Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Der im Urteil des erkennenden Senats V z 75/54 S vom 25. November 1954 (Slg. Bd. 60 S. 173, BStBl 1955 III S. 66, BZBl 1955 S. 58) für das Anfechtungsverfahren ausgesprochene Grundsatz, daß der BFH zur tatsächlichen und rechtlichen Nachprüfung berufen ist, gilt in Zoll- und Verbrauchsteuersachen für das erweiterte Rechtsmittelverfahren nach Art. 19 Abs. 4 GG in den Ländern der früheren amerikanischen und französischen Besatzungszone entsprechend.
Normenkette
AO § 131; GG Art. 19 Abs. 4; AO § 230; FGO § 37
Tatbestand
Mit Schreiben vom 16. September 1953 beantragte die Beschwerdeführerin (Bfin.) einen Abgabenerlaß aus Billigkeitsgründen für Eingangsabgaben (Zoll und Umsatzausgleichsteuer), die mit Steuerbescheiden des Zollamts .......... für zwei in Fässern eingeführte Sendungen mit Pfifferlingen in Salzlake nachgefordert worden waren. Das Hauptzollamt ..... lehnte den Billigkeitsantrag ab. Die dagegen eingelegte Beschwerde blieb erfolglos. Auch die gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion eingelegte Berufung der Bfin. an das Finanzgericht ...... im Zuge des erweiterten Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) hatte keinen Erfolg.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde (Rb.) der Bfin. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Nach dem Gutachten des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (Slg. Bd. 55 S. 277, Bundessteuerblatt - BStBl - 1951 III S. 107) sind die Steuergerichte (Finanzgericht und Bundesfinanzhof) für Streitigkeiten über Abgaben nach §§ 3 und 4 der Reichsabgabenordnung (AO) 1939 (heute § 3 AO in der Fassung des Gesetzes zur änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 11. Juli 1953, Bundesgesetzblatt I S. 511) auch in den Fällen zuständig, in denen die Generalklausel des Artikels 19 Abs. 4 GG einen gegenüber der AO erweiterten gerichtlichen Rechtsschutz gewährt. Das gilt auch dort, wo bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden eine überschreitung der Ermessensgrenzen und damit ein Rechtsverstoß im Sinne des Artikels 19 Abs. 4 GG behauptet wird. Einen solchen Ermessensakt im Rahmen der AO stellt der Erlaß von Steuern (Zoll und Umsatzausgleichsteuer) nach § 131 Abs. 1 AO dar, um die es im Streitfalle geht. Voraussetzung für die Anrufung der Steuergerichte ist, daß die nach § 237 AO zulässigen Rechtsbehelfe der Verwaltungsbehörden erschöpft sind. Dies trifft im Streitfalle zu. Der Bfin. ist daher der steuergerichtliche Rechtsschutz gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion zu gewähren.
Das Finanzgericht ... hat seine sachliche Zuständigkeit zur Entscheidung über die Berufung angenommen. Diese Zuständigkeit war jedoch aus folgenden Gründen nicht gegeben:
In seinem Grundsatzurteil V z 75/54 S vom 25. November 1954 (Slg. Bd. 60 S. 173, BStBl 1955 III S. 66, Bundeszollblatt - BZBl - 1955 S. 58) hat der erkennende Senat unter eingehender Würdigung und Abwägung der rechtlichen Möglichkeiten dahin entschieden, daß der im Artikel 19 Abs. 4 GG vorgesehene Rechtsweg und der diesem Artikel innewohnende Rechtsschutzgedanke für eine übergangszeit dazu zwingen, für das Anfechtungsverfahren in Zoll- und Verbrauchsteuersachen in der (früheren) amerikanischen und französischen Besatzungszone den Bundesfinanzhof als einzige steuergerichtliche Tatsachen- und Rechtsinstanz zu erklären. In folgerichtiger Anwendung der in diesem Urteil niedergelegten Grundgedanken kommt der erkennende Senat zu dem Ergebnis, daß auch der Steuergerichtliche Rechtsweg im erweiterten Rechtsmittelverfahren nach Artikel 19 Abs. 4 GG in Zoll- und Verbrauchsteuersachen in den Ländern der früheren amerikanischen und französischen Besatzungszone nicht über die Finanzgerichte dieser Länder, die institutionell nur als Gerichte für Landessteuersachen errichtet worden sind, sondern im Rechtsbeschwerdeverfahren unmittelbar zum Bundesfinanzhof als einziger Tatsachen- und Rechtsinstanz führt. Dies gilt für alle derartigen Streitfälle, die aus Zoll- und Verbrauchsteuersachen erwachsen. Die Auffassung des Senats steht nicht im Widerspruch zu dem bereits erwähnten Gutachten des Großen Senats vom 17. April 1951, wenn dort am Ende von Ziff. 5 ausgeführt ist, daß die Grundsätze des Gutachtens auch gelten, soweit von den Steuergerichten über Zollsachen (worunter auch die Verbrauchsteuersachen zu verstehen sind) entschieden wird. Diese Ausdehnung bezieht sich und kann sich nur beziehen, wie auch aus dem Gutachten hervorgeht, auf die Finanzgerichte der früheren britischen Besatzungszone, die nach der auch heute noch geltenden Verordnung Nr. 175 der britischen Militärregierung auch über Berufungen in Zoll- und Verbrauchsteuersachen zu befinden haben, nicht aber auf die Finanzgerichte der früheren amerikanischen und französischen Besatzungszone, da diese Gerichte auf Grund der in dem Grundsatzurteil V z 75/54 S vom 25. November 1954 aufgeführten Ländergesetze nur für Landessteuersachen zuständig sind. Das Urteil des erkennenden Senats V z 24/52 S vom 20. Februar / 28. Mai 1953 (Slg. Bd. 57 S. 714, BStBl 1953 III S. 272, BZBl 1953 S. 764), das in seinem oben angeführten Grundsatzurteil V z 75/54 S vom 25. November 1954 deshalb erwähnt worden ist, um für den Regelfall die Zweckmäßigkeit eines zweistufigen Rechtsmittelzuges darzutun, behält mithin für die Finanzgerichte der früheren britischen Besatzungszone seine Bedeutung. Demgemäß war im vorliegenden Rechtsstreit, in dem es um den Erlaß von Zoll und Umsatzausgleichsteuer, die nach § 15 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes eine Verbrauchsteuer ist, aus Billigkeitsgründen geht, die sachliche Zuständigkeit des im Bereiche der früheren amerikanischen Besatzungszone gelegenen Finanzgerichts nicht gegeben. Seine Entscheidung war daher aufzuheben.
Hiernach sieht sich der Senat in der Lage, nach Aufhebung der Vorentscheidung in eine tatsächliche und rechtliche Prüfung der als Rb. zu wertenden Berufung der Bfin. gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion einzutreten.
Fundstellen
Haufe-Index 408448 |
BStBl III 1956, 157 |
BFHE 62, 423 |