Leitsatz (amtlich)
1. Ein bestandskräftiger Grunderwerbsteuerbescheid ist nicht deshalb aufzuheben, weil der Grundstückserwerber schuldhaft verspätet Befreiung von der Grunderwerbsteuer gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a GrEStG beantragt und bei dieser Gelegenheit eine Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen vorgelegt hat zum Nachweis dafür, daß er das Grundstück im Rahmen eines Zukunftsinvestitionsprogramms zur Durchführung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen erworben hat.
2. Die Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen zum Nachweis dafür, daß ein Grundstück im Rahmen eines Zukunftsinvestitionsprogramms zur Durchführung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen erworben worden ist, ist kein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für den Grunderwerbsteuerbescheid zukäme; sie kann infolgedessen nicht zur Aufhebung eines bestandskräftigen Grunderwerbsteuerbescheids führen.
Normenkette
GrEStG Berlin § 6 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a; GrEStG Berlin § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a; GrEStG Berlin § 9 Abs. 6; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 175 S. 1 Nrn. 1-2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die drei Kläger und Revisionskläger (Kläger) kauften am 25. Januar 1979 die eine, am 20. Februar 1979 die andere ideelle Hälfte eines in Berlin liegenden, mit einem Mietwohnhaus bebauten Grundstücks.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) setzte die Grunderwerbsteuer für den Kaufvertrag vom 25. Januar 1979 durch Bescheide vom 20. März 1979, die für den Kaufvertrag vom 20. Februar 1979 durch Bescheide vom 26. März 1979 fest.
Mit Schreiben vom 10. Mai 1979 - eingegangen beim FA am 14. Mai 1979 - beantragten die Kläger Steuerbefreiung gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG). Sie legten gleichzeitig eine Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen vom 8. Mai 1979 vor, um nachzuweisen, daß sie das Grundstück erworben hatten im Rahmen eines vom Senator für Bau- und Wohnungswesen anerkannten Zukunftsinvestitionsprogramms zur Durchführung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen. Ferner beantragten sie, ihnen wegen Versäumung der Antragsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Sie seien ohne Verschulden verhindert gewesen, die Frist einzuhalten. "Eine frühere Antragstellung oder die Einlegung eines Einspruchs" sei "nicht erfolgt, weil der zuständige Sachbearbeiter beim Senator für Bau- und Wohnungswesen" sie dahingehend informiert habe, "daß eine Erstattung der Grunderwerbsteuer unverzüglich erfolgen" werde, "sobald eine entsprechende Bescheinigung vorliege". Auf diese Auskunft hätten sie vertraut. Im übrigen gebiete auch die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977), die Steuerbescheide aufzuheben.
...
Das FA verwarf die Einsprüche. Es hielt sie für unzulässig, weil sie nicht fristgerecht eingelegt worden waren und die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegeben seien. Die weitergehenden Anträge, die Steuerbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 aufzuheben, lehnte es ab.
Mit ihrer gemeinschaftlichen Klage haben die Kläger beantragt, "wegen der verspäteten Antragstellung gem. § 110 AO, § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren" und ihnen "Grunderwerbsteuerbefreiung gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4 GrEStG 1969 zu gewähren und die Bescheide ersatzlos aufzuheben". ...
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Sie sei unbegründet, "weil die Kläger durch die angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheide und die dazu ergangenen Einspruchsentscheidungen in ihren Rechten nicht verletzt" seien. Das FA habe "mit Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt und die Bescheide auch nicht aufgehoben".... Unrichtig sei die Ansicht der Kläger, die Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen sei ein Grundlagenbescheid im Sinne des § 171 Abs. 10 AO 1977. Auch die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sei nicht anwendbar.
Entscheidungsgründe
...
Die Revision der Kläger ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Das Urteil des FG beruht nicht auf einer Verletzung des § 110 AO 1977. (Wird ausgeführt).
Das Urteil des FG beruht auch nicht auf einer Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide aufzuheben, "soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden". Tatsache im Sinne dieser Vorschrift ist der Umstand, daß der Erwerb des Grundstücks erfolgt war im Rahmen eines vom Senator für Bau- und Wohnungswesen anerkannten Zukunftsinvestitionsprogramms zur Durchführung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen. Diese Tatsache ist dem FA nachträglich, d. h. nach Bekanntgabe der Steuerbescheide, durch das Schreiben der Kläger vom 10. Mai 1979 bekanntgeworden. Sie führt indes nicht "zu einer niedrigeren Steuer", weil sie nicht rechtserheblich ist. Denn die Kläger hatten die begehrte Steuerbefreiung nicht rechtzeitig, d. h. nicht bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide, beantragt (§ 26 Abs. 2 GrEStG) und das Stellen des Antrags nach Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide ist keine Tatsache, die nachträglich bekanntgeworden, sondern die nachträglich eingetreten ist. Beweismittel im Sinne der Vorschrift ist die erwähnte Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen vom 8. Mai 1979. Auch sie kann zu keiner niedrigeren Steuer führen, weil sie nicht nachträglich bekanntgeworden, sondern nachträglich geschaffen worden ist.
Das Urteil des FG beruht schließlich auch nicht auf einer Verletzung des § 175 AO 1977. Nach Satz 1 Nr. 1 dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid aufzuheben, "soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird". Grundlagenbescheid ist ein Verwaltungsakt, der für die Festsetzung einer Steuer bindend ist (§ 171 Abs. 10 AO 1977). Als Grundlagenbescheid in diesem Sinne hat der BFH beispielsweise den Bescheid über die Anerkennung einer Wohnung als steuerbegünstigt (Anerkennungsbescheid) beurteilt, weil hinsichtlich dieses Bescheids das Gesetz (§§ 83, 93 Abs. 2 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes - II. WoBauG -) ausdrücklich vorschreibt, daß er "in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verbindlich" ist und "nicht der Nachprüfung durch die Finanzbehörden und Finanzgerichte" unterliegt (BFH-Urteil vom 18. April 1980 III R 34/78, BFHE 130, 441, 444, BStBl II 1980, 682 , 684). Die Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen ist kein Grundlagenbescheid in diesem Sinne. Sie ist ein Nachweis, dessen Vorlage das Gesetz fordert "für die Nachprüfung der Voraussetzungen einer Steuerbefreiung durch das Finanzamt", und zwar von dem Grundstückserwerber, der fristgerecht die Steuerbefreiung beantragt hat (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 6, § 26 Abs. 2 GrEStG).
Auch Satz 1 Nr. 2 des § 175 AO 1977 ist nicht verletzt. Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid aufzuheben, "soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat". Die Bescheinigung des Senators für Bau- und Wohnungswesen ist kein Ereignis in diesem Sinne, denn es konnte steuerliche Wirkung für die Vergangenheit schon deshalb nicht entfalten, weil die Kläger den Antrag, von dem die Steuerbefreiung abhängig war, nicht fristgerecht gestellt hatten und ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus den angegebenen Gründen nicht gewährt werden konnte.
Fundstellen
Haufe-Index 74138 |
BStBl II 1982, 80 |
BFHE 1981, 192 |