Verfahrensgang
LG Stralsund (Urteil vom 03.01.2002) |
Tenor
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 3. Januar 2002 mit den Feststellungen aufgehoben
- im Strafausspruch
- soweit davon abgesehen worden ist, die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere, allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagte unter Freisprechung im übrigen wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen die Verurteilung wendet sich die Angeklagte mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen die Angeklagte benachteiligenden Rechtsfehler ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 25. April 2002.
2. Dagegen hält der Rechtsfolgenausspruch rechtlicher Prüfung nicht stand.
a) Zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs führt in erster Linie, daß das Landgericht mit rechtsfehlerhaften Erwägungen davon abgesehen hat, die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 Abs. 1 StGB) anzuordnen.
Die Feststellungen ergeben, daß die Angeklagte seit Jahren den Hang hat, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen. Hiervon geht auch das Landgericht aus, das der gehörten Sachverständigen darin folgt, bei der Angeklagten bestehe ein „Alkoholabhängigkeitssyndrom” (UA 18/19). Die Feststellungen ergeben ferner, daß die Angeklagte im Sinne des § 64 StGB gefährlich ist. Wie ihr selbst bewußt ist, reagiert sie unter dem Einfluß von Alkohol leicht reizbar und aggressiv. Bereits zweimal ist sie wegen gefährlicher Körperverletzung, jeweils begangen im Zustand erheblicher Alkoholisierung, strafgerichtlich in Erscheinung getreten. Auch die neuerliche Tat, bei der die Angeklagte einen „Zechkumpan” derart schlug und trat, daß dieser an den Folgen der Verletzungen verstarb, beging die Angeklagte nach erheblichem Alkoholgenuß, der nicht ausschließbar zu ihrer Schuldunfähigkeit geführt hat.
Das Landgericht hat gleichwohl von der Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Abs. 1 StGB abgesehen, weil die dafür vorausgesetzte hinreichend konkrete Erfolgsaussicht (BVerfGE 91, 1 f.) nicht bestehe. Zur Begründung hat es sich die Auffassung der Sachverständigen zu eigen gemacht, einer Entziehungskur könnten nur dann konkrete Erfolgsaussichten beigemessen werden, wenn auch der Lebenspartner abstinent sei. Dies sei bei der Angeklagten nicht gewährleistet, denn ihr Ehemann, von dem sie sich nicht trennen wolle, leide unter chronischem Alkoholismus und es sei nicht zu erkennen, daß er bereit sei, sich in eine Entziehungsbehandlung zu begeben.
Diese Begründung trägt die getroffene Entscheidung, von der Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abzusehen, nicht. Der Auffassung des Landgerichts kann schon im Ansatz nicht gefolgt werden, denn sie liefe im Ergebnis darauf hinaus, von vornherein auch diejenigen aufgrund ihrer Rauschmittelabhängigkeit gefährlichen Straftäter, die therapiewillig und grundsätzlich auch therapiegeeignet sind, die aber in enger sozialer und persönlicher Beziehung mit ebenfalls rauschmittelabhängigen Personen leben, von der erforderlichen Entziehungsbehandlung auszuschließen. Damit aber würde in weitem Umfang sowohl der auf individuelle Heilung des Straftäters von seiner Sucht gerichtete Zweck der Maßregel als auch der damit verbundene Präventionszweck der Maßregel verfehlt.
Der Auffassung des Landgerichts kann aber auch deshalb nicht gefolgt werden, weil ihr ein nicht zutreffender Bezugspunkt, nämlich allein die Situation nach Entlassung in die Freiheit, zugrunde liegt. Sinn der Maßregelanordnung nach § 64 StGB ist es aber, möglichst umgehend mit der Behandlung zu beginnen, weil dies am ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht. Deshalb ist die Erfolgsaussicht einer Entziehungsbehandlung schon für die voraussichtliche Dauer der Inhaftierung zu prüfen, zumal es auch darum geht, den Betroffenen durch die Behandlung in die Lage zu versetzen, an der Verwirklichung des Vollzugsziels mitzuarbeiten (vgl. BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug 7 m.w.N.). Auch wenn vieles dafür sprechen mag, daß die Rückkehr eines (ehemals) abhängigen Straftäters in sein „Milieu” nach Entlassung aus der Haft trotz Entziehungsbehandlung die Gefahr des Rückfalls in frühere Verhaltensweisen begründet, kann dies deshalb für sich kein Grund sein, die Anordnung der Maßregel abzulehnen. Zwar mag ein solcher Umstand einen dauerhaften Erfolg der Entziehungsbehandlung in Frage stellen. Doch verlangt § 64 Abs. 1 StGB nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 91, 1 f. (= NStZ 1994, 578) nicht unbedingt die Aussicht auf eine vollständige Heilung von der Sucht; vielmehr genügt danach die konkrete Aussicht, „den Süchtigen über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren”.
Ob auch eine solche zumindest vorläufige Heilung der Angeklagten von ihrer Alkoholabhängigkeit durch eine gezielte Entwöhnungsbehandlung nicht zu erreichen ist, hat das Landgericht nicht geprüft. Es versteht sich auch nicht von selbst. Die Angeklagte hat sich nicht grundsätzlich gegen eine Therapie ausgesprochen. Abgesehen davon hängt die Erfolgsaussicht nicht unbedingt von der in der Hauptverhandlung geäußerten Einstellung zur Therapie ab; vielmehr ist es gerade Aufgabe des Maßregelvollzugs, den Untergebrachten für die Therapie zu motivieren (vgl. BVerfG aaO). Die Angeklagte hat sich bislang keiner Entwöhnungsbehandlung unterzogen, so daß auch nicht etwa erfolglose Therapieversuche der Annahme hinreichend konkreter Erfolgsaussicht entgegenstehen.
Über die Frage der Unterbringung ist deshalb neu zu entscheiden. Das Verschlechterungsverbot steht der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 StPO). Die Angeklagte hat die Nichtanwendung des § 64 StGB auch nicht wirksam von ihrem Rechtsmittelangriff ausgenommen.
b) Der Senat hebt wegen des inneren Zusammenhangs auch den Strafausspruch auf. Denn er kann nicht ausschließen, daß das Landgericht im Fall einer Unterbringung der Angeklagten gemäß § 64 StGB auf eine niedrigere Freiheitsstrafe erkannt hätte. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, daß der neue Tatrichter auch zu prüfen haben wird, ob die alkoholabhängige Angeklagte in ihrer Fähigkeit, der Versuchung des Sichberauschens zu widerstehen, im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war (vgl. BGHR StGB § 323 a Abs. 2 Strafzumessung 7). Ausdrücklich hat das Landgericht bislang nur ausgeschlossen, daß ihre Alkoholabhängigkeit es ihr „unmöglich” machte, die Herbeiführung eines Rausches zu verhindern (UA 20). Damit ist – rechtsfehlerfrei – aber nur der Ausschluß völliger Aufhebung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) in Bezug auf das Sichberauschen belegt. Dies erübrigt die Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB nicht, zumal das Landgericht die Frage der Schuldfähigkeit des Sichberauschens nur unter dem Gesichtspunkt einer krankhaften seelischen Störung, nicht aber auch einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erörtert hat.
Es wird sich empfehlen, für das neue Verfahren einen weiteren, mit der Sache noch nicht befaßten Sachverständigen hinzuzuziehen.
3. Der Senat verweist die Sache an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, da nach Rechtskraft des Schuldspruchs keine die Zuständigkeit des Schwurgerichts begründende Zuständigkeit mehr besteht.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Kuckein, Solin-Stojanović, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 2559895 |
NStZ 2002, 647 |
DAR 2003, 292 |
NStZ-RR 2002, 298 |