Leitsatz (amtlich)
Bei der Unterhaltsvollstreckung kann der nach § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO unpfändbare Teil des Arbeitseinkommens, über dessen Höhe im Beschwerdeverfahren entschieden worden ist, in entsprechender Anwendung des § 850g S. 1 ZPO neu festgesetzt werden, wenn auf Grund einer erstmaligen höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung teilweise geänderte Maßstäbe für seine Berechnung gelten.
Normenkette
ZPO § 850g S. 1
Verfahrensgang
LG Chemnitz (Beschluss vom 25.02.2004; Aktenzeichen 3 T 173/04) |
AG Chemnitz |
Tenor
Auf die Rechtsmittel des Schuldners werden der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Chemnitz v. 25.2.2004 insgesamt und der Beschluss des AG Chemnitz v. 22.12.2003 in der Hauptsache sowie im Kostenpunkt aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittelverfahren, an das AG zurückverwiesen.
Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 2.631,60 EUR.
Gründe
I.
Die Gläubigerinnen betreiben gegen den Schuldner, ihren Vater, aus zwei Urkunden des Jugendamtes die Zwangsvollstreckung wegen laufenden und rückständigen Unterhalts. Auf ihren Antrag erließ das AG einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss, durch den die Ansprüche des Schuldners aus Arbeitseinkommen gegen den Drittschuldner gepfändet und ihnen zur Einziehung überwiesen wurden. In dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss wurde der pfändungsfreie Betrag mit monatlich 750,00 EUR bestimmt.
Auf die Erinnerung der Gläubigerinnen setzte das AG mit Beschluss v. 7.1.2003 die Pfändungsfreigrenze auf 558 EUR fest, wobei es den notwendigen Unterhalt des Schuldners i.S.d. § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO nach dem doppelten Sozialhilferegelsatz gem. § 22 Bundessozialhilfegesetz i.H.v. zweimal 279 EUR errechnete. Das LG wies die vom Schuldner gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde mit Beschluss v. 14.2.2003 und seine Gegenvorstellung mit weiterem Beschluss v. 30.7.2003 zurück.
Im August 2003 hat der Schuldner gegen den Beschluss des AG v. 7.1.2003 Erinnerung eingelegt und eine Erhöhung der Pfändungsfreigrenze - auf zuletzt mindestens 783,30 EUR- beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass seit 1.7.2003 der Sozialhilferegelsatz 282 EUR betrage und schon deshalb der pfändungsfreie Betrag auf 564 ?6EU; ≫ (zweimal 282 EUR) anzuheben sei. Außerdem stehe die festgesetzte Pfändungsfreigrenze nicht in Einklang mit der inzwischen ergangenen Grundsatzentscheidung des BGH, nach der dem Schuldner bei der erweiterten Pfändung wegen Unterhaltsansprüchen als notwendiger Unterhalt gem. § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO i.d.R. der notwendige Lebensunterhalt i.S.d. Abschnitte 2 und 4 des Bundessozialhilfegesetzes verbleiben müsse (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30 [349] = BGHReport 2003, 1237 = MDR 2004, 53 = FamRZ 2003, 1466 [1467]). Daraufhin hat die Rechtspflegerin den notwendigen Selbstbehalt des Schuldners wegen des erhöhten Sozialhilferegelsatzes auf 564 EUR festgesetzt und "alle übrigen Bestimmungen des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses" aufrechterhalten.
Die hiergegen vom Schuldner eingelegte Erinnerung hat das AG durch Beschluss v. 22.12.2003 mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, die Unpfändbarkeitsvoraussetzungen hätten sich nicht i.S.d. § 850g S. 1 ZPO geändert, es bestehe eine Bindung an die rechtskräftige Entscheidung des LG v. 14.2.2003, bestätigt durch Beschluss v. 30.7.2003. Die sofortige Beschwerde des Schuldners blieb vor dem LG ohne Erfolg. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Schuldner mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
Die gem. § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das LG, dessen Auffassung sich die Gläubigerinnen in ihrer Rechtsbeschwerdeerwiderung im Wesentlichen angeschlossen haben, hat ausgeführt: Die Pfändungsfreigrenze könne schon deshalb nicht erhöht werden, weil über die für die Bemessung des unpfändbares Teils des Arbeitseinkommens maßgeblichen tatsächlichen Umstände mit Beschluss v. 14.2.2003 abschließend entschieden worden sei und eine nachträgliche Änderung der Unpfändbarkeitsvoraussetzungen i.S.d. § 850g S. 1 ZPO nicht vorliege. Wegen der Innenbindung des Beschlusses nach § 318 ZPO sei eine andere rechtliche Beurteilung der unverändert gebliebenen tatsächlichen Umstände nicht zulässig.
Demgegenüber vertritt die Rechtsbeschwerde die Meinung, geänderte "Voraussetzungen für die Bemessung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens" i.S.d. § 850g S. 1 ZPO seien auch bei einer neuen Rechtslage infolge einer höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung gegeben. Diese Auslegung sei insb. im Hinblick auf den Schutz des Existenzminimums durch die Verfassung geboten. Es bestehe keine Bindung an die Beschlüsse des LG v. 14.2.2003 und v. 30.7.2003, weil § 850g S. 1 ZPO als lex spezialis gegenüber § 318 ZPO ausdrücklich regele, dass auf Antrag eine Anpassung des pfändungsfreien Betrages an nachträglich veränderte Umstände erfolgen müsse. Da der Beschluss des BGH zur Berechnung des notwendigen Unterhalts bei der erweiterten Pfändung erst nach den Entscheidungen des LG ergangen sei und bei diesen nicht mehr habe berücksichtigt werden können, sei von einer nachträglichen Änderung auszugehen.
2. Die von der Rechtsbeschwerde vertretene Auffassung ist richtig.
Die Bindungswirkung (§ 318 ZPO entsprechend) der Beschwerdeentscheidung des LG v. 14.2.2003, bestätigt durch Beschluss v. 30.7.2003, steht der vom Schuldner beantragten Abänderung des pfändungsfreien Betrages nicht entgegen, weil sich auf Grund der Grundsatzentscheidung des Senats v. 18.7.2003 (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30 [349] = BGHReport 2003, 1237 = MDR 2004, 53 = FamRZ 2003, 1466 [1467]) die Grundlagen für die Bemessung des unpfändbaren Teils seines Arbeitseinkommens nachträglich geändert haben (§ 850g S. 1 ZPO entsprechend).
a) Durch die landgerichtlichen Entscheidungen wurde über die Höhe des gem. § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO pfändungsfreien Betrages nicht rechtskräftig entschieden. Denn ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwächst nicht deshalb in Rechtskraft, weil er mit einem fristgebundenen Rechtsmittel angegriffen und im Beschwerdeverfahren überprüft worden ist. Vielmehr bleibt er auch dann nur ein Vollstreckungszugriff, der der materiellen Rechtskraft nicht fähig ist (OLG Köln v. 7.3.1994 - 2 W 31/94, OLGReport Köln 1994, 267 = FamRZ 1994, 1272 [1273]).
b) Da das Abänderungsverfahren nach § 850g S. 1 ZPO kein neues Vollstreckungsverfahren einleitet, sondern das alte Verfahren fortsetzt (BGH, Beschl. v. 8.3.1990 - I ARZ 152/90, Rpfleger 1990, 308), führt die in einem vorangegangenen Beschwerdeverfahren erlassene Entscheidung über den dem Schuldner pfändungsfrei zu belassenden Betrag grundsätzlich zur Innenbindung der Gerichte entsprechend § 318 ZPO. Dies bedeutet aber nur, dass die den unpfändbaren Teil des Arbeitseinkommens bestimmenden Umstände, über die im Beschwerdeverfahren bereits befunden worden ist, im Abänderungsverfahren nicht anders beurteilt werden können, wenn sie unverändert geblieben sind. Umstände, die nicht Gegenstand der Beschwerdeentscheidung waren, damals aber schon vorlagen, können im Abänderungsverfahren berücksichtigt werden, weil § 850g S. 1 ZPO keine dem § 323 Abs. 2 ZPO vergleichbare Präklusion von Einwendungen kennt. Der dem Schuldner pfändungsfrei zu belassende Betrag, der im Beschwerdeverfahren bereits überprüft worden ist, darf auf Grund eines Umstandes, der Gegenstand der vorausgegangenen Beschwerdeentscheidung war, nach § 850g S. 1 ZPO abgeändert werden, wenn sich dieser nachträglich, d.h. nach Erlass der Beschwerdeentscheidung, verändert hat (OLG Köln v. 7.3.1994 - 2 W 31/94, OLGReport Köln 1994, 267 = FamRZ 1994, 1272 [1273]; Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 850g Rz. 2; Musielak/Becker, ZPO, 3. Aufl., § 850g Rz. 2; Stöber, Forderungspfändung, 13. Aufl., Rz. 1200). In diesem Fall besteht eine Innenbindung an die vorangegangene Beschwerdeentscheidung nicht.
c) Eine Anpassung des pfändungsfreien Betrages gem. § 850g S. 1 ZPO kommt, wovon das LG im Ausgangspunkt zutreffend ausgeht, im Regelfall nur in Betracht, wenn sich die tatsächlichen Voraussetzungen für die Bemessung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens nachträglich geändert haben. Dabei hat es aber nicht ausreichend bedacht, dass - wie im Beschwerdefall - bei einer anderen rechtlichen Beurteilung unverändert gebliebener tatsächlicher Umstände infolge einer neuen höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung § 850g S. 1 ZPO entsprechend anzuwenden ist. Abgesehen davon, dass die Grundsätze des Senatsbeschlusses v. 18.7.2003 nicht Gegenstand der landgerichtlichen Entscheidungen im Beschwerdeverfahren waren, ist von einer nachträglichen Änderung auszugehen, weil dieser erst am 21.8.2003 mit Hinausgabe an die Parteien durch die Geschäftsstelle und damit nach der letzten Beschwerdeentscheidung des LG v. 30.7.2003 erlassen worden ist. Das Beschlussdatum ist beim Erlass im schriftlichen Verfahren nicht maßgebend (BGH, Urt. v. 1.4.2004 - IX ZR 117/03, BGHReport 2004, 1053 = MDR 2004, 1076). Unter diesen Umständen hätte, wie vom Schuldner beantragt, der pfändungsfreie Betrag, der ihm bei der erweiterten Pfändung als notwendiger Unterhalt verbleiben muss, unter Beachtung der vom Senat aufgestellten Grundsätze neu berechnet und ggf. abgeändert werden müssen.
Als geänderte "Voraussetzungen für die Bemessung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens" i.S.d. § 850g S. 1 ZPO kommen in erster Linie tatsächliche Veränderungen - wie die Geburt oder der Tod eines Unterhaltsberechtigten, der Wegfall der Unterhaltsbedürftigkeit eines Anspruchsberechtigten oder Erhöhungen/Minderungen des Arbeitseinkommens (Wieczorek/Schütze/Lüke, ZPO, 3. Aufl., § 850g Rz. 3; Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 850g Rz. 1; Musielak/Becker, ZPO, 3. Aufl., § 850g Rz. 2; Stöber, Forderungspfändung, 13. Aufl., Rz. 1201) - in Betracht. Auch die Änderung eines Gesetzes, das keine Übergangsvorschriften enthält, ist als Grund für die Abänderung des pfändungsfreien Betrages anerkannt (Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 21. Aufl., § 850g Rz. 13; Wieczorek/Schütze/Lüke, ZPO, 3. Aufl., § 850g Rz. 4). Dasselbe gilt für die verfassungskonforme Auslegung einer Rechtsvorschrift durch das BVerfG, weil dies mit einer Gesetzesänderung vergleichbar ist (BGH, Urt. v. 12.7.1990 - XII ZR 85/89, MDR 1991, 246 = NJW 1990, 3020 [3022], zu § 323 ZPO).
In entsprechender Anwendung des § 850g S. 1 ZPO ist ein Abänderungsgrund jedenfalls auch dann gegeben, wenn sich - wie hier - infolge einer erstmals möglichen höchstrichterlichen Leitentscheidung die rechtlichen Maßstäbe zur Berechnung des pfändungsfreien Betrages vereinheitlicht und teilweise verändert haben (zu der streitigen Rechtsfrage, ob eine Abänderungsklage gem. § 323 ZPO bei einer Änderung der höchstrichterlichen Rspr. zulässig ist, vgl. BGH v. 5.9.2001 - XII ZR 108/00, BGHZ 148, 368 [380] = BGHReport 2001, 959; Urt. v. 5.2.2003 - XII ZR 29/00, BGHReport 2003, 666 = MDR 2003, 876 = FamRZ 2003, 848 [851 f.], für Prozessvergleiche; Urt. v. 9.6.2004 - XII ZR 308/01, BGHReport 2004, 1488 = MDR 2004, 1300 = NJW 2004, 3106). Dies folgt aus Sinn und Zweck des § 850g S. 1 ZPO. Bei der Pfändung des laufenden Arbeitseinkommens eines Unterhaltsschuldners wird der pfändungsfreie Betrag auf Grund der Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung für einen längeren, in die Zukunft gerichteten Zeitraum, also auf Grund einer Prognose, festgesetzt. Nachträglich eintretende Veränderungen der Bemessungsgrundlagen würden im Regelfall zu einer unhaltbaren Ungerechtigkeit zum Nachteil des Gläubigers, des Schuldners oder eines von der Pfändung betroffenen Dritten führen, wenn sie bei der zukünftigen Vollstreckung unberücksichtigt blieben und deshalb die Pfändungsfreigrenze zu hoch oder zu niedrig festgesetzt wäre. Daher ermöglicht § 850g S. 1 ZPO eine Anpassung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses an die veränderten Umstände (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 62. Aufl., § 850g Rz. 2). Es ist kein Grund ersichtlich, die Anpassung an eine neue höchstrichterliche Rechtsprechung zur Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens abzulehnen. Diese schafft faktisch eine neue Rechtslage und hat für die betroffenen Beteiligten vergleichbar gravierende Auswirkungen wie die Veränderung tatsächlicher Umstände, eine Gesetzesänderung oder die verfassungskonforme Auslegung einer Vorschrift durch das BVerfG. Eine Möglichkeit zur Änderung von Lohnpfändungen entsprechend § 850g S. 1 ZPO erscheint insb. auch im Hinblick auf den durch Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG garantierten Schutz des Existenzminimums, das für die Führung eines menschenwürdigen Dasein benötigt wird (BVerfG v. 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, FR 1999, 139 = NJW 1999, 561 [562], zum steuerrechtlichen Existenzminimum), geboten. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass der Schuldner durch den staatlichen Pfändungsakt auf unbestimmte Zeit über das von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu konkretisierende Existenzminimum hinaus belastet wird. Denn das, was dem Unterhaltsschuldner als notwendiger Unterhalt i.S.d. § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO verbleiben muss, ist nichts Anderes als eine Konkretisierung des Existenzminimums.
3. Das AG wird nunmehr unter Abstandnahme von seinen bisherigen Bedenken über den Abänderungsantrag des Schuldners unter Beachtung der Grundsätze des Senatsbeschlusses v. 18.7.2003 (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30 [349] = BGHReport 2003, 1237 = MDR 2004, 53 = FamRZ 2003, 1466 [1467]) neu zu befinden haben (§ 577 Abs. 4, § 572 Abs. 3 ZPO). Auf Grund des unvollständigen Vortrags des Schuldners, zu dessen Ergänzung er vom Amts- und LG nicht aufgefordert worden ist (§ 139 ZPO), kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob der festgesetzte pfändungsfreie Betrag von564,00 EUR dem notwendigen Lebensunterhalt i.S.d. Abschnitte 2 und 4 des Bundessozialhilfegesetzes entspricht, der dem Schuldner bei der erweiterten Pfändung i.d.R. als notwendiger Unterhalt verbleiben muss.
Fundstellen
Haufe-Index 1283908 |
BGHZ 2005, 73 |
NJW 2005, 830 |
BGHR 2005, 333 |
FamRZ 2005, 198 |
FuR 2005, 180 |
NJW-RR 2005, 222 |
JurBüro 2005, 161 |
WM 2005, 139 |
WuB 2005, 253 |
ZAP 2005, 273 |
FPR 2006, 266 |
InVo 2005, 152 |
MDR 2005, 413 |
Rpfleger 2005, 149 |
ProzRB 2005, 124 |