Tenor
Dem Beschuldigten wird
gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 und 5, § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3, § 142 Abs. 3 Nr. 1 StPO als Pflichtverteidigerin beigeordnet.
Tatbestand
I.
Rz. 1
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof führt ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland („Islamischer Staat”), strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 5, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB. Wegen des Sachverhalts wird auf den Beschluss vom 21. April 2021. … Bezug genommen.
Rz. 2
1. Der Beschuldigte befindet sich in dem A. Fachklinikum G.. Er war aus einer Klinik in N. wegen Angst- und Panikzuständen verlegt worden und hatte über das Gefühl berichtet, verfolgt zu werden (vgl. Bericht A. vom 30. April 2021). In der Folgezeit zeigte er sich motorisch unruhig und teilweise verbal bedrohlich. Am 23. und 24. April 2021 musste er wegen fremdaggressiven Verhaltens jeweils fixiert werden.
Rz. 3
2. Am 22. April 2021 wurden die Wohnräume des Beschuldigten in E. aufgrund Beschlusses vom 21. April 2021… durchsucht. Überdies wurde durch Polizeibeamte der Polizeiinspektion G. sowie des Bundeskriminalamtes, unter Hinzuziehung einer Psychologin des Bundeskriminalamtes (…), das „Pflegezimmer im A. Klinikum G. – im Einverständnis des Beschuldigten (…) – durchsucht und es wurden verschiedene Datenträger beschlagnahmt. Im Zuge der Durchsuchung des „Pflegezimmers” wurde der Beschuldigte nach Eröffnung des Tatvorwurfs über sein Schweige- und Konsultationsrecht belehrt (…). Hingegen wurde er nicht nach § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO belehrt. Der Beschuldigte „forderte” hierauf einen Rechtsanwalt. Im Vermerk von POKin K. heißt es sodann: „Dies[s] wurde ihm gewährt.” Im Vermerk derselben Polizeibeamtin vom 27. April 2021 wird hierzu ausgeführt, dass der Beschuldigte angegeben habe, „eine Vernehmung nur in Anwesenheit eines Rechtsbeistandes durchführen” zu wollen; bis zum Eintreffen eines noch zu bestellenden Rechtsanwalts stimmte Herr A. dem Fortgang der Maßgaben zu” (…). Der Anruf in einem Rechtsanwaltsbüro blieb allerdings ohne Erfolg (…). In der Folgezeit äußerte sich der Beschuldigte wiederholt – im Rahmen von „mehreren Gesprächen” mit den Polizeikräften nach Hinweisen auf sein Schweigerecht – auch zur Sache (…), bezeichnete die eingesetzten Polizeikräfte als „Terroristen” und gab überdies eine Erklärung über die Entbindung seiner behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht ab. Die Psychologin des Bundeskriminalamts hielt hierzu unter anderem in Vermerkform fest:
„Schnell geriet er in starke Erregungszustände meist feindlicher, provokativer und anschuldigender Natur. So verlautbarte er unter anderem: „ihr seid die Terroristen (…) ihr sollt verrecken … ich wollte euch helfen und ihr kommt immer wieder wegen was (…) ich bin krank wegen euch”. Auch während der späteren Wohnungsdurchsuchung fühlte er sich wiederholt häufig aus nicht direkt ersichtlichen Gründen provoziert und ungerecht behandelt, worauf er impulsiv; mitunter auch trotzig reagierte. Vereinzelt entschuldigte er sich anschließend für seine unüberlegten Aussagen und reflektierte offen seine Schwierigkeiten im Bereich der Impulskontrolle. Eine hohe Ambivalenz bezüglich seiner allgemeinen Kooperationsbereitschaft war über das gesamte Gespräch hinweg vernehmbar. (…)
A. war während des gesamten Kontaktes zu allen Qualitäten orientiert, konnte dem Gespräch gut folgen und verfügte über hinreichende Deutschkenntnisse. Die Ärztin bestätigte die Einschätzung, dass A. in der Lage sei mündig eine Entscheidung, zumindest bezüglich der Schweigepflichtsentbindung zu treffen. Herr A. stimmte folglich einer Entbindung der ärztlichen Schweigepflicht zu, welches schriftlich dokumentiert wurde. (…)
Im Gespräch äußerte A. weitere auffällige subjektive Wahrnehmungen: So berichtete er Stimmen zu hören. Diese Stimmen seien meist drohender oder auch warnender Natur. Darüber hinaus berichtete er, dass „Leute die mir Was geben, machen was mit Satan (…) mir wurde gehext” später bestätigte er, dass er „damit diverse Drogen meine, die er erworben habe, von Menschen welche laut seinen Aussagen etwas mit Hexerei und Satan zu tun hätten. Die Oberärztin subsumiert die soeben geschilderten Wahrnehmungen unter der Symptomatik der PTBS, gab aber ebenfalls an, dass eine ausführliche testdiagnostische Untersuchung noch ausstünde.” (…)
Rz. 4
3. Mit Beschluss vom 25. April 2021 – … – ordnete das Amtsgericht G. „durch einstweilige Anordnung die Unterbringung” des Beschuldigten „in dem abgeschlossenen Teil des A. Fachklinikum G. bis zum Ablauf des 5. Juni 2021” an (…). Der Beschuldigte wird dort medikamentös behandelt und erhält namentlich sedierende und angstlösende Medikamente gegen psychosomatische Unruhe und Erregungszustände bei psychiatrischen Erkrankungen.
Rz. 5
4. Am 2. Juni 2021 wurde das vom Beschuldigten bewohnte Zimmer im A. Fachklinikum G. – diesmal auf richterliche Anordnung vom 28. Mai 2021 – … – durchsucht.
Rz. 6
5. Am 4. Juni 2021 erfolgte eine telefonische Rücksprache des Ermittlungsrichters zur Frage der Pflichtverteidigerbestellung mit dem Generalbundesanwalt (…). Dem Generalbundesanwalt wurde hier nahegelegt, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, anderenfalls sei beabsichtigt, von Amts wegen die gerichtliche Bestellung eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin zu prüfen. Eine Rücksprache mit dem Fachklinikum G. ergab, dass es vermutlich einen weiteren Unterbringungsbeschluss des Amtsgerichts G. gibt, der die Unterbringung des Beschuldigten auch über den 5. Juni 2021 hinaus anordnet; gleichwohl halte sich der Beschuldigte – nach Einschätzung der Ärztin Dr. R. – derzeit „freiwillig” und im offenen Vollzug der Klinik auf.
Rz. 7
6. Am Nachmittag desselben Tages ging die Stellungnahme des Generalbundesanwalts ein. In dieser wurde unter anderem ausgeführt:
„Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht geboten:
1. Ein Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO liegt nicht vor.
Soweit der Beschuldigte gemäß dem Bericht der PI N. vom 23. April 2021 zur Durchsuchung im A. Fachkrankenhaus G. nach Eröffnung des Tatvorwurfs und Belehrung als Beschuldigter im Strafverfahren einen Rechtsanwalt gefordert hat (…), hat die sachbearbeitende POKin K. auf telefonische Nachfrage mitgeteilt, die von ihr erteilte Belehrung habe die Hinweise nach § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO nicht umfasst. Der Beschuldigte sei von ihr lediglich dahingehend belehrt worden, dass er als Beschuldigter nicht verpflichtet sei, Angaben zum Tatvorwurf zu machen, und dass er die Möglichkeit habe, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Auf sein Verlangen hin sei versucht worden, zu mehreren der Polizeidienststelle bekannten Rechtsanwälten Kontakt aufzunehmen, doch seien die Versuche ohne Erfolg geblieben. Der Beschuldigte habe sich daraufhin mit einer Fortsetzung der Durchsuchungsmaßnahme einverstanden erklärt.
Im Lichte des Inhalts der Belehrung kann die Forderung des Beschuldigten nach einem Rechtsanwalt nicht als Antrag nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ausgelegt werden.
Dieses Ergebnis wird bestätigt durch das Verhalten des Beschuldigten anlässlich der aufgrund des Beschlusses des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 28. Mai 2021 – … – am 2. Juni 2021 durchgeführten Durchsuchung: Die insoweit sachbearbeitende PKin B. hat auf telefonische Nachfrage mitgeteilt, sie habe den Beschuldigten zu Beginn der Maßnahme vollständig, insbesondere auch nach § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO, belehrt. Der Beschuldigte habe ihr auf entsprechende Rückfrage mitgeteilt, die Belehrung verstanden zu haben; er „kenne das schon”. Sie habe ihm im weiteren Gesprächsverlauf noch einmal explizit dargelegt, dass er einen Pflichtverteidiger bekommen könne, und ihn gefragt, ob er jemanden anrufen wolle. Der Beschuldigte habe hierauf geäußert, er wolle keinen Verteidiger, er sage ohnehin nichts.
2. Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO sind nicht erfüllt. Der Beschuldigte befindet sich nicht auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt. Soweit das Amtsgericht G. mit Beschluss vom 25. April 2021 – … – (…) die Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik bis zum Ablauf des 5. Juni 2021 angeordnet hat, wird diese Maßnahme derzeit nicht vollzogen. Gemäß dem Vermerk „Aufenthaltsorte von A.” der PKin B. vom 27. Mai 2021 (…) befand sich der Beschuldigte lediglich in der Zeit vom 24. April 2021 bis zum 17. Mai 2021 sowie vom 25. bis zum 26. Mai 2021 auf einer geschlossenen Station. Nach fernmündlicher Auskunft der PKin B. vom heutigen Tag hält er sich weiterhin freiwillig auf der offenen Station des A. Fachklinikum G. auf und kann die Anstalt jederzeit verlassen. Die Entlassung des Beschuldigten ist nach ärztlicher Auskunft vom 3. Juni 2021 für den 10. Juni 2021 vorgesehen.
3. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass der Beschuldigte sich – insbesondere aus gesundheitlichen Gründen – im Sinne des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO nicht selbst verteidigen kann. Der Beschuldigte hat insbesondere im Zusammenhang mit dem gegen ihn geführten Strafverfahren wegen schweren Raubes sowie mit mehreren Zeugenvernehmungen bereits umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit deutschen Strafverfolgungsbehörden gesammelt. Im vorliegenden Ermittlungsverfahren sind bei ihm zwischenzeitlich zwei Durchsuchungsmaßnahmen erfolgt; in diesem Zusammenhang wurde der Beschuldigte jeweils belehrt und erhielt die Gelegenheit, sich zu den Tatvorwürfen zu äußern und einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Der Beschuldigte hat bei diesen Gelegenheiten jeweils angegeben, die erteilten Belehrungen verstanden zu haben, und hat seine Rechte vielfach wahrgenommen. So hat er einen Rechtsanwalt zu sprechen verlangt und Widerspruch gegen die Sicherstellung verschiedener Geräte eingelegt. Angaben zur Sache hat der Beschuldigte ebenso verweigert wie die Preisgabe der PIN-Nummern seiner Kommunikationsgeräte. Der Umstand, dass der Beschuldigte andererseits Maßnahmen wie etwa der erstmaligen Durchsuchung seines Krankenzimmers freiwillig zugestimmt hat, begründet keinen Zweifel daran, dass er seine Verteidigungsrechte verstanden hat und auszuüben vermag.
Ausweislich des Zwischenberichts des A. Fachklinikums G. vom 30. April 2021 wurden bei dem Beschuldigten eine posttraumatische Belastungsstörung sowie psychische und Verhaltensstörungen durch Substanzgebrauch diagnostiziert. Er selbst klagte bei der Aufnahme am 20. April 2021 über Ängste und Schlafstörungen. Der Beschuldigte zeigte sich wach, bewusstseinsklar und allseits orientiert, ohne mnestische oder kognitive Störungen, im Gespräch jedoch unkonzentriert. Im Behandlungsverlauf geriet der Beschuldigte zeitweise in Anspannungszustände, war dann psychomotorisch unruhig und zeigte sich teilweise verbal bedrohlich. Der behandelnde Arzt beschrieb sein Verhalten als besonders sprunghaft; der Beschuldigte leide unter einer Affektregulationsstörung und gerate schnell in Erregungszustände. Aus diesen Befunden lassen sich keine Anhaltspunkte für gesundheitlich bedingte erhebliche Beeinträchtigungen der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten ableiten. In den Blick zu nehmen ist hierbei nicht zuletzt auch der Umstand, dass der Beschuldigte jedenfalls am 21. April 2021 von seinem Chatpartner … ausdrücklich dazu aufgefordert wurde, sich als psychisch krank darzustellen. Vor diesem Hintergrund erscheint ein zumindest teilweises Vortäuschen der Krankheitssymptomatik gegenüber den behandelnden Ärzten des psychiatrischen Klinikums naheliegend.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 8
Dem Beschuldigten war die in der Beschlussformel benannte Rechtsanwältin als Pflichtverteidigerin nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3, § 142 Abs. 3 Nr. 1 StPO zu bestellen.
Rz. 9
1. Die Bestellung war hier von Amts wegen geboten. Ob die Erklärung des Beschuldigten vom 22. April 2021, einen Rechtsanwalt hinzuziehen zu wollen, bereits als Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers auszulegen ist, kann hier dahinstehen. Eines ausdrücklichen Antrags, etwa auch der Staatsanwaltschaft, der die gerichtliche Entscheidung nach § 142 Abs. 3 Satz 1 StPO erst erwirkt, bedarf es nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung für die gerichtliche Bestellung nicht mehr (vgl. zur früheren Gesetzesfassung noch BGH [ER], Beschluss vom 9. September 2015 – 3 BGs 134/15, NJW 2015, 3383; vgl. zur von Amts wegen bestehenden Pflicht des Ermittlungsrichters zur Gewährleistung eines konventionsgerechten Verfahrens allerdings bereits BGH, Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93, 99). Dies gilt nicht nur für Fälle, in denen bereits Anklage erhoben worden und die Verfahrensherrschaft auf das angerufene Gericht übergangenen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO), sondern gerade auch für ermittlungsrichterliche Entscheidungen im Vorverfahren.
Rz. 10
a) Für dieses Normverständnis spricht zunächst der Gesetzeswortlaut.
Rz. 11
aa) Nach den Maßgaben des neugefassten § 141 Abs. 2 Satz 1 StPO wird dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung, „unabhängig” von dessen Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt. Dieser ausdrückliche Hinweis auf die fehlende Antragsnotwendigkeit gewinnt auch dadurch an Gewicht, dass an dieser Stelle des Regelungsgefüges des Rechts der notwendigen Verteidigung lediglich der Zeitpunkt für die Bestellungsentscheidung bestimmt wird, und die formalen Fragen systematisch § 142 StPO überantwortet werden. Denn hiermit wird erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass der Zeitpunkt der gerichtlichen Bestellungsentscheidung nicht von prozessualen Erwirkungshandlungen der Staatsanwaltschaft oder des Beschuldigten abhängig ist und diese nicht – gerichtlich unkontrolliert – zu deren Disposition steht.
Rz. 12
bb) Der Wortlaut der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung aus § 142 Abs. 3 StPO enthält keinen Hinweis auf die Notwendigkeit des Antrags eines Verfahrensbeteiligten. Auch die in § 142 Abs. 1 und 2 StPO geregelten Antragsbefugnisse von Beschuldigtem und Staatsanwaltschaft lassen keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass daneben eine gerichtliche Bestellung unabhängig von solchen prozessualen Erwirkungshandlungen ausgeschlossen sein soll.
Rz. 13
b) Ferner erhellt eine systematische Betrachtung, dass das Recht der notwendigen Verteidigung auch ansonsten gerichtliche Entscheidungen nicht zwingend an prozessuale Erwirkungshandlungen bindet (vgl. § 141 Abs. 3, §§ 143, 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, § 144 StPO). Systematische Friktionen sind durch die von Amts wegen bestehende Zuständigkeit des Ermittlungsrichters nicht zu besorgen.
Rz. 14
aa) Diese Pflicht des Ermittlungsrichters berührt keine ureigenen Belange der Staatsanwaltschaft. Dies gilt namentlich für Zuständigkeitsfragen. Im Ermittlungsverfahren ist nunmehr nach § 142 Abs. 3 Nr. 1 und 2 StPO allein noch zuständig der Ermittlungsrichter; erst mit Erhebung der Anklage geht die Zuständigkeit über auf den Vorsitzenden des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO). Das Wahlrecht der Staatsanwaltschaft aus § 141 Abs. 4 StPO a.F. besteht nicht mehr (vgl. hierzu noch BGH [ER], Beschluss vom 9. September 2015 – 3 BGs 134/15, NJW 2015, 3383, 3384).
Rz. 15
bb) Die so verstandene Neukonzeption der Zuständigkeiten im Recht der notwendigen Verteidigung ist auch ohne weiteres vereinbar mit den Maßgaben des § 162 StPO.
Rz. 16
(1) In Rede stehen bei § 142 Abs. 3 StPO gerade keine – ausschließlich auf Antrag erwirkte Prüfung und ggf. Anordnung von – Untersuchungshandlungen (§ 162 StPO; vgl. im Einzelnen Brüning/Wenske, ZIS 2008, 340 ff.), bei denen der Staatsanwaltschaft als „Herrin” des Vorverfahrens (§ 160 StPO) allein die Entscheidung über deren Zweckmäßigkeit zusteht. Vielmehr sollen durch die Pflichtverteidigerbestellung nach § 142 Abs. 3 StPO im Rechtspflegeinteresse tatsächlich bestehende bzw. typisierte besondere strukturelle Verteidigungsdefizite des Beschuldigten kompensiert werden (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 3).
Rz. 17
(2) Die von Amts wegen mögliche gerichtliche Beiordnungsentscheidung ist insoweit regelmäßig weiteren Untersuchungshandlungen nach § 162 StPO vorgelagert und erweist sich als ermittlungsrichterliche Entschließung eigener Art sowie als Ausdruck der hier – in den abschließend benannten Verfahrenskonstellationen – gebotenen gerichtlichen Fürsorge.
Rz. 18
(3) Hat ein Gericht aufgrund seiner Vorbefassung (vgl. etwa § 162 StPO) Kenntnis von einem die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 142 Abs. 3 StPO erfordernden Sachverhalt, so suspendiert nach alledem weder ein fehlender Antrag des Beschuldigten noch ein unterbliebener Antrag der Staatsanwaltschaft dessen Pflicht zur eigenen unabhängigen Prüfung einer Pflichtverteidigerbestellung.
Rz. 19
c) Für eine von Prozesshandlungen der Verfahrensbeteiligten unabhängige gerichtliche Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren streitet schließlich in besonderer Weise das Ergebnis einer entstehungsgeschichtlichen Betrachtung.
Rz. 20
aa) Die Umsetzung der PKH-Richtlinie (vgl. hierzu Zink, Autonomie der Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, 2019, S. 45) durch den deutschen Gesetzgeber erstrebt – unter Beibehaltung des bewährten Systems der notwendigen Verteidigung (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 2) – eine effektive Gewährleistung des Anspruchs des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers gerade im Interesse der Rechtspflege (vgl. BT-Drucks, a.a.O.; vgl. ferner PKH-Richtlinie Erwägungsgrund 17 und Art. 7 Abs. 1 lit. a). Der nationale Gesetzgeber und die PKH-Richtlinie (Art. 4 Abs. 4) nehmen hier Bezug auf die konventionsrechtlichen Garantien aus Art. 6 Abs. 3 lit. c) MRK, wonach gerade der Schutz des Beschuldigten durch den Zugang zu einer effektiven Verteidigung im Vordergrund steht (vgl. LR/Esser, 26. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 738 f.; ders., Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 476; vgl. zu den hieran anknüpfenden Schutzbestrebungen der PKH-Richtlinie Zink, a.a.O., S. 46 f. 183 f.).
Rz. 21
bb) Dieser effektiven Schutzgewährleistung dient ausweislich der Gesetzesbegründung eine – von Anträgen der Verfahrensbeteiligten – abgekoppelte gerichtliche Entscheidungskompetenz. Die Gesetzesbegründung der Bundesregierung zu § 142 Abs. 2 StPO hebt ausdrücklich darauf ab, dass es eine „gerichtliche(n) Pflicht zur Bestellung von Amts wegen” gebe (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 41; vgl. auch a.a.O., S. 37 und in diesem Sinne bereits die Begründung des Referentenentwurfs. S. 34 ff.). An der – daneben bestehenden – Antragspflicht der Staatsanwaltschaft sei gleichwohl festzuhalten, um die effektive Wirksamkeit der Regelung in solchen Konstellationen zu gewährleisten, in denen ein Gericht noch nicht mit der Sache befasst war (vgl. BT-Drucks. a.a.O., S. 41). Hiermit korrespondieren die Maßgaben der PKH-Richtlinie. So ist etwa auch Erwägungsgrund 18 zu entnehmen, dass namentlich die Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen es gebieten, Prozesskostenhilfe unabhängig von deren Antrag zu gewähren.
Rz. 22
2. Es liegt hier ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 142 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO vor. Hiernach wird einem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO) ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn bekannt wird, dass sich der Beschuldigte, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist, auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet.
Rz. 23
So liegt es hier.
Rz. 24
a) Der Beschuldigte ist gegenwärtig unverteidigt und ihm wurde im Zuge der Durchsuchungsmaßnahmen vom 22. April 2021 der Tatvorwurf eröffnet.
Rz. 25
b) Es liegt ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 und 5 StPO vor. Insbesondere befindet sich der Beschuldigte derzeit auf Grund richterlicher Anordnung in einer Anstalt, sodass eine Verteidigerbestellung schon im Vorverfahren rechtlich geboten ist (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO).
Rz. 26
aa) Das tatbestandliche Erfordernis der Anstaltsunterbringung des Beiordnungsgrundes aus § 140 Abs. 1 Nr. 5, § 141 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 StPO erfüllen neben Straf-, Untersuchungs- und Abschiebungshaft auch Unterbringungen nach den Unterbringungsgesetzen der Länder (vgl. statt aller nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140 Rn. 16 m.w.N.).
Rz. 27
bb) Der Beschuldigte befindet sich gegenwärtig aufgrund richterlicher Anordnung im Fachklinikum G..
Rz. 28
(1) Das Amtsgericht G. hat mit Beschluss vom 25. April 2021 – … – die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten im geschlossenen Bereich dieser Klinik bis zum 5. Juni 2021 nach §§ 14, 16, 17 des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) angeordnet.
Rz. 29
(2) Der Beschluss wurde – soweit anhand der Ermittlungsakte ersichtlich – nicht aufgehoben. Der Ermittlungsakte ist auch nicht zu entnehmen, dass der Beschuldigte aus der Unterbringung nach § 27 NPsychKG vorzeitig entlassen worden wäre. Dies gilt gleichermaßen für die Frage, ob der Beschuldigte einen Antrag nach § 27 Abs. 1 Satz 2 NPsychKG gestellt hat, um bis zur Entscheidung des Gerichts über eine vorzeitige Entlassung beurlaubt zu werden. Auch ist kein Anhalt dafür erkennbar, dass die Vollziehung der Unterbringungsmaßnahme nach § 28 NPsychKG ausgesetzt worden ist.
Rz. 30
(3) Soweit der Generalbundesanwalt – unter Hinweis auf Auskünfte der Polizeibeamtin B. – meint, dass sich „der Beschuldigte lediglich in der Zeit vom 24. Mai 2021 bis zum 17. Mai 2021 sowie vom 25. Mai bis zum 26. Mai 2021 auf einer geschlossenen Station” befand und er sich seither „weiterhin freiwillig auf der offenen Station” des Fachklinikums aufhält, gar „die Anstalt jederzeit verlassen” kann, ändert dies an der vorstehenden rechtlichen Bewertung nichts.
Rz. 31
Der Ermittlungsakte kann schon eine Entscheidung der ärztlichen Leitung, etwa nach § 26 NPsychKG über eine zweiwöchige Beurlaubung, nicht entnommen werden (…; zur Dokumentations- und Mitteilungspflicht der Unterbringungseinrichtung s. § 26 Abs. 3 Satz 2 NPsychKG). Die Einordnung des Aufenthalts als „freiwillig” und ihr zeitlicher Umfang können daher gerichtlich schon im Tatsächlichen nicht nachvollzogen werden.
Rz. 32
Im Übrigen änderte eine solche Beurlaubung oder Unterbringung in gelockerter Form nach § 26 NPsychKG nichts an der Unterbringung des Beschuldigten aufgrund richterlicher Anordnung. Eine solche – zeitlich freilich begrenzte – ärztliche Einschätzung und Modifikation der Unterbringung mag zwar eine gerichtliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der gerichtlichen Unterbringungsanordnung oder über die gerichtliche Entlassung des Betroffenen vorbereiten, veranlassen oder begründen, nicht aber die richterliche Entscheidung über den Vollzug der Freiheitsentziehung zu suspendieren oder gar aufzuheben. Dies ist allein richterliche Aufgabe. Solange diese Entscheidung fortbesteht und sich der Beschuldigte in den Anstaltsräumen aufhält, liegen die gesetzlichen Beiordnungsvoraussetzungen vor (vgl. zum offenen Vollzug und anderen Vollzugslockerungen nur BeckOK-StPO/Krawczyk, 39. Ed., § 140 Rn. 11 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140 Rn. 16).
Rz. 33
(4) Vor diesem Hintergrund kann derzeit dahinstehen, ob es überdies auch noch einen weiteren Beschluss des Amtsgerichts G. gibt, mit dem die Unterbringung sogar über den 5. Juni 2021 hinaus angeordnet worden ist (vgl. Vermerk über Telefonat des Ermittlungsrichters mit der Ärztin Dr. R. vom 4. Juni 2021); in der Ermittlungsakte ist er nicht enthalten.
Rz. 34
3. Überdies liegt ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO vor.
Rz. 35
a) Hiernach wird dem Beschuldigten ein Verteidiger bestellt, wenn im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei einer Vernehmung oder einer Gegenüberstellung, nicht selbst verteidigen kann. Maßgeblich für die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten sind seine geistigen Fähigkeiten, sein Gesundheitszustand und die weiteren konkreten Umstände des Einzelfalles, namentlich das Gewicht des Tatvorwurfs und die damit drohende strafrechtliche Sanktion und etwaige Verständigungsschwierigkeiten bei Ausländern (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl., § 140 Rn. 30 ff.; BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 – 2 BvR 462/77, NJW 1978, 151 f.). Der Beiordnungsgrund ist bereits dann anzunehmen, wenn tatsachengestützte Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit bestehen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 30a), wobei ein Anhaltspunkt dafür auch unverständliches oder gar widersprüchliches Prozessverhalten sein kann (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.).
Rz. 36
b) So lag es hier. Die Gesamtschau der die Verteidigungssituation des Beschuldigten prägenden Umstände begründet substantiierte Zweifel an seiner Verteidigungsfähigkeit.
Rz. 37
aa) Dem Beschuldigten liegt ein gewichtiges Staatsschutzdelikt zur Last. Der Generalbundesanwalt führt das Ermittlungsverfahren. Zur Tataufklärung bedient dieser sich hier des Bundeskriminalamts sowie der Landespolizei. Überdies werden gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen durchgeführt, deren Erkenntnisse ersichtlich ebenfalls in das Strafverfahren überführt werden sollen (…).
Rz. 38
bb) Der Beschuldigte wird derzeit psychiatrisch stationär behandelt und hält sich wohl zeitweise – entgegen der richterlichen Anordnung – auch im offenen Vollzug der Maßnahme auf. Obwohl nicht jeder Aufenthalt in einer Klinik-, oder Heilanstalt in gleicher Weise wie eine Anstaltsunterbringung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO die Verteidigung erschwert, ist in die hier vorzunehmende Bewertung ein durch den Aufenthalt des Beschuldigten in der Fachklinik begründetes strukturelles Verteidigungsdefizit einzustellen. Dies gilt zunächst mit Blick auf die mehrfach wegen aggressiver Impulsdurchbrüche angeordneten Fixierungen des Beschuldigten. Überdies wird der Beschuldigte wegen seiner schon mehrere Jahre bestehenden psychischen Auffälligkeiten, wegen derer ihm bereits im Jahre 2019 eine stationäre Behandlung „dringend” angeraten worden war (SA Bl. 56), medikamentös behandelt und erhält in diesem Rahmen – schon im Zeitpunkt der ersten Durchsuchung – angstlösende und sedierende Medikamente (vgl. ärztlichen Bericht vom 30. April 2021, „zeigte sich durch die vorangegangene Gabe von Tavor deutlich müde”). Ob die Unterbringung nach dem NPsychKG durch die Ermittlungsbehörden „initiiert” wurde (…), kann hier dahin stehen.
Rz. 39
cc) Des Weiteren deutet das bisherige Verteidigungsverhalten des Beschuldigten auf eine erhebliche Überforderung hin. Er verhielt sich gegenüber den Ermittlungsbehörden ambivalent und rational kaum erklärlich. Einerseits bezeichnete er die polizeilichen Einsatzkräfte als „Terroristen”, widersprach der Sicherstellung von potentiellen Beweisgegenständen und erklärte, sich ohne anwaltlichen Beistand nicht vernehmen lassen zu wollen. Andererseits äußerte er sich im Zuge der Durchsuchungsmaßnahmen in „Gesprächen” mit Polizeibeamten erkennbar mehrfach zur Sache, soll der Durchsuchung seines „Pflegezimmers” zugestimmt und die ihn behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden haben.
Rz. 40
dd) Die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten werden hier weiter erschwert durch das teilweise verfahrensfehlerhafte Vorgehen der Ermittlungsbehörden. So erfolgte etwa im Zuge der ersten Durchsuchungsmaßnahme keine vollständige Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter im Strafverfahren. Es unterblieb der Hinweis auf den – gerade bei der hier zu bewertenden Frage besonders bedeutsamen – Belehrungsgegenstand des § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO. Dies gilt weiter für die rechtliche Grundlage der erfolgten Durchsuchung des Krankenzimmers des Beschuldigten vom 22. April 2021. Eine gerichtliche Anordnung hierfür lag – anders als das Durchsuchungsprotokoll insinuiert (vgl. den Hinweis auf den Durchsuchungsbeschluss betreffend die Wohnanschrift des Beschuldigten,) – nicht vor. Das Einverständnis des Beschuldigten wurde durch polizeilichen Vermerk erst am 5. Mai 2021 aktenkundig gemacht. Schließlich hat es der Generalbundesanwalt – in Kenntnis der unzureichenden polizeilichen Belehrung des Beschuldigten im Zuge der ersten Durchsuchungsmaßnahme – unterlassen, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers jedenfalls nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO zu stellen, nachdem ihm die Anstaltsunterbringung des Beschuldigten aufgrund richterlicher Anordnung bekannt geworden ist.
Rz. 41
ee) Die vom Generalbundesanwalt herangezogenen Erfahrungen des Beschuldigten mit deutschen Strafverfolgungsbehörden sind hingegen nur teilweise tragfähig. Zwar mögen ihm dadurch einzelne Beschuldigtenrechte bereits bekannt gewesen sein. Nachvollziehbar belegt wird dies durch die Ermittlungsakte derzeit nicht. Es bleibt mangels Beiziehung der früheren Verfahrensakten insbesondere unklar, wann es welche Kontakte des Beschuldigten zu Strafverfolgungsbehörden gab und ob er bereits damals in vergleichbarer Weise psychotische Auffälligkeiten aufgewiesen hat. Der Ermittlungsakte lässt sich insbesondere auch nicht entnehmen, dass der Beschuldigte, namentlich nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I, S. 2128 ff.), als Beschuldigter vernommen worden ist.
Rz. 42
4. Wegen der hier besonders gebotenen Zügigkeit wurde eine für dieses Verfahren entsprechend fachkundige Rechtsanwältin in noch örtlicher Nähe zum Aufenthaltsort des Beschuldigten ohne dessen vorherige Anhörung bestellt.
Unterschriften
Wenske, Richter am Bundesgerichtshof
Fundstellen
Haufe-Index 14686419 |
NStZ 2021, 8 |
NStZ-RR 2021, 5 |
NJW-Spezial 2021, 538 |
StRR 2021, 13 |
StRR 2021, 14 |
StV 2022, 549 |