Leitsatz (amtlich)
1. Die zehnjährige Verjährungsfrist des § 144 AO setzt voraus, daß die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung vorliegen (wie Urteil des BFH vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68).
2. Durch die trotz gesetzlicher Verpflichtung unterlassene Abgabe der Einkommensteuererklärung in der vorgeschriebenen Frist wird der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung verwirklicht.
2. Der für die Bejahung einer Steuerhinterziehung ausreichende bedingte Vorsatz ist in der Regel dann nicht gegeben, wenn der Steuerpflichtige einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe mit der Erledigung seiner Steuerangelegenheiten und damit auch mit der Fertigung der Einkommensteuererklärung beauftragt hat.
Normenkette
AO §§ 144, 396 a. F, § 392 n. F
Tatbestand
Streitig ist, ob für den gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) geltend gemachten Einkommensteueranspruch 1959 die zehnjährige Verjährungsfrist galt, weil er sich insoweit einer vorsätzlichen Steuerverkürzung schuldig gemacht hatte.
Der Kläger war im Jahre 1959 für eine GmbH als Provisionsvertreter tätig, die sich mit dem Vertrieb von Automaten befaßte. Später wurde er deren Geschäftsführer und ab 1. November 1961 war er bis zur Konkurseröffnung Alleingesellschafter dieser GmbH. Im Jahre 1959 erhielt er von der GmbH an Provisionen rd. 20 000 DM. Der Kläger gab für 1959 keine Einkommensteuererklärung ab; er zahlte auch keine Einkommensteuer.
Im Jahre 1966 fand bei dem Kläger eine Steuerfahndungsprüfung statt, bei der die Prüfer mangels Aufzeichnungen den Gewinn des Klägers für 1959 auf 10 400 DM schätzten und das zu versteuernde Einkommen mit 9 720 DM errechneten. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) übernahm die Prüfungsfeststellungen und setzte die Einkommensteuer für 1959 auf 1 740 DM fest. Einspruch und Klage, mit der der Kläger die Verjährung des Steueranspruchs geltend machte, hatten keinen Erfolg. Das FG begründete seine Entscheidung damit, daß der Kläger die Einkommensteuer für 1959 hinterzogen habe, so daß die Verjährungsfrist zehn Jahre betrage. Die Nichtabgabe der Einkommensteuererklärung führe zu einer Steuerverkürzung, weil infolgedessen das FA die Steuern nicht zu der Zeit festsetzen könne, zu der dies sonst nach dem Gang der Veranlagungsarbeit der Fall gewesen wäre. Der Kläger habe auch vorsätzlich gehandelt, weil er mit der Möglichkeit eines strafbaren Erfolges rechnen mußte, diesen für den Fall seines Eintritts billigte und in Kauf zu nehmen bereit gewesen sei. Der Kläger habe auf Grund seiner kaufmännischen Ausbildung und seines Bildungsgrades gewußt, daß er Einkommensteuererklärungen habe abgeben müssen und daß deren Nichtabgabe zu einer Nichtveranlagung führen würde. Daran ändere der Vortrag des Klägers nichts, er habe einen Bevollmächtigten mit der Erledigung seiner steuerlichen Angelegenheiten betraut. Ganz abgesehen von den Zweifeln an der Richtigkeit dieser Darstellung führe deren Unterstellung als wahr zu keinem anderen Ergebnis. Denn durch die Bevollmächtigung eines Dritten werde der Steuerpflichtige nicht von seiner Pflicht entbunden, eine Steuererklärung abzugeben. Aus diesem Grunde habe auch auf die Erhebung des Beweises verzichtet werden können. Der bedingte Vorsatz des Klägers werde auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß er vortrage, er könne sich nicht erinnern, daß sein Bevollmächtigter für 1959 ihm eine vorbereitete Einkommensteuererklärung vorgelegt habe. Der Kläger habe in diesem Fall auf die Vorlage der Erklärung hinwirken müssen. Wenn er das nicht tat, so nahm er die Möglichkeit eines strafbaren Erfolges in Kauf. Schließlich sei auch das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Steuerunehrlichkeit erfüllt. Hierfür genüge die bewußte Nichtabgabe der Steuererklärung oder die bewußte Nichtabführung der fälligen Steuer.
Mit seiner Revision rügt der Kläger, daß das Gericht zwei Zeugen, die hätten Aufklärung geben können, nicht gehört habe. Es treffe nicht zu, daß er eine Verkürzung von Steuereinnahmen vorsätzlich bewirkt habe. Denn er habe sowohl seinen Buchalter als auch seinen Steuerberater angehalten, die steuerlichen Belange seiner Firma wie auch seine eigenen zu erledigen. Sein Steuerberater habe ihm dann immer die Voranmeldung für Umsatzsteuer und Gewerbesteuer für die Firma und privat zur Unterschrift vorgelegt. Er habe dann den entsprechenden Scheck ausgestellt. Ob ihm auch die Einkommensteuererklärung zur Unterschrift vorgelegt worden sei, könne er nach elf Jahren nicht mehr sagen; es sei aber durchaus möglich. Zur restlosen Aufklärung habe nur sein Steuerberater beitragen können. Obwohl er diesen seit 1966 als Zeugen benannt habe, sei er nicht vernommen worden. Zu Unrecht habe man ihm bedingten Vorsatz vorgeworfen. Er habe sich immer bei seinem Steuerberater nach der Erledigung seiner privaten steuerlichen Belange erkundigt und dieser habe ihm immer wieder bestätigt, daß sie in Ordnung seien. Diese - wie auch die anderen - Angaben könne der nicht vernommene Zeuge E bestätigen. Daß es sich nicht um eine bewußte Nichtabführung gehandelt habe, ergebe sich auch daraus, daß er für 1960 ein Steuerguthaben von 108 DM gehabt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG.
Die wegen der Nichteinvernahme der Zeugen erhobene Verfahrensrüge des Klägers greift nicht durch. Der Kläger hätte diesen Mangel bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem FG rügen können und müssen. Aus dem ihm zugestellten Vorbescheid war ersichtlich, daß das FG eine Beweisaufnahme nicht für erforderlich hielt. Wenn der Kläger hierin einen Verfahrensmangel erblickte, so mußte er diesen gemäß § 155 FGO in Verbindung mit § 295 Abs. 1 ZPO vor dem FG rügen (Urteil des BFH vom 18. April 1972 VIII R 40/66, BFHE 105, 325, BStBl II 1972, 572).
In der Sache selbst kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um eine vorsätzliche Steuerhinterziehung und damit eine zehnjährige Verjährungsfrist zu bejahen.
Das FG hat zutreffend das Vorliegen des objektiven Tatbestandes des § 396 AO a. F. bejaht. Hierfür ist jede Handlung geeignet, durch die Steuern nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig entrichtet werden (vgl. Beschluß des BGH vom 3. September 1970 3 StR 155/69, BGHSt 23, 319, BStBl II 1971, 514, NJW 1970, 2034). Als Handlung kommt nicht nur ein positives Tun, sondern auch ein Unterlassen in Betracht, wenn die Rechtsordnung die Vornahme einer Handlung fordert. Welches Verhalten im einzelnen zur Verkürzung des Steueranspruchs führt, hängt, da § 396 AO a. F. ein Blankettgesetz ist, von den gesetzlichen Regelungen der einzelnen Steuergesetze ab (vgl. Urteil des BGH vom 8. Januar 1965 2 StR 49/64, BGHSt 20, 177 [180], StRK, Reichsabgabenordnung, § 396, Rechtsspruch 41). Mit dem FG ist davon auszugehen, daß der Kläger den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung durch die Nichtabgabe der Einkommensteuererklärung für 1959 begangen hat. Die von der Rechtsprechung für die Annahme eines unechten Unterlassungsdelikts geforderten Voraussetzungen, nämlich die zu einem tatbestandsmäßigen Erfolg führende Unterlassung und die Garantenstellung des Unterlassenden, sind gegeben (vgl. hierzu Beschluß des Großen Senats für Strafsachen des BGH vom 29. Mai 1961 GSSt 1/61, BGHSt 16, 155 [158]). Die unterlassene Abgabe der Einkommensteuererklärung führte dazu, daß Steuereinnahmen verkürzt wurden. Denn das FA hatte durch das Verhalten des Klägers keine Kenntnis von dem Vorhandensein des Steueranspruchs und verfolgte ihn auch daraufhin nicht. Die Nichtabgabe einer Steuererklärung ist der Endpunkt der verschiedenen Möglichkeiten einer Steuerhinterziehung durch Verschweigen von Einkünften. Denn während der Tatbestand des § 396 AO a. F. objektiv bereits durch das Verschweigen einzelner steuerpflichtiger Einkünfte verwirklicht werden kann, bedeutet die Nichtabgabe der Steuererklärung in der vorgeschriebenen Frist das Verschweigen sämtlicher dieser steuerpflichtigen Einkünfte. Die von der Rechtsprechung geforderte Garantenstellung des Klägers ergab sich aus der Vereinnahmung von Provisionen im Jahre 1959 in Höhe von rd. 20 000 DM. Damit lagen die Umstände vor, die seine sich aus § 56 Abs. 1 Nr. 2a EStDV ergebende Rechtspflicht zum Handeln begründeten. Dort ist bestimmt, daß unbeschränkt Steuerpflichtige eine Steuererklärung abzugeben haben, wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte 1 910 DM oder mehr betragen hat und darin keine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, enthalten sind. Das trifft für den Kläger zu.
Dem FG konnte jedoch insoweit nicht gefolgt werden, als es davon ausging, daß der Kläger vorsätzlich durch sein Verhalten habe Steuern verkürzen wollen. Jedenfalls reichen die tatsächlichen Feststellungen des FG für eine solche Annahme nicht aus. Es trifft zwar zu, daß für die Begehung einer Steuerhinterziehung nach § 396 AO a. F. der bedingte Vorsatz ausreicht (vgl. Urteile des BFH vom 6. April 1962 III 339/59, HFR 1963, 371, und vom 9. April 1964 II 7/61 S, BFHE 79, 241, BStBl III 1964, 318). Hiernach genügt es, wenn es der Täter nur für möglich hält, aber in Kauf nimmt, daß er durch sein Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Auf den Fall bezogen mußte nach den Vorstellungen des Klägers die Nichtabgabe seiner Einkommensteuererklärung zwar nicht gewollt die Nichterhebung der Einkommensteuer für 1959 zur Folge haben, der Kläger mußte aber mit dieser Möglichkeit gerechnet haben und sie in Kauf nehmen. Dieser Annahme steht jedoch der vom FG als wahr unterstellte Vortrag des Klägers entgegen, daß er seine steuerlichen Belange einem Steuerberater übertragen habe. Wenn dies zutrifft, würde der Schuldvorwurf schwerlich aufrechterhalten bleiben können. Denn hieraus würde erhellen, daß der Kläger seine steuerlichen Verpflichtungen erfüllen wollte. Es kann dann aber aus der Nichtabgabe der Steuererklärung nicht geschlossen werden, daß damit der Kläger die Möglichkeit einer Steuerverkürzung billigte und in Kauf nahm. Mit der Beauftragung eines Steuerberaters wäre ein solches Ergebnis gerade fraglich, wenn nicht überhaupt ausgeschlossen worden.
Nach alledem durfte das FG für die Prüfung des bedingten Vorsatzes des Klägers nicht den Vortrag als wahr unterstellen, ohne nicht damit den bedingten Vorsatz ausschließen zu müssen. Das FG wird noch prüfen müssen, ob der Kläger die Erfüllung seiner Belange einem Angehörigen der steuerberatenden Berufe übertragen hat. Sollte dies zutreffen, so wird das FG die zehnjährige Verjährungsfrist nur dann bejahen können, wenn sich aus anderen Umständen trotz der Beauftragung eines Steuerberaters ein Schuldvorwurf ergeben würde. Dabei wird das Gericht zu beachten haben, daß auch hier der Grundsatz "in dubio pro reo" gilt und daß möglicherweise für das Verhalten des Klägers nur eine Leichtfertigkeit angenommen werden kann, wodurch ebenfalls die zehnjährige Verjährungsfrist nicht zum Tragen käme (vgl. insoweit Urteil des BFH vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68).
Schließlich können die Ausführungen des FG auch insoweit nicht gebilligt werden, als es den von ihm bejahten bedingten Vorsatz nicht dadurch ausschließen wollte, daß der Kläger nicht auf die Vorlage der Steuererklärung durch seinen Steuerberater hingewirkt habe. Es würde eine Überspannung der Sorgfaltspflichten der Steuerpflichtigen darstellen, wenn man von ihnen die Überwachung ihrer Berater bei der Abgabe der Steuererklärungen verlangen würde mit der Rechtsfolge, daß die nicht erfolgte Erinnerung als ausreichend anzusehen ist, um eine mit bedingtem Vorsatz begangene Steuerhinterziehung zu bejahen. Selbstverständlich besteht für Steuerpflichtige die Verpflichtung, die vom Berater gefertigte Steuererklärung zu prüfen und auch auf eine rechtzeitige Abgabe der Erklärung hinzuwirken. Um aber eine Pflichtverletzung in dieser Richtung als vorsätzliche Steuerhinterziehung zu werten, muß mehr hinzutreten als das Untätigsein allein. Jedenfalls wird hierdurch nicht der Schluß gerechtfertigt, daß der Kläger damit die Möglichkeit eines strafbaren Erfolges in Form einer Steuerhinterziehung in Kauf genommen habe. Denn auch in einem solchen Verhalten könnte möglicherweise nur eine Fahrlässigkeit liegen.
Fundstellen
Haufe-Index 70333 |
BStBl II 1973, 273 |
BFHE 1973, 286 |