Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsrecht Sonstiges Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Für Streitigkeiten über Abgaben nach § 3 und § 4 AO sind die Steuergerichte auch in den Fällen zuständig, in denen die Generalklausel des Artikels 19 Absatz 4 GG einen gegenüber der AO 1939 erweiterten gerichtlichen Rechtsschutz gewährt.
Die überschreitung der gesetzlichen Ermessensgrenzen bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden ist ein Rechtsverstoß im Sinne des Artikels 19 Absatz 4.
Die Anrufung der Steuergerichte bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden setzt voraus, daß die nach § 237 AO zulässigen Rechtsbehelfe bei den Verwaltungsbehörden ausgeschöpft sind.
Das Steuergericht erster Instanz für Rechtsmittel wegen behaupteten Rechtsverstoßes bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden ist das Finanzgericht.
Die Steuergerichte sind bei Ermessensüberschreitungen in reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden nur berechtigt, die angegriffene Entscheidung aufzuheben. Sie sind nicht berechtigt, ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörden zu setzen, es sei denn, daß die Sachlage die Ermessensgrenzen im Einzelfalle so einengt, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich ist, jede andere begriffsnotwendig auf einem Ermessensfehler beruhen müßte.
Normenkette
GG Art. 3, 19 Abs. 4; FGO § 33; AO § 96 Abs. 1, §§ 237, 230, 304 Abs. 4; FGO § 102
Tatbestand
---
Entscheidungsgründe
Das Bayer. Staatsministerium der Finanzen hat den Bundesfinanzhof nach § 6 Absatz 1 des Gesetzes über den Bundesfinanzhof vom 29. Juni 1950 in Verbindung mit § 63 der Reichsabgabenordnung um Erstattung eines Gutachtens zu folgendem Rechtsproblem gebeten:
"Es mehren sich die Fälle, in denen die Verwaltungsgerichte in Sachen, welche bisher von den Finanzbehörden endgültig entschieden wurden und bei denen nach dem Enumerationsprinzip eine Zuständigkeit der Finanzgerichte nicht ausdrücklich vorgesehen ist, um Rechtsschutz angegangen werden. Nach Auffassung des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen ist dieser Zustand sehr unerwünscht. Es sollten trotz der noch fehlenden ausdrücklichen gesetzlichen Festlegung der Zuständigkeit in allen Fällen Finanzsachen von den Finanzgerichten und in letzter Instanz vom Bundesfinanzhof behandelt werden.
Ich bitte daher um ein Rechtsgutachten darüber, ob nicht bereits jetzt für Streitigkeiten, welche Abgaben betreffen, statt der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte die der Finanzgerichte gegeben ist und zwar auch dann, wenn Rechtsmittel gegen reine Ermessensentscheidungen der Finanzbehörden mit der Behauptung einer Ermessensüberschreitung eingelegt werden.
Der Große Senat des Bundesfinanzhofs hat hierzu in der Sitzung vom 17. April 1951 wie folgt Stellung genommen:
Von entscheidender Bedeutung sind die Bestimmungen des Artikels 19 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) für die Bundesrepublik Deutschland. "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen, Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben." Die Vorschrift befindet sich in Abschnitt I GG, der die Grundrechte regelt. Nach Artikel 1 Absatz 3 GG binden die Grundrechte die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Hieraus ergibt sich die unmittelbare Bindung der Gerichte und damit auch der Steuergerichte an die Vorschrift des Artikels 19 Absatz 4 GG.
Artikel 19 GG behandelt in den Absätzen 1 bis 3 die Grundrechte. Man könnte hieraus folgern, daß Artikel 19 Absatz 4 nur den gerichtlichen Schutz der Grundrechte zum Gegenstand hat. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Ihr widerspricht die Fassung des Artikels 19 Absatz 4 Satz 1. Es wird hier ganz allgemein von der Verletzung von Rechten durch die öffentliche Gewalt gesprochen. Artikel 19 Absatz 4 stellt somit eine Generalklausel für gerichtlichen Rechtsschutz bei Verletzung individueller Ansprüche durch die öffentliche Gewalt auf. Diese Ansicht wird auch in der Literatur, insbesondere in der staatsrechtlichen Literatur, allgemein vertreten; so Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, S. 121; die Leitsätze der Berichterstatter zur Tragweite der Generalklausel im Artikel 19 Absatz 4 des Bonner Grundgesetzes bei den Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Heidelberg am 20. und 21. Oktober 1949, Berichte S. 123 und 147 (Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin 1950); Giese, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 2. Auflage S. 52; Friesenhahn, Deutsche Verwaltung 1949 S. 478, 481 ff.; Grewe, Deutsche Rechts-Zeitschrift 1949 S. 393; Bachof, Deutsche Rechts-Zeitschrift 1950 S. 246: "Diese Bestimmung - ein "königlicher Artikel", wie Walter Jellinek ihn auf der Heidelberger Staatsrechtslehrertagung 1949 nannte, das "formelle Hauptgrundrecht" und in Verbindung mit dem materiellen Hauptgrundrecht des Artikels 1 GG ein "rocher de bronce" der staatsbürgerlichen Freiheit nach den Ausführungen von Friedrich Klein an gleicher Stelle - garantiert einen effektiven Rechtsschutz, nicht einen papierenen, durch die Gerichtsorganisation praktisch wertlos gemachten Rechtsschutz*!"
Beachtlich erscheint es, daß die Generalklausel hinsichtlich der Anrufung der Verwaltungsgerichte bei Verletzung individueller Rechte durch Träger der öffentlichen Gewalt (sogenannte Anfechtungsstreitigkeiten) bereits in den Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetzen der Länder der Westzonen enthalten war. Im einzelnen siehe Klein in den Berichten über die Tagung der Staatsrechtslehrer 1949 S. 76 ff. Teilweise ist die Generalklausel hinsichtlich des gerichtlichen Rechtsschutzes sogar in den Verfassungen verankert, so in Artikel 90 der Verfassung für Württemberg-Baden, Artikel 2 Absatz 3 der Verfassung für Hessen und Artikel 141 der Verfassung für Bremen. Man wird hieraus entnehmen müssen, daß sie ein Ausdruck des heutigen rechtsstaatlichen Gedankens ist. Siehe auch Bachof, "Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung" (Verlag Mohr, Tübingen 1951) S. 10 ff.
Artikel 19 Absatz 4 GG ist, wie oben ausgeführt, eine Generalklausel für den gerichtlichen Rechtsschutz bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Im Gegensatz dazu steht die Reichsabgabenordnung (AO) auf dem sogenannten Enumerationsprinzip. In den §§ 228 ff., insbesondere in § 235, werden die Bescheide genau festgelegt, die im steuergerichtlichen Verfahren angegriffen werden können. Es ist deshalb die Frage zu beantworten, ob durch Artikel 19 Absatz 4 GG allgemein die verwaltungsgerichtliche Generalklausel eingeführt worden ist.
Diese Frage ist zu verneinen. Durch Artikel 19 Absatz 4 GG wird die Zulässigkeit des sogenannten Enumerationsprinzips bei den Verwaltungsgerichten auch für die Zukunft nicht berührt. Soweit jedoch nach dem Enumerationsprinzip bei Verletzung individueller Rechte durch die öffentliche Gewalt eine Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte nicht gegeben ist, setzt der Rechtsschutz durch die ordentlichen Gerichte ein. Ebenso die Erläuterungsbücher von Giese und Mangoldt in den Anmerkungen zu Artikel 19 Absatz 4 GG; Grewe in der Deutschen Rechts-Zeitschrift 1949 S. 393; Klein in den Berichten über die Tagung der Staatsrechtslehrer 1949 S. 97. Aus den gleichen Erwägungen heraus hat das Oberlandesgericht Tübingen in dem Beschluß vom 16. Juni 1950 - W 89/50, Deutsche Rechts-Zeitschrift 1950 S. 453, seine Zuständigkeit in einer Wohnraumbewirtschaftungssache für gegeben angesehen, da der Verwaltungsrechtsweg verschlossen sei und deshalb die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in Frage komme.
Wie bereits in dem Schreiben des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen zum Ausdruck kommt, ist die Rechtsnatur von Verwaltungsakten, die die Verwaltungsbehörden nach ihrem Ermessen zu treffen haben, im Rahmen dieses Rechtsproblems von besonderer Bedeutung. Derartige Ermessensakte stellen im Rahmen der AO, z. B., der Erlaß einer Steuer nach § 127 Absatz 1 AO, der Erlaß einer Steuer nach § 131 Absatz 1 AO dar. Man war vielfach der Auffassung, daß hier niemals ein Rechtsanspruch eines Steuerpflichtigen (Stpfl.) bestehe und deshalb auch eine gerichtliche Zuständigkeit nicht in Frage kommen könne. Diese Auffassung ist nicht zutreffend. Bereits § 297 Absatz 1 AO spricht aus, daß im Rechtsbeschwerdeverfahren bei Ermessensentscheidungen zu prüfen ist, ob sich die Entscheidung innerhalb der Grenzen hält, die das Gesetz dem Ermessen zieht. Es kam auf diese Weise zum Ausdruck, daß das Gesetz in der überschreitung der Ermessensgrenzen einen Rechtsverstoß und damit die Zuständigkeit einer Rechtsbeschwerde-Instanz zur Nachprüfung des Vorliegens eines Rechtsverstoßes als gegeben sah. Klarer zeigen dies noch die Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetze, die auf Grund des Kontrollratsgesetzes (KontrRG) Nr. 36 vom 10. Oktober 1946 über Verwaltungsgerichte erlassen worden sind.
Nach § 23 der im wesentlichen gleichlautenden Verwaltungsgerichtsgesetze der Länder der amerikanischen Zone kann, soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist, nur klagen, wer ein ihm zustehendes Recht geltend macht oder eine ihm angesonnene Verbindlichkeit bestreitet. Ebenso kann nach § 23 Absatz 1 der Verordnung Nr. 165 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone die Anfechtung eines Verwaltungsaktes nur darauf gestützt werden, daß der Verwaltungsakt den Kläger in seinen Rechten beeinträchtige, weil er rechtswidrig sei. Diese Voraussetzungen sind nach § 36 der Gesetze für die amerikanische Zone dort, wo die Behörden ermächtigt sind, nach ihrem Ermessen zu befinden, erfüllt, wenn die Klage darauf gestützt wird, daß von diesem Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht sei, insbesondere, daß Ermessensmißbrauch vorliege. ähnlich ordnet § 23 Absatz 3 der Verordnung Nr. 165 an, daß bei Ermessensakten der Verwaltungsbehörden die Anfechtung nur darauf gestützt werden kann, daß die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei.
Die Verwaltungsbehörden haben im demokratischen Rechtsstaat den Willen der gesetzgebenden Gewalten, wie er in den Rechtsnormen seinen Ausdruck findet, zu vollziehen. Die Verwaltung muß eine gesetzmäßige sein. Dies gilt auch dort, wo der Gesetzgeber nicht für einen bestimmten, genau umrissenen Tatbestand die Regelung trifft, sondern wo er mit Rücksicht auf die Vielgestaltigkeit der Verhältnisse nur einen Rahmen gibt und die Verwaltungsbehörden anweist, diesen Rahmen nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen auszufüllen.
Die Grenzen des Ermessens ergeben sich aus der gesetzlichen Bestimmung, durch die die Ermächtigung den Verwaltungsbehörden übertragen wird. Bedeutsam ist hierbei insbesondere auch der Zweck der Vorschrift. Es sind aber auch die Grenzziehungen zu beachten, die der Gesetzgeber in anderen Vorschriften aufgestellt hat. So bestimmte § 11 AO 1931, daß die Entscheidungen nach Recht und Billigkeit zu treffen seien. Siehe auch Rechtssatz 2 der Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 81/50 S vom 23. Februar 1951, Bundessteuerblatt (BStBl.) 1951 Teil III S. 77. Die andersartige Fassung in den Vorschriften des § 297 Absatz 2 AO 1934 und § 2 Absatz 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) kann nicht mehr als rechtsgültig angesehen werden, da sie mit dem heutigen Recht nicht vereinbar ist. Wenn der Gesetzgeber anordnet, daß die Ermessensentscheidungen nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit, d. h. dem Zweck des Gesetzes entsprechend ergehen müssen, so hat er damit Ermessensgrenzen aufgestellt. Die Begriffe Billigkeit und Zweckmäßigkeit sind Rechtsbegriffe, die durch die Steuergerichte auszulegen sind. Im einzelnen siehe Seweloh "Die Steuer" 1948 Sp. 139 ff. Die Entscheidung der Verwaltungsbehörde muß nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgen, sie darf nicht offensichtlich willkürlich sein.
Besonders deutlich tritt der Rechtsverstoß einer Ermessensentscheidung bei Verletzung der Bestimmungen des Artikels 3 GG zutage. Die Stpfln. werden unter Bezug auf diese Vorschrift häufig behaupten, vom Finanzamt im Vergleich mit anderen Stpfln. ungleichmäßig behandelt worden zu sein. Nach Artikel 3 Absatz 3 GG darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Wird einem Stpfl. eine Stundung, ein Steuernachlaß deshalb versagt, weil er einer bestimmten politischen Richtung angehört, so liegt ein Rechtsverstoß im Sinne des Artikels 19 Absatz 4 GG vor, der vor den Gerichten geltend gemacht werden kann. Nach § 90 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesgesetzblatt - BGBl. - 1951 Teil I S. 243) kann wegen des Rechtsverstoßes sogar die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben werden.
Die weitere Frage ist die, ob die Steuergerichte als die zuständigen Gerichte im Sinne des Artikels 19 Absatz 4 GG auch dort anzusehen sind, wo die AO in der vor 1945 gültigen Fassung eine Zuständigkeit der Steuergerichte nicht ausgesprochen hat. Eine gleichartige Frage bestand bereits bei Anwendung der Generalklausel der Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetze. Siehe z. B. § 22 Absatz 1 der Gesetze für die amerikanische und § 22 Absätze 1 und 3 der Verordnung Nr. 165 für die britische Zone. Es war insbesondere in der britischen Besatzungszone die Zuständigkeit der Finanzgerichte hinsichtlich der Rechtsmittel bei Vorauszahlungen, die sich aus der Verordnung Nr. 175 über die Wiedererrichtung von Finanzgerichten nicht zwingend ergab, Gegenstand von Erörterungen. Die Finanzgerichte der britischen Zone haben überwiegend ihre Zuständigkeit bejaht und hierbei die Auffassung vertreten, daß sie die besonderen Verwaltungsgerichte für Steuersachen im Sinne des § 22 Absatz 3 der Verordnung Nr. 165 darstellten. Siehe die Begründung des Finanzgerichts in der Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 81/50 S vom 23. Februar 1951, BStBl. 1951 Teil III S. 77. Einen im wesentlichen gleichen Standpunkt haben das Landesverwaltungsgericht Hamburg in einer Entscheidung vom 9. November 1949 III a VG 2873/49 und das Hamburgische Oberverwaltungsgericht in einer Entscheidung vom 6. Februar 1950 Bf. II 718/49 eingenommen. Der Bundesfinanzhof ist dieser Auffassung hinsichtlich der Vorauszahlungen in der Entscheidung IV 15/51 S vom 23. Februar 1951, BStBl. 1951 Teil III S. 75, und der oben erwähnten Entscheidung IV 81/50 S beigetreten.
Die Stpfln. haben sich auf Grund der Generalklausel der Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetze bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden in beachtlichem Umfang an die allgemeinen Verwaltungsgerichte gewandt. Diese Gerichte haben vielfach ihre Zuständigkeit mit der Begründung bejaht, daß die Finanzgerichte sich bisher noch nicht für zuständig erklärt hätten und auch darauf hingewiesen, daß zweckmäßigerweise diese Streitsachen durch die Finanzgerichte bearbeitet würden. Siehe hierzu Bachof in dem oben mitgeteilten Buch über die verwaltungsgerichtlichen Akte usw. S. 95 f.
Bei Prüfung dieser Frage ist auch Artikel 96 Absatz 1 GG von Bedeutung, der für das Gebiet der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit obere Bundesgerichte vorsieht. Das GG geht somit von der Aufgliederung der Gerichte nach der Natur der Streitsachen aus. Dieses Ziel wird nur dann erreicht, wenn die auf einem Rechtsgebiet anfallenden Streitsachen dem für dieses Gebiet vorgesehenen Gericht zugewiesen werden. Eine übertragung von Streitigkeiten über Abgaben nach § 3 und § 4 AO unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Rechtszustandes an die allgemeinen Verwaltungsgerichte oder die ordentlichen Gerichte widerspricht dem Grundgedanken des Artikels 96 GG.
Der Große Senat kommt zu der Auffassung, daß die Steuergerichte in Abgabesachen nach § 3 und § 4 AO auch in den Fällen zuständig sind, wo Artikel 19 Absatz 4 GG einen erweiterten Rechtsschutz durch Gerichte gegenüber dem Enumerationsprinzip der AO 1939 gewährt. Dies gilt auch dort, wo bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden eine überschreitung der Ermessensgrenzen und damit ein Rechtsverstoß im Sinne des Artikels 19 Absatz 4 GG behauptet wird. Es fehlt wohl noch an einer Gesetzesvorschrift, die das ausdrücklich ausspricht. Die Frage muß aber nach den allgemeinen Grundsätzen beantwortet werden, die sich aus dem Aufbau der Finanzgerichtsbarkeit und ihrem Zweck ergeben. Ihrer Natur nach müssen diese Streitigkeiten durch die Gerichte entschieden werden, die nach ihrem allgemeinen Aufgabenkreis, nach ihrer Sachkunde und nach ihrer Besetzung als die zuständigen Gerichte im Sinne des Artikels 96 GG anzusehen sind. Die Steuergerichte sind für diese Streitsachen die besonderen Verwaltungsgerichte im Sinne des § 22 der Verwaltungsgerichtsgesetze der amerikanischen und der britischen Zone. Bei dieser Gelegenheit sei betont, daß hier aus Vereinfachungsgründen der Ausdruck "Steuergerichte" allgemein für Finanzgerichte und Bundesfinanzhof verwandt wird. Die Grundsätze des Gutachtens gelten aber auch, soweit von diesen Gerichten über Zollsachen entschieden wird.
Mit der Bejahung der Zuständigkeit der Steuergerichte ist eng die Frage des Verfahrens einschließlich des Rechtsweges vor den Steuergerichten verbunden. Hierbei wird im folgenden das Verfahren bei behauptetem Rechtsverstoß in reinen Ermessensakten der Verwaltungsbehörden behandelt.
Das Wesen dieser Akte besteht darin, daß die Ausübung des Ermessens grundsätzlich den Verwaltungsbehörden zusteht, die Gerichte nur das Recht und die Pflicht haben, zu prüfen, ob die Verwaltungsbehörden die Grenzen des Ermessens eingehalten haben, ob also bei Ausübung des Ermessens kein Verstoß im Sinne des Gesetzes vorgekommen ist. Die Rechtslage unterscheidet sich grundlegend von den Fällen, wo im Rahmen einer Veranlagung die veranlagende Behörde Ermessensentscheidungen zu treffen hat. Siehe die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs IV 44/50 S vom 2. Februar 1951, BStBl. 1951 Teil III S. 55, und IV 81/50 S vom 23. Februar 1951, BStBl. 1951 Teil III S. 77. Da das Steuergericht im allgemeinen bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden nicht selbst den Ermessensrahmen ausfüllen kann, entspricht es den gegebenen Verhältnissen, daß zuerst die Behörden angerufen werden, die nicht nur eine Prüfung hinsichtlich der Einhaltung der Ermessensgrenzen vornehmen können, sondern auch in der Lage sind, an die Stelle des Ermessens der nachgeordneten Behörde ihr eigenes Ermessen zu setzen, wenn ihr Ermessen von dem Ermessen der nachgeordneten Behörde abweicht. Im Rahmen der Dreiteilung der Gewalten, auf der der demokratische Rechtsstaat aufgebaut ist, wird die Ausübung des Ermessens bei den hier in Frage stehenden reinen Ermessensakten den Verwaltungsbehörden vorbehalten. Dieser Regelung entspricht es, daß die Gerichte erst dann in Anspruch genommen werden können, wenn die zulässigen Rechtsbehelfe nach § 237 AO bei den Verwaltungsbehörden ausgeschöpft sind. Gleichartige Grundsätze enthält auch § 90 Absatz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetze treffen meist ebenfalls eine entsprechende Anordnung. Nach den Gesetzen für die britische und die amerikanische Besatzungszone muß der Klage vor den Verwaltungsgerichten das Einspruchsverfahren (§ 38 der Gesetze für die amerikanische Zone, § 44 der Verordnung Nr. 165) oder das Beschwerdeverfahren - Beschwerde zur nächsthöheren Verwaltungsbehörde - (§ 48 der Gesetze für die amerikanische Zone, § 49 der Verordnung Nr. 165) vorhergehen. Siehe hierzu insbesondere auch Artikel I der Zweiten Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 30. September 1949 für Bayern (Gesetz- und Verordnungsblatt - GVBl. - 1949 S. 260) und die Verordnung über Rechtsmittel in Verwaltungssachen im Lande Niedersachsen vom 20. Januar 1949 (GVBl. 1949 S. 56). Während für die Veranlagung der Steuern nach der AO dem steuergerichtlichen Verfahren das Einspruchsverfahren vorhergeht, sieht die AO bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden in § 237 die Beschwerde vor. Diese Bestimmung steht mit Artikel 19 Absatz 4 GG nicht in Widerspruch und gilt weiter. Sie entspricht auch, wie bereits oben dargestellt, den besonderen Verhältnissen der reinen Ermessensakte. Die Bestimmung des § 304 Absatz 4 AO, daß gegen Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen kein Rechtsmittel zulässig ist, ist durch Artikel 19 Absatz 4 GG überholt. Das hat zur Folge, daß die Anrufung der Steuergerichte erst gegen Beschwerdeentscheidungen der Verwaltungsbehörden gegeben ist, sofern die Möglichkeit einer Verwaltungsbeschwerde besteht. Dieses Verfahren trägt auch dem Gesichtspunkt Rechnung, daß die Ermessensakte ganz überwiegend bei den Verwaltungsbehörden selbst behandelt und erledigt werden müssen, und daß sich die Inanspruchnahme der Steuergerichte auf Ausnahmefälle beschränken soll. Es sind die gleichen Erwägungen, die auch in der Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 15/51 S zum Ausdruck kommen.
Eine unmittelbare Anrufung der Finanzgerichte kommt nur dann in Frage, wenn die AO kein Beschwerdeverfahren vorsieht, also dort, wo die Finanzministerien als Verwaltungsbehörden erster Instanz entscheiden.
Hieraus ergibt sich, daß in diesen Fällen eine Zuständigkeit der Finanzgerichte gegeben ist gegen Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen und der Finanzministerien und gegen erstinstanzielle Entscheidungen der Ministerien.
In einzelnen Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetzen ist gegen Ermessensakte einschließlich der Beschwerdeentscheidungen der Ministerien eine unmittelbare Zuständigkeit des obersten Verwaltungsgerichtes des Landes vorgesehen. Für eine gleichartige Regelung in Steuersachen bietet die AO keine Unterlage. Es erscheint auch fraglich, ob es dem Grundgedanken des Artikels 19 Absatz 4 GG gerecht wird, wenn gerade in den bedeutsameren Fällen nur eine gerichtliche Instanz gewährt wird. Den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates entspricht es, daß die Zuständigkeit der Gerichte nicht nach der Person und Stellung der Beteiligten, sondern nach dem Streitgegenstand geregelt wird. Für diese Frage erscheinen auch die Bestimmungen des Artikels 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 3 GG von Bedeutung. Im übrigen ist noch folgendes beachtlich. Die Frage, ob eine Ermessensüberschreitung vorliegt, ist mit der Feststellung tatsächlicher Vorgänge eng verbunden. Diese Feststellung wird zweckmäßigerweise durch ein Finanzgericht getroffen. Das Rechtsbeschwerdeverfahren der AO kennt in § 288 AO nur eine begrenzte Würdigung in tatsächlicher Hinsicht. Der Senat hält das Verfahren der unmittelbaren Anrufung des Bundesfinanzhofs in reinen Ermessensakten der Ministerien nicht für zweckmäßig. Siehe auch Finanz-Rundschau 1951 S. 4.
Die Finanzgerichte entscheiden im Berufungsverfahren und somit durch Urteil. Siehe auch § 78 der Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetze für die amerikanische Zone und § 72 der Verordnung Nr. 165. Gegen diese Entscheidung ist die Rechtsbeschwerde (Rb.) an den Bundesfinanzhof nach den allgemeinen Grundsätzen zulässig.
Das Einspruchsverfahren bei den Finanzämtern ist nicht als gerichtliches Verfahren im Sinne des Artikels 19 Absatz 4 GG anzusehen. Im einzelnen siehe hierzu Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 16/51 S vom 2. März 1951, BStBl. 1951 Teil III S. 81.
Die Steuergerichte haben bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden lediglich das Recht und die Pflicht zur Prüfung, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens durch die Finanzverwaltungsbehörden eingehalten sind. Sie sind nicht berechtigt, selbst das Ermessen auszuüben. Kommt das Gericht zu der überzeugung, daß die Berufung berechtigt ist, daß also ein Rechtsverstoß vorliegt, so hebt es den mit Rechtsmängeln behafteten Bescheid der Verwaltungsbehörde auf. Siehe auch § 79 Absatz 1 der Verwaltungsgerichtsgesetze für die amerikanische Zone und § 75 Absatz 1 der Verordnung Nr. 165 für die britische Zone. Hierbei hat es gegebenenfalls in den Gründen auszuführen, wo nach seiner Auffassung die Grenzen des Ermessens hinsichtlich der umstrittenen Vergünstigung oder Verpflichtung liegen.
Anders ist die Rechtslage dort, wo die Sachlage die Ermessensgrenzen so einengt, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich ist, während jede andere notwendig zu einem Ermessensfehler führen müßte. In einem derartigen Fall ist ein positiver Ausspruch des Gerichtes zulässig (siehe Bachof, Süddeutsche Juristenzeitung 1948 S. 750, und § 79 Absatz 3 der Verwaltungsgerichtsgesetze für die amerikanische Zone sowie § 75 Absatz 3 der Verordnung Nr. 165 für die britische Zone).
Wie in § 70 des Landesgesetzes für Rheinland-Pfalz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 14. April 1950 (GVBl. 1950 S. 103) ausdrücklich ausgesprochen wird, bindet das rechtskräftige Urteil die Verwaltungsbehörden mit der Wirkung, daß sie gegen den Willen der Beteiligten nichts verfügen können, was davon abweicht.
Fundstellen
Haufe-Index 407222 |
BStBl III 1951, 107 |
BFHE 55, 277 |