Leitsatz (amtlich)
Die gerichtliche Prüfung, ob die Ablehnung oder Unterlassung eines Billigkeitserlasses rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 FGO), kann nur auf die zu dem Zeitpunkt der Ermessensentscheidung bestehende Sach- und Rechtslage bezogen sein.
Normenkette
AO § 131 Abs. 1 S. 2; FGO § 102
Gründe
Aus den Gründen:
Gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AO können im Einzelfall Steuern und sonstige Geldleistungen ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Durch den Beschluß GmSOGB 3/70 vom 19. Oktober 1971 (BFH 105, 101) hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes erkannt, daß die Entscheidung der Behörde, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen ist; danach werden Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens durch den Maßstab der Billigkeit bestimmt. Diese Äußerung kann im Hinblick auf § 2 StAnpG nur in dem Sinne verstanden werden, daß der in § 131 Abs. 1 Satz 1 AO enthaltene Begriff der Unbilligkeit der Einziehung der Steuer die Grenze bildet, die das Gesetz dem Ermessen zieht (§ 2 Abs. 1 StAnpG) und daß die Ermessensausübung innerhalb dieser Grenze durch Billigkeit und Zweckmäßigkeit (§ 2 Abs. 2 StAnpG) bestimmt wird; Zweckmäßigkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 StAnpG bedeutet, daß der Gesetzeszweck (vgl. § 102 FGO) zu berücksichtigen ist. Hierbei geht der Gemeinsame Senat davon aus, daß der dem Wort "unbillig" in § 131 Abs. 1 Satz 1 AO zugrunde liegende Begriff der Billigkeit seiner Bedeutung nach identisch ist mit dem in § 2 Abs. 2 StAnpG verwendeten gleichnamigen Begriff.
Die in der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vertretene Rechtsauffassung ist für den erkennenden Senat in dem Sinne bindend, daß er ohne vorherige Anrufung gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl I 1968, 661) von ihr nicht abweichen darf. Geht man davon aus, daß die Entscheidung der Behörde gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AO von den Gerichten nur nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen ist (§ 102 FGO), so ist die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Ansicht nicht haltbar, "daß es im Rechtsstreit um einen abgelehnten Steuererlaß allein auf die Sachlage zur Zeit des Urteils ankommt".
Maßgebender Zeitpunkt, der der Beurteilung einer Ermessensentscheidung einer Verwaltungsbehörde zugrunde zu legen ist, kann vielmehr nur der Zeitpunkt sein, in dem die Behörde entscheidet. Die Prüfung, ob die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsaktes rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist, kann nur auf die zu dem Zeitpunkt der Ermessensentscheidung bestehende Sach- und Rechtslage bezogen sein (vgl. Urteil des BFH II 90/62 vom 26. Januar 1966, BFH 84, 584, BStBl III 1966, 211; vgl. auch Urteil des BVerwG I C 33/67 vom 19. Juni 1969, HFR 1970, 350). Da das Wesen einer Ermessensvorschrift darin besteht, einen Spielraum zu geben, unter einer Mehrzahl rechtlich zulässiger Verhaltensweisen wählen zu lassen (Beschluß des BFH I B 14/70 vom 10. November 1971, BFH 104, 39 [42], BStBl II 1972, 222), kann die durch § 102 FGO dem Umfange nach umschriebene gerichtliche Rechtskontrolle der Ermessensentscheidung nur auf den Zeitpunkt der Wahl durch die Verwaltungsbehörde selbst bezogen sein. Das FG verkennt, daß zwischen Fällen, in denen darum gestritten wird, ob dem Kläger ein Anspruch auf ein bestimmtes Verwaltungshandeln zusteht und den Fällen, in denen es im Ermessen der Behörde steht, die Rechtslage zu gestalten oder eine solche Gestaltung zu unterlassen, zu unterscheiden ist.
Die Tatsache, daß der Kläger seinen am 7. November 1969 verstorbenen Bruder beerbt hat und im Jahre 1970 das Haus, dessen Alleineigentümer er nach dem Tod des Bruders geworden ist, zum Preise von 340 000 DM verkauft hat, muß daher entgegen der Ansicht des FG für die Entscheidung außer Betracht bleiben. Diese Umstände sind erst nach Ergehen der Beschwerdeentscheidung vom 15. Oktober 1969 eingetreten und können bei den Ermessensentscheidungen der Verwaltungsbehörden nicht berücksichtigt werden.
Obwohl das FG die nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen rechtsirrig in die Prüfung der Ermessensentscheidung einbezogen hat, ist das klageabweisende Urteil nicht aufzuheben. Denn die vom FG gewürdigten Erwägungen, auf die die OFD ihre Beschwerdeentscheidung gestützt hat, rechtfertigen die Klageabweisung.
Fundstellen
Haufe-Index 413317 |
BStBl II 1972, 919 |
BFHE 1972, 489 |