Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Sonstiges Gewerbesteuer
Leitsatz (amtlich)
Beruht der angefochtene Bescheid auf einem Steuergesetz, dessen Unvereinbarkeit mit Verfassungsnormen in Verfassungsbeschwerden geltend gemacht ist, so braucht das Steuergericht, wenn es die Vorschrift für gültig hält, sein Verfahren auch nach der durch § 74 FGO entstandenen Rechtslage nicht auszusetzen.
Die Vorschriften der §§ 8 Ziff. 1, 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG verstoßen nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Senat tritt der Entscheidung des I. Senats I 373/62 U vom 4. Mai 1965 (BStBl 1965 III S. 424) bei.
Normenkette
AO § 264; FGO §§ 74, 121; GG Art. 3 Abs. 1; GewStG § 8 Ziff. 1, § 12 Abs. 2 Ziff. 1
Tatbestand
Streitig ist im Gewerbesteuermeßbetragsverfahren für den Erhebungszeitraum 1962
Ob die Unterlassung der Aussetzung des Verfahrens durch das Finanzgericht (FG) einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt (§ 264 Abs. 1 AO a. F.) und
ob die Hinzurechnungsvorschriften des § 8 Ziff. 1 (Dauerschuldzinsen) und des § 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG (Dauerschulden) verfassungswidrig sind.
Durch den Gewerbesteuermeßbescheid 1962 wurden dem Gewerbegewinn u. a. Dauerschuldzinsen in Höhe von 14.924 DM und bei der Festsetzung des Gewerbekapitals dem Einheitswert des gewerblichen Betriebs Dauerschulden in Höhe von 181.229 DM hinzugerechnet. Die Höhe dieser Beträge ist unstreitig.
Mit der Sprungberufung wandte sich die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige - Stpfl. -) gegen diese Hinzurechnungen, weil die Vorschriften des § 8 Ziff. 1 und des § 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ungültig seien.
Die Sprungberufung blieb ohne Erfolg. Das FG führte aus, daß sich die Hinzurechnung der Dauerschuldzinsen zum Gewerbeertrag und der Dauerschulden zum Gewerbekapital aus dem Objektsteuercharakter der Gewerbesteuer ergebe. Die Auffassung, daß diese Vorschriften gegen die Verfassung verstießen, sei unbegründet.
Die Stpfl. beantragt mit der Rb., die Vorentscheidung aufzuheben und das Verfahren und die Vollziehung des angefochtenen Bescheides bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), die auf Grund anhängiger Verfassungsbeschwerden zu erwarten sei, auszusetzen.
Die Stpfl. rügt wesentliche Verfahrensmängel sowie unrichtige Rechtsanwendung. Verfahrensmängel erblickt sie darin, daß das FG über ihren Antrag, das Verfahren im Hinblick auf beim BVerfG anhängige, die genannten Vorschriften des GewStG betreffende Verfassungsbeschwerden auszusetzen, nicht entschieden, auch nicht die Vollziehung des angefochtenen Bescheides ausgesetzt, sondern das Urteil erlassen habe. Das FG sei verpflichtet gewesen, sie, die Stpfl., vor einer überraschungsentscheidung zu bewahren und sie in der Lage zu versetzen, ihr Rechtsmittel zurückzuziehen. Da die Oberfinanzdirektion die Finanzämter angewiesen habe, in Fällen der vorliegenden Art die Vollziehung von Bescheiden auszusetzen, sei das FG aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verpflichtet gewesen, sein Verfahren auszusetzen. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 8 Ziff. 1 und des § 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG bestünden erhebliche Bedenken.
Entscheidungsgründe
Die als Revision zu behandelnde Rb. ist unbegründet.
Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt nicht vor.
Bei der Entscheidung des FG darüber, ob das Berufungsverfahren auszusetzen war (§ 264 Abs. 1 AO a. F.), handelte es sich um eine prozeßleitende Verfügung, gegen die ein Rechtsmittel nicht gegeben war, und die das FG nach seinem Ermessen auch ohne vorhergegangenen Hinweis durch den Erlaß des Urteils treffen konnte.
In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu der Vorschrift des früheren § 264 AO wurde wiederholt betont, daß die Steuergerichte dem Antrag eines Steuerpflichtigen, die Entscheidung auszusetzen, bis das BVerfG in einer bereits anhängigen anderen Sache über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entschieden habe, grundsätzlich nicht zu entsprechen brauchen, da eine Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsmäßig erlassenen Gesetzes spreche (vgl. Urteile VI 147/58 U vom 20. Februar 1959, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 68 S. 451 - BFH 68, 451 -, BStBl III 1959, 172; IV 66/79 U vom 13. Mai 1959, BFH 69, 75, BStBl III 1959, 290; II 194/60 vom 17. Januar 1962. Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963 S. 241).
Auch die Rüge der Stpfl., daß das FG nicht die Vollziehung des angefochtenen Bescheides ausgesetzt habe, geht fehl. Nach § 251 Satz 2 AO a. F. konnte grundsätzlich nur die Behörde, die den Bescheid erlassen hatte, nicht aber das Steuergericht von sich aus, die Vollziehung aussetzen (vgl. BFH-Urteil II 216/60 U vom 25. Januar 1961, BFH 72, 395, BStBl III 1961, 145). Es braucht nicht zu der Frage Stellung genommen zu werden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine selbständige Aussetzungsbefugnis der Steuergerichte etwa unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG anzuerkennen war. Denn ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Der Gesetzgeber räumte den Steuergerichten erst durch die Vorschrift des § 69 FGO die Befugnis ein, die Vollziehung angefochtener Bescheide von sich aus auszusetzen.
Auch in der Sache selbst ist die Vorentscheidung rechtlich nicht zu beanstanden. Der erkennende Senat hält nach wie vor die Vorschriften des § 8 Ziff. 1 und des § 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG für verfassungsmäßig. Er tritt der in dem Urteil des I. Senats I 373/62 U vom 4. Mai 1965 (BFH 82, 489, BStBl III 1965, 242) dargelegten Rechtsauffassung bei. Diese Ausführungen betreffen zwar nur die Frage der Vereinbarkeit der Vorschrift des § 8 Ziff. 1 GewStG mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG; sie treffen jedoch in gleicher Weise für die Vorschrift des § 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG zu. Die Angriffe des Stpfl. richten sich im Kern gegen den Objektsteuercharakter der Gewerbesteuer. Dieser aber ist durch Art. 105 Abs. 1 Ziff. 3 GG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 AO auch vom Verfassungsgeber anerkannt. Von ihm ging das BVerfG wiederholt aus (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 3 S. 407 (437); Bd. 13 S. 331 (335).
Eine Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) kommt auch für den erkennenden Senat, und zwar schon aus den vorstehenden sachlichen Erwägungen, nicht in Betracht. Anträge von Verfahrensbeteiligten, den Rechtsstreit auszusetzen, bis das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde entschieden habe, die wegen der gleichen Rechtsfrage eingelegt wurde, brauchen die Steuergerichte auch nach Inkrafttreten der FGO (§ 74) grundsätzlich nicht zu entsprechen (vgl. Beschluß des erkennenden Senats IV 234/65 vom 13. Januar 1966, BStBl III 1966, 199). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Er läßt deshalb dahingestellt, ob überhaupt die Vorschrift des § 74 FGO anzuwenden ist, wenn es sich um die Vorfrage der Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit Verfassungsnormen handelt und diese Vorfrage den Gegenstand eines konkreten Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG bildet. Denn auch wenn die Vorschrift auf solche Fälle zutrifft, ist das Gericht jedenfalls nicht zur Aussetzung des Verfahrens verpflichtet. Zwar hielt es der BFH in der Entscheidung II S 2/66 vom 23. Februar 1966 (BStBl III 1966, 402) für geboten, das Revisionsverfahren dann auszusetzen, wenn beim BVerfG ein abstraktes Normenkontrollverfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung von Rechtsnormen anhängig ist, von deren Gültigkeit oder Nichtigkeit die Entscheidung im Revisionsverfahren abhängt. Der Senat braucht aber zu diesen Grundsätzen nicht Stellung zu nehmen, weil sich die Entscheidung ausdrücklich nur auf abstrakte Normenkontrollverfahren bezieht und es sich in der hier streitigen Rechtsfrage um konkrete, durch Verfassungsbeschwerden ausgelöste Normenkontrollverfahren handelt.
Soweit die Stpfl. in der Revisionsinstanz die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids unmittelbar durch den BFH (§§ 69, 121 FGO) begehrt, ist der Antrag mit der vorstehenden Entscheidung zur Hauptsache gegenstandslos.
Fundstellen
Haufe-Index 412219 |
BStBl III 1966, 629 |
BFHE 86, 671 |