Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Haftung des Betriebsübernehmers beim Erwerb vom Sequester
Leitsatz (amtlich)
Die Haftungsfreistellung des Betriebsübernehmers nach § 75 Abs. 2 AO 1977 gilt auch dann, wenn der Erwerb des Unternehmens vom Sequester im Einvernehmen mit dem Konkursgericht erfolgt und sich die Eröffnung des Konkursverfahrens an die Sequestration anschließt.
Orientierungssatz
1. Aus einer Konkursmasse i.S. des § 75 Abs. 2 AO 1977 wird ein Unternehmen erworben, wenn der Erwerb nach Eröffnung und vor Aufhebung des Konkursverfahrens erfolgt; ist die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden, so greift der Haftungsausschluß gemäß § 75 Abs. 2 AO 1977 nicht ein.
2. Für die der Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 AO 1977 vergleichbaren zivilrechtlichen Haftungstatbestände der Vermögensübernahme nach § 419 BGB und des Erwerbs eines Handelsgeschäfts unter Lebenden gemäß § 25 HGB wird --hier ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung-- ein Haftungsausschluß angenommen beim Erwerb des Vermögens bzw. des Handelsgeschäfts im Wege der Zwangsversteigerung, vom Nachlaßverwalter, aus einer Konkursmasse vom Konkursverwalter oder im Vergleichsverfahren, da diese gerichtlich kontrollierten Verfahren die bestmögliche Vermögensverwertung im Interesse der Gläubiger bezwecken, der eine Haftung des Erwerbers zuwiderlaufen würde (vgl. BGH-Urteil vom 11.4.1988 II ZR 313/87).
3. Der erkennende Senat hat im Rahmen der ihm obliegenden Auslegung des Haftungsprivilegs gemäß § 75 Abs. 2 AO 1977 Zweifel, ob die Betrachtungsweise des BGH im Urteil vom 11.4.1988 II ZR 313/87 --Erwerb eines Handelsunternehmens aus der Hand eines Sequesters schließt die Anwendbarkeit der Haftungsvorschriften von § 25 Abs. 1 HGB und § 419 BGB nicht aus-- der Interessenlage der Beteiligten in den Fällen gerecht wird, in denen es im Interesse der Gläubiger mit Zustimmung des Schuldners und unbeanstandet durch das Konkursgericht tatsächlich zu einer wirksamen Veräußerung des Unternehmens im Ganzen durch den Sequester gekommen ist.
Normenkette
AO 1977 § 75 Abs. 1-2; BGB § 419; HGB § 25
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches FG (Entscheidung vom 30.09.1997; Aktenzeichen IV 193/94; EFG 1998, 163; LEXinform-Nr. 0145292) |
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) will den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) als Haftungsschuldner für Umsatzsteuerrückstände des Einzelunternehmens Vermögensverwaltung B in Anspruch nehmen, die aus der Übernahme des Betriebes des B durch den Kläger aufgrund eines notariellen Kaufvertrages mit einem Sequester resultieren.
B war Besitzunternehmer im Rahmen einer Betriebsaufspaltung mit einer GmbH, die auf dem Grundstück des B einen Kraftfahrzeughandel betrieb. Die steuerpflichtigen Umsätze des B bestanden in der Vermietung des Betriebsgrundstücks und des beweglichen Anlagevermögens an die GmbH. Sowohl B als auch die GmbH stellten im November 1990 Anträge auf Eröffnung des Konkursverfahrens über ihr Vermögen, worauf das zuständige Amtsgericht den Steuerberater G zum Sequester bestellte. In dieser Eigenschaft veräußerte G durch notariellen Kaufvertrag vom 28. Dezember 1990 den Betrieb der GmbH und das dazu gehörige Grundstück des B an den Kläger, nachdem er dies dem Konkursgericht zuvor angekündigt hatte. Am 31. Dezember 1990 wurden sodann die Konkursverfahren über die Vermögen des B und der GmbH eröffnet und der bisherige Sequester zum Konkursverwalter bestellt.
Das FA hat den Kläger als Betriebsübernehmer durch Haftungsbescheid gemäß § 75 der Abgabenordnung (AO 1977) für die nicht entrichtete Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld des B für Dezember 1990 in Anspruch genommen. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage des Klägers führte zur Aufhebung des Haftungsbescheids. Das Finanzgericht (FG), dessen Urteil (Entscheidungsgründe) in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 163 bis 165 abgedruckt ist, führte im wesentlichen aus: Zwar sei der Haftungstatbestand des § 75 Abs. 1 AO 1977 erfüllt. Der Kläger könne sich jedoch auf das Haftungsprivileg nach § 75 Abs. 2 AO 1977 berufen, da der Erwerb des Betriebes von dem Sequester im Streitfall wegen des unmittelbaren zeitlichen und ursächlichen Zusammenhangs zwischen Sequestration, Unternehmensveräußerung und anschließender Konkurseröffnung einen Erwerb im Rahmen eines Vollstreckungsverfahrens im Sinne dieser Vorschrift darstelle.
Mit der Revision macht das FA geltend, die Vorinstanz habe die Vorschrift des § 75 Abs. 2 AO 1977 unzutreffend angewandt. Die darin enthaltene Aufzählung der haftungsprivilegierten Erwerbe sei abschließend und eine analoge Anwendung des § 75 Abs. 2 AO 1977 auf einen Erwerb von dem Sequester sei ebensowenig zulässig wie die Subsumtion dieses Erwerbs unter den Begriff des Erwerbs im Vollstreckungsverfahren. Es sei davon auszugehen, daß der Gesetzgeber bei der Neufassung der AO 1977 den Fall des Erwerbs eines Unternehmens vom Sequester, der ihm nicht unbekannt gewesen sein könne, bewußt nicht in das Haftungsprivileg aufgenommen habe.
Die Sequestration habe nicht wie die in § 75 Abs. 2 AO 1977 aufgezählten Erwerbsmodalitäten die bestmögliche Verwertung des schuldnerischen Vermögens im Interesse der Gläubiger zum Ziel, sondern lediglich dessen Sicherung und Verwahrung zum Zwecke der Vorbereitung eines möglichen Konkurses. Der Sequester unterscheide sich daher in seinen Aufgaben und seiner Stellung --wie auch der Bundesgerichtshof (BGH) klargestellt habe-- deutlich vom Konkursverwalter, so daß auch im Falle einer ggf. aus zwingenden Gründen als zulässig anzusehenden Unternehmensveräußerung während der Sequestration diese Veräußerung dem Schuldner rechtlich näher stehe als dem Konkursverwalter. Auch eine noch so starke Verknüpfung der Sequestration mit dem sich anschließenden Konkursverfahren --wie sie das FG für den Streitfall festgestellt habe-- könne nicht zur Anwendung des Haftungsprivilegs führen. Anderenfalls bestünde nämlich die Gefahr, daß unzulässigerweise Steuerrechtsgestaltung betrieben werden könne.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist unbegründet.
1. Das FG hat --ebenso wie das FA-- den Erwerb des im Rahmen einer Betriebsaufspaltung an die GmbH vermieteten Grundstücks des B durch den Kläger deshalb als Übereignung eines Unternehmens im Ganzen i.S. des § 75 Abs. 1 AO 1977 angesehen, weil der Kläger durch den kombinierten "Kaufvertrag/Grundstückskaufvertrag" vom 28. Dezember 1990 zugleich auch das Betriebsunternehmen der GmbH und damit den bislang aufgespaltenen Betrieb insgesamt erworben und ihn in seiner Person zusammengefaßt und fortgeführt hat. Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob der Kläger mit diesem einheitlichen Erwerb auch bezogen auf das Besitzunternehmen des B, auf dessen Betriebssteuern --Umsatzsteuer Dezember 1990-- sich der geltend gemachte Haftungsanspruch erstreckt, den Haftungstatbestand des § 75 Abs. 1 AO 1977 verwirklicht hat. Er ist mit dem FG der Auffassung, daß eine Haftung des Klägers im Streitfall jedenfalls deshalb nach § 75 Abs. 2 AO 1977 ausgeschlossen ist, weil der Erwerb des Grundstücks (Besitzunternehmens) im Einvernehmen mit dem Konkursgericht vom Sequester erfolgte, dem sich die Konkurseröffnung über das Vermögen des B unmittelbar anschloß.
2. a) Nach § 75 Abs. 2 AO 1977 gilt die Haftung des Betriebsübernehmers nicht für Erwerbe aus einer Konkursmasse, für Erwerbe aus dem Vermögen eines Vergleichsschuldners, das aufgrund eines Vergleichsvorschlages nach § 7 Abs. 4 der Vergleichsordnung verwertet wird, und für Erwerbe im Vollstreckungsverfahren. Zweck dieses Haftungsausschlusses ist die Erleichterung der zwangsweisen Vermögensverwertung im Hinblick auf eine bestmögliche Liquidierung im Interesse der Gläubigerbefriedigung. § 75 Abs. 2 AO 1977 soll die geschlossene Verwertung eines Unternehmens erleichtern. Diese wäre, wenn die wesentliche Grundlage des Betriebes der Beschlagnahme oder der Pfandverstrickung unterliegt, in Frage gestellt, wenn der Erwerber noch mit der Haftung für betriebliche Steuerschulden rechnen müßte. Das Haftungsrisiko würde potentielle Interessenten entweder gänzlich von einem Erwerb abhalten oder zumindest zu erheblichen Kaufpreisabzügen führen (vgl. Bauwens, Haftung nach § 75 AO bei Unternehmenskauf vom Sequester, Finanz-Rundschau --FR-- 1988, 384, 385; Schwarz in Schwarz, Abgabenordnung, 11. Aufl., § 75 Rz. 36).
b) "Aus einer Konkursmasse" i.S. des § 75 Abs. 2 AO 1977 wird ein Unternehmen erworben, wenn der Erwerb nach Eröffnung und vor Aufhebung des Konkursverfahrens erfolgt; ist die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden, so greift der Haftungsausschluß gemäß § 75 Abs. 2 AO 1977 nicht ein (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 75 AO 1977 Tz. 9, m.w.N.). Daraus folgt, daß der Erwerb eines Unternehmens im Rahmen einer vom Konkursgericht vor der Konkurseröffnung angeordneten Sequestration --wie im Streitfall-- nicht unmittelbar unter den Begriff des Erwerbs aus der Konkursmasse fällt. Im steuerrechtlichen Schrifttum wird indes im Hinblick darauf, daß das Haftungsprivileg seit der Einführung der AO 1977 auch auf Erwerbe im Vollstreckungsverfahren ausgedehnt worden ist, worunter jedes Verfahren zur Verwirklichung von Leistungs- oder Haftungsansprüchen durch staatlichen Zwang, d.h. in einem gerichtlichen oder behördlichen Verfahren, zu verstehen ist, unabhängig davon, ob die Veräußerung (Verwertung) durch staatliche Stellen oder durch andere Personen (vgl. § 825 der Zivilprozeßordnung --ZPO--, § 65 des Zwangsversteigerungsgesetzes --ZVG--, § 305 AO 1977) erfolgt, die Auffassung vertreten, daß auch der Unternehmenserwerb vom Sequester zum Haftungsausschluß nach § 75 Abs. 2 AO 1977 führt (so Tipke/Kruse, a.a.O., § 75 AO 1977 Tz. 9; Schwarz, a.a.O., § 75 Rz. 37; Bauwens, FR 1988, 384, 386; a.A. Urban, FR 1988, 631, 632); dies soll zumindest dann gelten, wenn sich nach der Sequestration das Konkursverfahren anschließt (Tipke/Kruse, a.a.O.; Handzik, FR 1988, 467, 468).
Für diese Auffassung spricht der Zweck des Haftungsprivilegs gemäß § 75 Abs. 2 AO 1977, der es auch in den Fällen einer aufgrund des Konkursantrags vom Konkursgericht angeordneten Sequestration als sachgerecht erscheinen läßt, die Veräußerung des regelmäßig auch hier überschuldeten bzw. zahlungsunfähigen Unternehmens im Ganzen durch den Sequester mittels Haftungsfreistellung des Erwerbers ebenso wie beim Erwerb durch den Konkursverwalter zu erleichtern. Die weite Auslegung des Begriffs des Vollstreckungsverfahrens, in dem nunmehr Unternehmen im Ganzen ebenfalls haftungsfrei erworben werden können, sogar wenn der Erwerb --wie oben ausgeführt-- nicht im Wege der Versteigerung durch den Gerichtsvollzieher (§ 814 ZPO) oder durch das Vollstreckungsgericht (§ 15 ZVG), sondern im Wege der besonderen Verwertung durch andere Personen (vgl. § 825 ZPO, § 65 ZVG, § 305 AO 1977) erfolgt, und der auch die Fälle der abgesonderten Befriedigung nach §§ 47 ff. der Konkursordnung (KO) umfaßt (Tipke/Kruse, a.a.O., § 75 AO 1977 Tz. 9; Schwarz, a.a.O., § 75 Rz. 37), kann ebenfalls als Beleg dafür herangezogen werden, das Haftungsprivileg des § 75 Abs. 2 AO 1977 auch auf den Unternehmenserwerb vom Sequester anzuwenden. Denn mit der Anordnung der Sequestration durch das Konkursgericht, die als einstweilige Anordnung zur Sicherung der Masse ihre Rechtsgrundlage in § 106 Abs. 1 KO findet, unterliegt das Vermögen des Gemeinschuldners ebenfalls einem auf die Verwirklichung von Ansprüchen ausgerichteten staatlichen Zwangsverfahren. Daß die Sequestration als gerichtlich angeordnetes und überwachtes Verfahren darauf abzielt, das vorhandene Vermögen im Interesse der Gläubiger zu bewahren, schließt --wie das FG ausgeführt hat-- unter besonderen Umständen die Veräußerung des schuldnerischen Unternehmens, dessen Wert sich zu verflüchtigen droht, im Interesse der Gläubiger durch den Sequester nicht aus. Daß unter derartigen Voraussetzungen ein Unternehmensverkauf durch den Sequester jedenfalls mit Zustimmung des Schuldners --wie im Streitfall-- möglich und zulässig sein kann, wird auch von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung angenommen (vgl. BGH-Urteil vom 11. April 1988 II ZR 313/87, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1988, 1912, m.w.N.).
c) Für die der Haftung des Betriebsübernehmers (§ 75 AO 1977) vergleichbaren zivilrechtlichen Haftungstatbestände der Vermögensübernahme nach § 419 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und des Erwerbs eines Handelsgeschäfts unter Lebenden gemäß § 25 des Handelsgesetzbuches (HGB) wird --hier ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung-- ebenfalls ein Haftungsausschluß angenommen beim Erwerb des Vermögens bzw. des Handelsgeschäfts im Wege der Zwangsversteigerung, vom Nachlaßverwalter, aus einer Konkursmasse vom Konkursverwalter oder im Vergleichsverfahren, da diese gerichtlich kontrollierten Verfahren die bestmögliche Vermögensverwertung im Interesse der Gläubiger bezwecken, der eine Haftung des Erwerbers zuwiderlaufen würde (vgl. BGH in NJW 1988, 1912; Möschel in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl., § 419 Rz. 36, und Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 29. Aufl., § 25 Rz. 22, jeweils mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung). Der BGH hat allerdings mit dem vorstehend zitierten Urteil in NJW 1988, 1912 entschieden, daß der Erwerb eines Handelsunternehmens aus der Hand des Sequesters die Anwendbarkeit der Haftungsvorschriften von § 25 Abs. 1 HGB und § 419 BGB nicht ausschließt. Er hat dies damit begründet, daß die Funktionen des Konkursverwalters und des Sequesters nicht miteinander vergleichbar seien. Insbesondere gehöre es weder zu den Rechten noch zu den Pflichten des Sequesters, das Vermögen des Schuldners zwecks Erhalt von Barmitteln zur Verteilung an die Gläubiger zu veräußern. Diese Aufgabe sei allein dem Konkursverwalter vorbehalten. Die Funktion des Sequesters beschränke sich folglich ausschließlich auf die Erhaltung und Sicherung des Schuldnervermögens für den --zu dieser Zeit keineswegs feststehenden-- Fall einer späteren Eröffnung des Konkursverfahrens. Die Sequestration dürfe deshalb nicht als eine Art "Vorkonkurs" und die Stellung des Sequesters nicht als diejenige eines "Vorkonkursverwalters" verstanden werden. Eine trotzdem vorgenommene Veräußerung des Unternehmens vor der Konkurseröffnung während der Sequestration, die allenfalls mit Zustimmung des Schuldners als des Rechtsträgers wirksam sein könne, stehe damit rechtlich einer Veräußerung durch den Schuldner näher als derjenigen durch den Konkursverwalter. Bei dieser Sachlage fehle es an einer inneren Rechtfertigung, die Unternehmensveräußerung durch den Sequester mit Zustimmung des Schuldners unter dem Gesichtspunkt von § 25 Abs. 1 HGB und § 419 BGB derjenigen durch den Konkursverwalter gleichzustellen. Dies müsse jedenfalls dann gelten, wenn sich an die Sequestration nicht die Eröffnung des Konkursverfahrens anschließe, etwa weil sich herausstelle, daß die dafür erforderlichen Voraussetzungen (Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung) nicht erfüllt seien, oder eine kostendeckende Masse nicht vorhanden sei.
d) Der erkennende Senat hat im Rahmen der ihm obliegenden Auslegung des Haftungsprivilegs gemäß § 75 Abs. 2 AO 1977 Zweifel, ob die überwiegend formale, an die regelmäßigen Aufgaben und die Funktion des Sequesters (Erhaltung und Sicherung des Schuldnervermögens) anknüpfende Betrachtungsweise des BGH der Interessenlage der Beteiligten in den Fällen gerecht wird, in denen es im Interesse der Gläubiger mit Zustimmung des Schuldners und unbeanstandet durch das Konkursgericht tatsächlich zu einer wirksamen Veräußerung des Unternehmens im Ganzen durch den Sequester gekommen ist. Hier scheint ihm wegen der Vergleichbarkeit und Nähe zu den Fällen des gesetzlich privilegierten Erwerbs aus der Konkursmasse oder im Vollstreckungsverfahren eine Haftungsfreistellung des Erwerbers zur Erleichterung der Verwertbarkeit des regelmäßig überschuldeten Unternehmens im Interesse aller Beteiligter als näherliegend. Jedenfalls im Hinblick auf die besonderen Umstände des Streitfalles gelangt der Senat mit dem FG zu dem Ergebnis, daß der Kläger als Erwerber des von ihm aus der Hand des Sequesters erworbenen Unternehmens des B für dessen betriebliche Steuerschulden nach § 75 Abs. 2 AO 1977 nicht haftet. Dieser Gesetzesauslegung steht das vorstehend erörterte BGH-Urteil schon deshalb nicht entgegen, weil der BGH für den von ihm entschiedenen Rechtsbereich die Haftung des Erwerbers ausdrücklich nur für den Fall bejaht hat, daß sich an die Sequestration nicht die Eröffnung des Konkursverfahrens anschließt. Der Streitfall unterscheidet sich aber von dem Urteilsfall des BGH dadurch, daß hier unmittelbar im Anschluß an die Unternehmensveräußerung durch den Sequester das Konkursverfahren über das Vermögen des B eröffnet worden ist.
Nach den Feststellungen des FG bestand im Streitfall ein unmittelbarer zeitlicher und ursächlicher Zusammenhang zwischen Sequestration, Unternehmensveräußerung und Konkurseröffnung, da der seinerzeitige Sequester und spätere Konkursverwalter mit Schreiben vom 27. Dezember 1990 das Konkursgericht auf die geplante Veräußerung des Unternehmens an den Kläger hingewiesen und vorgeschlagen hat, im Anschluß daran sogleich das Konkursverfahren zu eröffnen. Aus dem dann folgenden zeitlichen Ablauf --Unternehmensveräußerung am 28. Dezember, Konkurseröffnung am 31. Dezember 1990-- hat das FG gefolgert, daß die Vorgehensweise des Sequesters in Abstimmung mit dem Konkursgericht erfolgt ist und dieses die Veräußerung des Unternehmens noch vor der Konkurseröffnung gebilligt hat, möglicherweise um auf diesem Wege eine den Kosten des Konkursverfahrens entsprechende Masse zu erlangen (§ 107 Abs. 1 Satz 1 KO). Diese naheliegende tatsächliche Schlußfolgerung des FG ist von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden.
Auf eine derartige Sachverhaltsgestaltung, bei der die Veräußerung des Unternehmens durch den Sequester im Benehmen mit dem Konkursgericht vor der beabsichtigten und sodann auch durchgeführten Konkurseröffnung erfolgt ist, muß bei zutreffender Auslegung des Gesetzes das Haftungsprivileg des § 75 Abs. 2 AO 1977 Anwendung finden. Denn Sequestration und Konkursverfahren sind in diesem Falle als einheitliches gerichtlich angeordnetes und überwachtes Verfahren zum Zwecke der Gläubigerbefriedigung anzusehen und der Betriebsübernehmer erwirbt --wie das FG ausgeführt hat-- zwar nicht aus einer gegenwärtigen, wohl aber aus einer künftigen Konkursmasse (vgl. Handzik, FR 1988, 467, 468, und Tipke/Kruse, a.a.O., § 75 AO 1977 Tz. 9). Es kann deshalb für den Haftungsausschluß des Klägers als Erwerber keinen Unterschied machen, ob die Betriebsübereignung --wie im Streitfall-- am 28. Dezember 1990 vom Sequester erfolgt ist oder ob sie unmittelbar nach der Konkurseröffnung --etwa Anfang Januar 1991-- durch dieselbe Person als Konkursverwalter erfolgt wäre. Die von der Revision und der Gegenmeinung im Schrifttum (Urban, FR, 1988, 631, 632) angeführte Gefahr der Steuerrechtsgestaltung durch den Konkursrichter oder den Sequester sieht der Senat deshalb nicht als durchgreifend an. Da der Senat seine Entscheidung --Haftungsfreistellung des Klägers nach den besonderen Umständen des Streitfalles-- im Wege der Gesetzesauslegung des § 75 Abs. 2 AO 1977 gewonnen hat, bedarf es keines Eingehens auf die Einwendung der Revision, die Vorschrift enthalte eine vom Gesetzgeber gewollte abschließende Aufzählung der haftungsprivilegierten Erwerbsformen, so daß für eine generelle analoge Anwendung auf Erwerbe vom Sequester kein Raum sei.
Fundstellen
Haufe-Index 67393 |
BFH/NV 1999, 99 |
BStBl II 1998, 765 |
BFHE 186, 318 |
BFHE 1999, 318 |
BB 1998, 2150 |
BB 1998, 2150 (Leitsatz) |
DStR 1998, 1600 |
DStRE 1998, 850 |
DStRE 1998, 850 (Leitsatz) |
DStZ 1999, 68 |
DStZ 1999, 68-69 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1998, 969 |
StE 1998, 648 |