Leitsatz (amtlich)
Eine Verfügungs- und Veränderungssperre gemäß § 51 Abs. 1 BBauG, die während der Fünfjahresfrist in Kraft tritt, ist ein Hindernis im Sinne des § 4 Abs. 10 Hessisches GrEStG (Fassung 1965).
Normenkette
BBauG § 51 Abs. 1; Hess. GrEStG § 4 Abs. 10
Tatbestand
Die Kläger - Eheleute - hatten durch Vertrag ein Grundstück gekauft und in dem Vertrag Befreiung von der Grunderwerbsteuer beantragt. Der Vertrag war unter der Auflage, Bauvorhaben nur im Rahmen des gemeindlichen Bauleitplanes vorzunehmen, genehmigt worden. Das FA (Beklagter) hatte durch vorläufigen Steuerbescheid Grunderwerbsteuer für den 600 qm überschießenden Teil des Grundstücks gegen beide Kläger festgesetzt. Die zu Lasten des Klägers, der Flüchtling ist, festgesetzte Steuer wurde erlassen und nach Zahlung der auf die Klägerin entfallenden Grunderwerbsteuer die Unbedenklichkeitsbescheinigung am 7. Oktober 1964 erteilt.
Fünf Jahre später war das Wohnhaus der Kläger noch nicht errichtet.
Das FA setzte durch endgültigen Steuerbescheid die Grunderwerbsteuer nach dem vollen Kaufpreis gemäß § 4 Abs. 3 des Hessischen Grunderwerbsteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Grunderwerbsteuerrechts vom 16. Dezember 1963 (Hessisches Gesetz- und Verordnungsblatt I S. 192), neu gefaßt am 31. Mai 1965 (GrEStG) fest.
Die Einsprüche und die Klagen blieben ohne Erfolg. Die Kläger haben in beiden Verfahren vorgetragen, daß im Zeitpunkt des Kaufs ein Flächennutzungsplan für das Gebiet vorhanden war, und das Aufstellen des Bebauungsplanes durch die Gemeinde (1. September 1966), der späte Eintritt der Rechtsverbindlichkeit dieses Planes (6. März 1968) sowie schließlich das Baulandumlegungsverfahren (beschlossen am 1. April 1965) den Baubeginn verzögert hätten. Diese Verzögerungen hätten sie - obwohl ihnen die Vorhaben der Gemeinde beim Grundstückserwerb bekannt gewesen seien - nicht zu vertreten. Durch diese auf öffentlichem Recht beruhenden Hindernisse habe die Fünfjahresfrist nicht eingehalten werden können. Diese habe vielmehr mit dem Wegfall des Hindernisses erneut zu laufen begonnen (§ 4 Abs. 10 Hess. GrEStG). Die Gemeinde habe ihnen auf verschiedene Anfragen mitgeteilt, daß vor Abschluß des Umlegungsverfahrens und des Verfahrens zur Aufstellung des Bebauungsplanes keine Baugenehmigungen erteilt werden würden.
Die Kläger rügen die Verletzung des § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger ist begründet.
Das angefochtene Urteil verletzt § 4 Hess. GrEStG. Der Grundstückserwerb der Kläger ist von der Besteuerung ausgenommen. Die Fünfjahresfrist war bei Erlaß der Steuerbescheide noch nicht abgelaufen (§ 4 Abs. 3, Abs. 10 Hess. GrEStG).
Der Erwerb eines unbebauten Grundstücks zur Schaffung von begünstigtem Wohnraum unterliegt grundsätzlich mit dem Ablauf von fünf Jahren, vom Tage der Ausstellung der Unbedenklichkeitsbescheinigung an gerechnet, der Steuer, wenn das Grundstück nicht innerhalb dieses Zeitraums von dem Erwerber zu dem steuerbegünstigten Zweck verwendet worden ist (§ 4 Abs. 3 Nr. 1 Hess. GrEStG). Der Lauf dieser Fünfjahresfrist wird unterbrochen, wenn ein Hindernis eintritt, das auf öffentlichem Recht beruht und der Verwirklichung des begünstigten Zwecks entgegensteht; die Frist beginnt dann nach Wegfall des Hindernisses erneut zu laufen (§ 4 Abs. 10 Hess. GrEStG).
Im Streitfall greift die Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG zu Gunsten der Kläger ein. Das FG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß diese Vorschrift keine Anlaufhemmung der Frist vorsieht, und daß das Hindernis, das während des Fristenlaufs die Nichteinhaltung der Frist auslöst, auf öffentlichem Recht beruhen muß. Das FG hat jedoch die Anwendungsmöglichkeit des § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG im Streitfall verkannt.
Der Senat läßt dahingestellt, ob in den Verzögerungen bei der Aufstellung des Bebauungsplanes und im Planfeststellungsverfahren ein Hindernis im Sinne des § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG gesehen werden könnte, und ob der Kenntnis der Kläger von diesen Planungsvorhaben entscheidungserhebliche Bedeutung zukäme.
Die Fünfjahresfrist war im Streitfall durch das am 1. April 1965 von der Gemeinde formell und materiell wirksam beschlossene Umlegungsverfahren unterbrochen und hat nach dessen Beendigung erneut zu laufen begonnen. Die Kläger waren mit dem erworbenen Grundstück, das im Umlegungsgebiet gelegen war, an diesem Verfahren beteiligt (§§ 47, 48 Abs. 1 BBauG).
Die Verfügungs- und Veränderungssperre (§ 51 Abs. 1 BBauG), die ohne gesonderte Anordnung mit der Bekanntmachung des Umlegungsbeschlusses (§ 50 BBauG) in Kraft trat, bewirkte ein Verbot, das die Bodenordnungsmaßnahme als solche sicherte und im öffentlichen Interesse lag. Dieses Verbot und die damit eintretenden Rechtswirkungen haben die betroffenen Eigentümer von dem Zeitpunkt der Bekanntmachung des Umlegungsbeschlusses an zu beachten. Das Verbot galt auch (u. a. ) für die Errichtung genehmigungsbedürftiger baulicher Anlagen (§ 51 Abs. 1 Nr. 4 BBauG). Es bildete damit - ohne daß es in solchen Fällen einer besonderen Prüfung der Ursächlichkeit bedarf - eine zusätzliche Erschwernis für die bauwilligen Kläger, ihr Bauvorhaben zu verwirklichen und in dem gesetzlich vorgeschriebenen Zeitraum fertigzustellen.
Diese (Teil-) Wirkung rechtfertigt es, die Verfügungsund Veränderungssperre nach § 51 BBauG als Hindernis im Sinne des § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG anzusehen. Für die Anwendung dieser Gesetzesvorschrift genügt es, daß - abstrakt betrachtet - während des Fünfjahreszeitraums ein Hindernis eingetreten ist. Etwas anderes kann dem Gesetz ("... ein ... Hindernis ...") nicht entnommen werden.
Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob das Hindernis durch (die bauaufsichtliche Genehmigung des Bauvorhabens und) die Genehmigung gemäß § 51 Abs. 1 und 3 BBauG hätte beseitigt werden können oder nicht. Zwar handelt es sich bei der Verfügungs- und Veränderungssperre nach der gesetzlichen Regelung um ein präventives Verbot mit Genehmigungsvorbehalt (§ 51 Abs. 1 BBauG; vgl. Brügelmann/Stahnke, Bundesbaugesetz, Kommentar, § 51 Bem. I 1 Buchst. b). Daher hätte die Gemeinde, wie das FG rechtlich zutreffend ausführt, die (zusätzliche) Genehmigung nach § 51 BBauG nur versagen dürfen, wenn Grund zu der Annahme bestanden hätte, "daß das Vorhaben die Durchführung der Umlegung unmöglich machen oder wesentlich erschweren würde" (§ 51 Abs. 3 BBauG). Unabhängig davon läßt jede Verfügungs- und Veränderungssperre gemäß § 51 Abs. 1 BBauG die Vergünstigung des § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG zugunsten des Betroffenen eingreifen.
Diese Auslegung der Gesetzesvorschrift durch den Senat rechtfertigt sich aufgrund der bewußt weiten Fassung, die der Gesetzgeber der Vorschrift gegeben hat. Dadurch wird zugleich eine Annäherung an die gesetzlichen Regelungen der Mehrzahl der anderen Länder (Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saar und Schleswig-Holstein) erreicht, nach denen eine Verfügungs- und Veränderungssperre gemäß § 51 Abs. 1 BBauG ausdrücklich als Hinderungsgrund anerkannt ist und die - zum Teil unterschiedliche - Frist zur Bebauung "mit dem Wegfall dieser Hinderungsgründe erneut zu laufen" beginnt (vgl. für die in ihrem Wortlaut im wesentlichen übereinstimmenden Gesetzesvorschriften, z. B. Art. 2 des Bayerischen Gesetzes über die grunderwerbsteuerliche Behandlung von Erwerbsvorgängen aus dem Bereich des Bundesbaugesetzes vom 26. Oktober 1962, GVBl Bayern 1962, 280 mit späteren Änderungen). § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG soll darüber hinaus unter den dort genannten Voraussetzungen zugunsten der Steuerpflichtigen unbillige Steuernachforderungen ausschließen. Nach der amtlichen Begründung zu § 4 Abs. 10 Hess. GrEStG (vgl. Hessischer Landtag - V. Wahlperiode - Drucksache Abt. I Nr. 309 unter "B Art. I zu Ziff. 22") ist eine Steuernachforderung infolge Nichteinhaltung der Frist schon dann für unbillig zu halten, wenn diese "letztlich durch eine Maßnahme der öffentlichen Hand ausgelöst" wurde.
Bei dieser Rechtsauffassung des Senats kommt es für die Entscheidung nicht auf das (subjektive) Verhalten der Kläger in dem konkreten Fall an.
Fundstellen
Haufe-Index 71945 |
BStBl II 1976, 648 |
BFHE 1977, 312 |