrichtige Rechtsanwendung. Es weist insbesondere darauf hin, daß aus der erst spät erfolgten Änderung der EStR nicht der Schluß gezogen werden dürfe, daß die neue Rechtsprechung des BFH einstweilen noch nicht habe angewendet werden sollen. Der Anwendung einer geänderten Rechtsprechung könne jedenfalls so lange nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen, als im Hinblick auf diese neue Rechtsprechung keine auf § 131 AO gestützte Verwaltungsanweisung ergangen ist, auf die die Steuerpflichtige hätte vertrauen können. Das Urteil des BFH I 315/56 U (BFH 65, 402, BStBl III 1957, 386) habe der Steuerpflichtigen seit seiner Veröffentlichung am 29. Oktober 1957 bekannt sein können und müssen. Sie habe daher mit einer Änderung der EStR bereits für den Veranlagungszeitraum 1958 rechnen müssen.
Das FA beantragt die Aufhebung des FG-Urteils.
Die Steuerpflichtige beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie hebt insbesondere nochmals hervor, daß es ein nobile officium der Verwaltung gewesen wäre, eine so schwerwiegende Verböserung der Rechtslage zu einer Zeit bekanntzugeben, zu der sie - die Steuerpflichtige - ihre Dispositionen noch entsprechend der veränderten Rechtslage hätte treffen können.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur anderweiten Festsetzung der Einkommensteuer.
1. Scheidet ein Wirtschaftsgut zur Vermeidung eines behördlichen Eingriffs gegen Entschädigung aus dem Betriebsvermögen aus, so kann - wenn ein Ersatzwirtschaftsgut beschafft wird - eine Gewinnrealisierung dadurch vermieden werden, daß die in dem ausgeschiedenen Wirtschaftsgut enthaltenen stillen Reserven auf das Ersatzwirtschaftsgut übertragen werden (vgl. Urteile des RFH VI A 514/30 vom 2. April 1930, RStBl 1930, 313; I A 409/32 vom 20. Dezember 1933, RStBl 1934, 433; VI 11/44 vom 3. Mai 1944, RStBl 1944, 619, sowie Urteil des BFH I 283/60 S vom 17. Oktober 1961, BFH 73, 823, BStBl III 1961, 566).
Dieser von der Rechtsprechung im Wege der Rechtsfortbildung praeter legem entwickelte Grundsatz hatte für den hier interessierenden Sonderfall durch das Urteil des Senats I 315/56 U, a. a. O., eine Auslegung erfahren. In dem dort entschiedenen Fall wurden für das ausgeschiedene Wirtschaftsgut, das mit 50 000 DM zu Buche stand, ein Ersatzwirtschaftsgut im Werte von 56 000 DM und eine Barzahlung in Höhe von 50 000 DM vereinnahmt. Die volle Übertragung der im ausgeschiedenen Wirtschaftsgut enthaltenen stillen Reserven in Höhe von 56 000 DM auf das Ersatzwirtschaftsgut verneinte der Senat mit der Begründung, daß - da bereits die eingetauschten Grundstücke als vollwertiger Ersatz für die hingegebenen Grundstücke angesehen werden könnten - die insgesamt erhaltene Gegenleistung für das ausgeschiedene Wirtschaftsgut nur zum Teil, nämlich in Höhe von 56/106 zur Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts verwendet worden sei.
Die EStR 1958 haben dann in Abschn. 35 Abs. 6 allgemein bestimmt: "Scheidet ein Wirtschaftsgut gegen Barzahlung und gegen Erhalt eines Ersatzwirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen aus oder wird die für das Ausscheiden eines Wirtschaftsguts erhaltene Entschädigung nicht in voller Höhe zur Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts verwendet, so darf die aufgelöste stille Rücklage bzw. die Rücklage für Ersatzbeschaffung nur anteilig auf das Ersatzwirtschaftsgut übertragen werden."
Der Senat hält diese Verwaltungsanweisung für eine vertretbare klarstellende Fortführung der zuvor von der Rechtsprechung anläßlich von Einzelfällen entwickelten Rechtsgrundsätze.
Der Sinn der dem Steuerpflichtigen in besonderen Fällen eingeräumten Möglichkeit der steuerfreien Übertragung stiller Reserven auf ein Ersatzwirtschaftsgut besteht darin, dem Steuerpflichtigen, der gegen seinen Willen zur Veräußerung eines Wirtschaftsguts und damit zur Aufdeckung der in diesem Wirtschaftsgut vorhandenen stillen Reserven genötigt wird, die aus der Aufdekkung der Reserven folgende Gewinnverwirklichung zu ersparen, wenn er für das ausgeschiedene Wirtschaftsgut alsbald Ersatz beschafft. Eine Übertragung der stillen Reserven kommt dagegen nicht in Betracht, wenn von einer Ersatzbeschaffung abgesehen wird.
Wird für die Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts weniger aufgewendet, als durch die Veräußerung des ausgeschiedenen Wirtschaftsguts erlöst wurde, wird also ein Mittelweg gewählt zwischen der vollen Verwendung des Erlöses zur Wiederbeschaffung einerseits und einem Verzicht auf Ersatzbeschaffung andererseits, so können die stillen Reserven auf das als Ersatz beschaffte Wirtschaftsgut folgerichtig auch nur anteilig übertragen werden. Der nicht verbrauchte Rest ist dann im Jahre der Ersatzbeschaffung gewinnerhöhend aufzulösen. Dies gilt sowohl dann, wenn das als Ersatz beschaffte Wirtschaftsgut einen - preisgünstig erworbenen - Vollersatz darstellt, als auch in den Fällen, in denen es sich nur um einen Teilersatz handelt. Eine Fortführung des nicht verbrauchten Teils der Rücklage kommt im Rahmen der in Abschn. 35 Abs. 6 EStR genannten Fristen nur dann in Betracht, wenn es sich bei der Ersatzbeschaffung um einen Teilersatz gehandelt hat und eine alsbaldige weitere, ergänzende Ersatzbeschaffung ernstlich geplant ist.
2. Nach diesen Grundsätzen darf die Steuerpflichtige die nach der Veräußerung ihres Betriebsgrundstücks gebildete Rücklage nur anteilig auf das neuerworbene Grundstück übertragen, da sie zum Erwerb dieses Grundstücks wesentlich weniger aufgewendet hat, als sie für das veräußerte Grundstück erlöste. Anhaltspunkte dafür, daß die Steuerpflichtige im Streitjahr die ernste Absicht hatte, eine ergänzende Ersatzbeschaffung vorzunehmen, so daß nach den dargestellten Grundsätzen eine Fortführung der Rücklage - soweit sie auf das erworbene Grundstück nicht übertragbar war - möglich gewesen wäre, hat die mündliche Verhandlung nicht ergeben. Die Steuerpflichtige hat vielmehr vortragen lassen, daß es sich bei der Ersatzbeschaffung um einen Vollersatz gehandelt habe.
3. Der Steuerpflichtigen kann die volle Übertragbarkeit der stillen Reserven auch nicht auf Grund Gewohnheitsrechts zugestanden werden. Abgesehen von den erheblichen Bedenken, die grundsätzlich gegen die Annahme eines durch langjährige Verwaltungsübung etwa begründeten Gewohnheitsrechts im Bereich des Steuerrechts bestehen (vgl. BFH-Urteil II 28/58 U vom 18. Februar 1959, BFH 68, 462, BStBl III 1959, 176), ist der Senat der Auffassung, daß sich ein Gewohnheitsrecht des von der Steuerpflichtigen behaupteten Inhalts schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht gebildet hat.
Gewohnheitsrecht kann sich nur durch fortwährende allgemeine und gleichmäßige, aus Rechtsüberzeugung erfolgende praktische Übung entwickeln. Voraussetzung hierfür müßte aber stets sein, daß die Rechtsprechung sich mit der betreffenden Rechtsfrage befaßt hat und die Gerichte die Rechtsüberzeugung teilen. Eine solche Entwicklung ist nicht zu erkennen. Die zu dem streitigen Fragenkreis vorliegende Rechtsprechung des RFH kann nicht als Ausgangspunkt für ein sich bildendes Gewohnheitsrecht angesehen werden. Der RFH hat in seinen Urteilen VI A 514/30, I A 409/32 und VI 11/44, a. a. O., stets nur über Sachverhalte entschieden - und dabei die uneingeschränkte Übertragbarkeit der stillen Reserven bejaht -, in denen die gesamte Entschädigung zur Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts verwendet wurde. Ein dem vorliegenden Falle ähnlicher Sachverhalt war - soweit ersichtlich - vor dem BFH-Urteil I 315/56 U, a. a. O., nicht Gegenstand einer veröffentlichten Entscheidung. Daß in der Praxis - etwa als Folge der Fassung der EStR für die Zeiträume bis 1957 - in allen Fällen der vorliegenden Art die volle Übertragbarkeit der stillen Reserven aus Rechtsüberzeugung anerkannt worden sei, behauptet die Steuerpflichtige selbst nicht. Zudem ist dem BFH-Urteil I 315/56 U, a. a. O., eher das Gegenteil zu entnehmen; denn wenn dort die Verwaltung den von der Steuerpflichtigen vertretenen Standpunkt geteilt hätte, wäre dieser Rechtsstreit nicht entstanden.
4. Auch die Grundsätze von Treu und Glauben zwingen nicht dazu, die Übertragung der gesamten durch die zwangsweise Veräußerung aufgedeckten stillen Reserven auf das neuerworbene Grundstück zuzulassen.
Die in der Zeit vor 1957 ergangene Rechtsprechung ließ nicht erkennen, wie die Fälle der nur teilweisen Verwendung der Entschädigung zur Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts rechtlich zu beurteilen seien. Ein Fall dieser Art wurde, wie gesagt, erstmals in der im Oktober 1957 veröffentlichten Entscheidung des Senats I 315/56 U, a. a. O., behandelt und entgegen der Auffassung der Steuerpflichtigen entschieden.
Auch Abschn. 35 EStR in der bis einschließlich 1957 geltenden Fassung rechtfertigt nicht den Schutz eines in die volle Übertragbarkeit der durch die Veräußerung aufgedeckten stillen Reserven gesetzten Vertrauens. Zwar konnte diesen Richtlinien entnommen werden, daß die Verwaltung bis zum Veranlagungszeitraum 1957 auch in Fällen der vorliegenden Art eine weitergehende Übertragbarkeit stiller Reserven für möglich gehalten hat, als dies der Senat aus den dargelegten Gründen für zulässig erachtet. Die EStR können jedoch den Schutz eines etwa in sie gesetzten Vertrauens als einer für alle Zukunft geltenden Regelung schon deshalb nicht rechtfertigen, weil sie nur eine Zusammenfassung der für einen bestimmten Veranlagungszeitraum anzuwendenden Verwaltungsanweisungen darstellen und im allgemeinen erst nach Ablauf dieses Veranlagungszeitraums veröffentlicht werden. Die Erwartung, daß eine für einen bestimmten Veranlagungszeitraum gültige Verwaltungsanweisung auch für spätere Veranlagungszeiträume unverändert fortgelten werde, wird sich zwar häufig erfüllen und mag daher auch die Dispositionen der Steuerpflichtigen beeinflussen. Diese Erwartung deshalb aber als schutzwürdig im Sinne der Grundsätze von Treu und Glauben anzusehen, erscheint dem Senat indes im Hinblick auf die ausdrückliche Begrenzung der Gültigkeitsdauer der Richtlinien auf einen bestimmten Veranlagungszeitraum nicht vertretbar. Wollte man der Steuerpflichtigen hier folgen, so würde durch die Anerkennung eines schutzwürdigen Vertrauendürfens in die Fortgeltung der EStR eine Bindung der Verwaltung bewirkt werden, die letztlich nur durch Gesetzesänderung oder abweichenden Richterspruch - und selbst dann nur mit Wirkung für die Zukunft - beseitigt werden könnte. Dies stünde aber im Widerspruch zu der Rechtsnatur der Verwaltungsanweisungen, mit deren Hilfe nur eine gleichmäßige Gesetzesanwendung durch die Verwaltungsbehörden erreicht, nicht aber eine Bindung im Sinne einer Rechtsverordnung erzielt werden kann und soll. Demgemäß wird ja auch immer wieder betont, daß Richtlinien der Verwaltung nur vorbehaltlich einer abweichenden Rechtsprechung anzuwenden sind. Die im Falle der Änderung einer ständigen Rechtsprechung zuungunsten des Steuerpflichtigen vom BFH entwickelten Grundsätze sind demnach weder auf das Ergehen einer Entscheidung, die mit den bisherigen EStR in Widerspruch steht, noch auf die Änderung von EStR anwendbar. Hinzu kommt, daß in diesen Entscheidungen durchweg eine Billigkeitsmaßnahme der Verwaltung nach § 131 Abs. 2 AO vorlag oder jedenfalls unterstellt wurde, wonach die neue Rechtsprechung erst für künftige Jahre anzuwenden war. Im vorliegenden Fall sind dagegen die dem Urteil I 315/56 U, a. a. O., entsprechenden Grundsätze durch die EStR 1958 ausdrücklich als für den Veranlagungszeitraum 1958 anwendbar erklärt worden.
Aber selbst wenn die Steuerpflichtige auf eine unveränderte Fortgeltung des Abschn. 35 in der Fassung der EStR 1956/1957 hätte vertrauen dürfen, könnten die Grundsätze von Treu und Glauben eine volle Übertragung der stillen Reserven allenfalls dann rechtfertigen, wenn dargetan worden wäre, daß bei Kenntnis der unter 1. dargestellten Rechtslage der volle Erlös zur Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts verwendet worden wäre. Das ist jedoch nicht der Fall.
5. Der Senat hält hiernach die Anwendung der in den EStR 1958 wiedergegebenen Grundsätze des Urteils des BFH I 315/56 U, a. a. O., auf den vorliegenden Fall für angebracht.
Die Steuer war sonach, wie im berichtigten Einkommensteuerbescheid 1958 vom 8. März 1963 berechnet, festzusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 68479 |
BStBl II 1969, 310 |
BFHE 1969, 92 |