Leitsatz (amtlich)
Hebt das FG einen Haftungsbescheid auf oder setzt es den Haftungsbetrag durch Urteil herab, so ist der zu erstattende Betrag nicht nach § 236 Abs.1 AO 1977 zu verzinsen.
Orientierungssatz
1. Die Nichtanwendung des § 236 Abs. 1 AO 1977 auf Rechtsstreitigkeiten über Haftungsbescheide entspricht der Regelung des § 237 AO 1977 für Aussetzungszinsen. Auch hier entfällt die Verzinsung, wenn das Rechtsmittel sich gegen einen Haftungsbescheid richtet.
2. Für einen vor dem 1. Januar 1977 beim Gericht anhängig gewordenen und nach dem 31. Dezember 1976 abgeschlossenen Rechtsstreit entstehen Prozeßzinsen ab dem Tag der Rechtshängigkeit ausschließlich nach Maßgabe des § 236 AO 1977 (Festhaltung an BFH-Urteil vom 12.5.1987 VII R 203/83; vgl. auch BFH-Urteile vom 16.12.1987 I R 350/83, vom 2.3.1988 I R 72/74 und vom 26.4.1985 III R 24/82).
Normenkette
AO 1977 §§ 233, 236 Abs. 1, § 237; StSäumG § 4b; EGAO 1977 Art. 97 § 15
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.10.1985; Aktenzeichen XIII/IV 86/79 AO) |
Tatbestand
I. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) nahm den Rechtsvorgänger der Revisionsbeklagten (Kläger) 1974 wegen rückständiger Lohnsteuer des Sportvereins X in Höhe von 204 692,52 DM als Haftenden in Anspruch. Der Kläger hatte dem Verein von 1948 bis 1972 als Präsident, danach als Ehrenpräsident angehört. Das FA verrechnete anschließend die Haftungsforderung mit Umsatzsteuererstattungsansprüchen des Klägers in Höhe von 171 248,59 DM, erstattete diesen Betrag aber wieder, als das Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids verfügte. Die vom Kläger am 2.September 1974 rechtshängig gemachte Klage hatte Erfolg. Das FG hob mit Urteil vom 14.Dezember 1977 den Haftungsbescheid rechtskräftig auf.
Anschließend beantragte der Kläger beim FA die Zahlung von 52 599,50 DM als Ersatz für "zusätzliche Zinskosten". Das FA lehnte den Antrag ab. Das Einspruchsverfahren war erfolglos. Die Klage hatte insoweit Erfolg als das FG das FA verpflichtete, an den Kläger Prozeßzinsen in Höhe von 23 112 DM zu zahlen. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen. In den in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 329 veröffentlichten Gründen führte das FG im wesentlichen aus, dem Kläger stünden für die Zeit bis 31.Dezember 1976 Prozeßzinsen zu. Seit Inkrafttreten der Abgabenordnung (AO 1977), also ab 1.Januar 1977, seien Prozeßzinsen für Haftungsschulden nicht mehr zu zahlen.
Mit der vom FG zugelassenen Revision macht das FA geltend, die Vorentscheidung stehe in Widerspruch zum Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26.April 1985 III R 24/82 (BFHE 143, 408, BStBl II 1985, 546). Nach dieser Entscheidung seien für einen vor dem 1.Januar 1977 bei Gericht anhängig gewordenen und nach dem 31.Dezember 1976 abgeschlossenen Rechtsstreit Zinsen ab dem Tag der Rechtshängigkeit ausschließlich nach Maßgabe des § 236 AO 1977 entstanden. Die vom FG für anwendbar gehaltenen Vorschriften des § 4b des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG) und des § 111 der Finanzgerichtsordnung a.F. (FGO a.F.) seien nicht einschlägig. Das FG habe auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Prozesses abgestellt und sich damit über die Rechtsprechung des BFH und die in ihrer Tendenz auch in der Fachliteratur allgemein vertretene Auffassung hinweggesetzt.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage insgesamt.
Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß dem Kläger für die Zeit ab Rechtshängigkeit der Klage (2.September 1974) bis zum 31.Dezember 1976 Prozeßzinsen nach § 111 Abs.1 FGO a.F. und § 4b StSäumG zustünden. Die Vorentscheidung steht mit der Rechtsprechung des BFH nicht in Einklang.
Mit Urteil in BFHE 143, 408, BStBl II 1985, 546 hat der III.Senat des BFH entschieden, daß für einen vor dem 1.Januar 1977 bei Gericht anhängig gewordenen und nach dem 31.Dezember 1976 abgeschlossenen Rechtsstreit Prozeßzinsen ab dem Tag der Rechtshängigkeit ausschließlich nach Maßgabe des § 236 AO 1977 entstehen. Dieser Rechtsprechung hat sich der erkennende Senat im Urteil vom 12.Mai 1987 VII R 203/83 (BFHE 150, 298, BStBl II 1987, 702; vgl. auch Urteil vom 16.Dezember 1987 I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600 und Urteil vom 2.März 1988 I R 72/84, BFH/NV 1988, 619) angeschlossen. Der Senat hält an dieser Rechtsprechung auch nach erneuter Überprüfung fest.
1. Im Streitfall ist der Anspruch des Klägers auf Prozeßzinsen nach § 236 AO 1977 zu beurteilen. Nach dieser Vorschrift sind Erstattungs- und Vergütungsansprüche zu verzinsen, die sich durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung ergeben. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift wird allgemein geschlossen, daß der Anspruch auf Prozeßzinsen erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung bzw. der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts, durch den sich der Rechtsstreit nach Rechtshängigkeit erledigt hat, entsteht. Erst mit diesen Entscheidungen ist der Tatbestand verwirklicht, an den das Gesetz den Anspruch auf Prozeßzinsen knüpft (§ 38 AO 1977). Der Anspruch auf Prozeßzinsen entsteht somit nicht bereits mit dem Eintritt der Rechtshängigkeit.
2. Nichts anderes gilt nach der Übergangsregelung in Art.97 § 15 Abs.1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977). Nach dieser Vorschrift entstehen Zinsen für die Zeit nach dem 31.Dezember 1976 nach den Vorschriften der neuen AO 1977 und, wie sich daraus im Umkehrschluß ergibt, entstehen Zinsen für die Zeit vor dem 1.Januar 1977 nach den bisherigen Vorschriften. Entgegen der Auffassung des FG kann aus diesem Gesetzeswortlaut nicht geschlossen werden, daß bei einem Rechtsstreit, der --wie im Streitfall-- über den Jahreswechsel 1976/77 fortgedauert hat, die Zinsfrage getrennt zu beurteilen sei, nämlich für die Zeit bis zum 31.Dezember 1976 nach § 111 FGO a.F., § 4b StSäumG und für die Zeit ab dem 1.Januar 1977 nach § 236 AO 1977. Vielmehr kommt es entscheidend auf den Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsstreit endgültig abgeschlossen ist. Liegt dieser Zeitpunkt vor dem 1.Januar 1977, dann regelt sich die Zinsfrage nach § 111 FGO a.F., § 4b StSäumG. Liegt der Zeitpunkt nach dem 31.Dezember 1976, dann beurteilt sich die Zinsfrage ausschließlich nach § 236 AO 1977. Die letztere Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt, denn das den Haftungsrechtsstreit abschließende Urteil des FG erging am 14.Dezember 1977. Der Auffassung des FG, daß § 4b StSäumG für die Zeit bis zum 31.Dezember 1976 auch dann tatbestandlich voll erfüllt werde, wenn z.B. eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung erst nach dem 31.Dezember 1976 ergehe, kann nicht gefolgt werden. Der Anspruch des Klägers auf Prozeßzinsen war am 31.Dezember 1976 gerade noch nicht entstanden.
3. Richtet sich der Anspruch des Klägers auf Prozeßzinsen nach § 236 Abs.1 AO 1977, so stehen dem Kläger die geltend gemachten Zinsen insgesamt nicht zu, weil die Vorschrift nicht für Rechtsstreitigkeiten über Haftungsbescheide gilt (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 13.Aufl., § 236 AO 1977 Tz.2, § 237 AO 1977 Tz.2; Höllig in Koch, Abgabenordnung, 3.Aufl., § 236 AO 1977 Tz.3/2; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung, 15.Aufl., § 236 AO 1977 Anm.2, § 237 AO 1977 Anm.2; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4.Aufl., § 237 AO 1977 Anm.2; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.3994/37). § 236 Abs.1 Satz 1 AO 1977 spricht lediglich von der Herabsetzung einer festgesetzten Steuer und der Gewährung einer Steuervergütung. Darunter fällt nicht die Ermäßigung oder Aufhebung eines Haftungsanspruchs. Mit dem Haftungsbescheid wird keine Steuer festgesetzt, sondern die Haftung für eine Steuer geltend gemacht. Im allgemeinen geht die Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen dem Erlaß eines Haftungsbescheids voraus. Aber selbst dann, wenn ein Haftungsbescheid ergeht, ohne daß die Steuer bereits in einem Steuerbescheid festgesetzt worden ist, wird dadurch die Steuer nicht im Haftungsbescheid festgesetzt. Der Haftungsbescheid richtet sich gerade nicht gegen den Steuerpflichtigen, sondern gegen einen Dritten, der für die Steuer des Steuerpflichtigen haftet. Eine unmittelbare Anwendung der Vorschrift des § 236 Abs.1 AO 1977 auf den Streitfall scheidet daher aus.
Die Nichtaufnahme des Haftungsanspruchs in § 236 Abs.1 AO 1977 stellt auch keine Gesetzeslücke dar. Die AO 1977 unterscheidet deutlich zwischen Steuer- und Haftungsbescheiden. In § 37 Abs.1 AO 1977 ist der Haftungsanspruch ausdrücklich neben dem Steueranspruch und dem Steuervergütungsanspruch aufgeführt. In § 37 Abs.2 AO 1977 wird ausdrücklich für das Vorliegen eines Erstattungsanspruchs außer der rechtsgrundlosen Zahlung einer Steuer und einer Steuervergütung auch die rechtsgrundlose Zahlung eines Haftungsbetrags aufgeführt. Wegen der eigenständigen Regelung der Haftungsinanspruchnahme in der AO 1977 (vgl. § 191 AO 1977) sind die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften im Haftungsverfahren nicht --auch nicht sinngemäß-- anwendbar (anders: § 97 Abs.2 der Reichsabgabenordnung).
Darüber hinaus ist § 236 AO 1977 wie auch § 238 AO 1977 eine Spezialregelung, die sich auf Steuern und Steuervergütungen beschränkt. Die Regelungen dieser Vorschriften können auf öffentlich-rechtliche Geldleistungen nicht allgemein ausgedehnt werden (vgl. Senatsurteil vom 17.Februar 1987 VII R 21/84, BFHE 149, 15, BStBl II 1987, 368, 369 mit weiteren Nachweisen). Die Beziehungen zwischen Steuergläubiger und Steuerschuldner sind so spezifischer Natur, daß aus der Regelung der AO 1977, die auf diesen Beziehungen beruht, kein allgemeiner Rechtsgrundsatz für andere öffentlich-rechtliche Geldforderungen abgeleitet werden kann (vgl. Senatsurteil in BFHE 149, 15, BStBl II 1987, 368).
4. Die Nichtanwendung des § 236 Abs.1 AO 1977 auf Rechtsstreitigkeiten über Haftungsbescheide entspricht auch der Regelung des § 237 AO 1977 für Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung. Nach dieser Vorschrift hat ein Steuerpflichtiger bei erfolgloser Klage nur dann Aussetzungszinsen zu zahlen, wenn es sich um ein Rechtsmittel gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, handelt. Auch hier entfällt die Verzinsung, wenn das Rechtsmittel sich gegen einen Haftungsbescheid richtet. Der Zinsnachteil bei den Prozeßzinsen korrespondiert also mit einem entsprechenden Vorteil des Haftungsschuldners bei den Aussetzungszinsen.
Diese enge Fassung der Verzinsungstatbestände ist vom Gesetzgeber bewußt gewählt worden. So wird in der Begründung zu § 218 des Regierungsentwurfs, der dem § 236 AO 1977 entspricht, ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Vorschrift nur Steuererstattungs- und Steuervergütungsansprüche erfasse. In der Begründung zu § 219 des Regierungsentwurfs, der dem § 237 AO 1977 entspricht, wird ausgeführt, daß in Anpassung an § 218 des Regierungsentwurfs (§ 236 AO 1977) nur Steuern und zurückgeforderte Steuervergütungen zu verzinsen seien (BTDrucks VI/1982). Angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 236 AO 1977 und seiner Übereinstimmung mit dem korrespondierenden § 237 AO 1977 besteht keine Möglichkeit, über die in § 236 AO 1977 aufgeführten Fälle hinaus eine Verzinsungspflicht des FA anzunehmen. Vielmehr sind nach dem Grundsatz des § 233 Satz 1 AO 1977 Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nur verzinslich, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Diese Regelung verbietet es, den Tatbestand des § 236 AO 1977 erweiternd auch auf dort nicht angeführte Rechtsstreitigkeiten anzuwenden.
Die Sache ist spruchreif. Der Senat kann über die Klage selbst entscheiden (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO). Da dem Kläger weder nach § 111 FGO a.F., § 4b StSäumG noch nach § 236 Abs.1 AO 1977 Prozeßzinsen zustehen, ist die anders lautende Vorentscheidung aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 62701 |
BFH/NV 1989, 41 |
BStBl II 1989, 821 |
BFHE 157, 322 |
BFHE 1990, 322 |
BB 1989, 1973-1973 (L1) |
DB 1989, 2363-2364 (LT) |
HFR 1990, 7 (LT) |