Leitsatz (amtlich)
Von der persönlichen Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der Sicherungshaft kann trotz eines positiven Corona-PCR-Tests nicht abgesehen werden, wenn zumutbare Schutzmöglichkeiten für die bei der Anhörung anwesenden Personen bestehen oder wenn unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Anhörungstermin für die Zeit nach der Genesung bestimmt werden kann.
Normenkette
FamFG § 420 Abs. 1-2, § 427
Verfahrensgang
LG Mainz (Entscheidung vom 28.04.2022; Aktenzeichen 8 T 28/22) |
AG Bingen am Rhein (Entscheidung vom 13.01.2022; Aktenzeichen 110b XIV 2/22 B) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 28. April 2022 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bingen am Rhein vom 13. Januar 2022 den Betroffenen im Zeitraum vom 13. Januar 2022 bis zum 8. Februar 2022 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Stadt Trier auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im Mai 2016 ohne Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet ein. Am 2. Juni 2016 stellte er einen Asylantrag. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 15. August 2017 unter Androhung der Abschiebung abgelehnt. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel blieben erfolglos.
Rz. 2
Mit Beschluss vom 5. Januar 2022 ordnete das ursprünglich zuständige Amtsgericht an, den Betroffenen in Ausreisegewahrsam bis zum 13. Januar 2022 zu nehmen. Die für den 12. Januar 2022 geplante Abschiebung scheiterte an einem positiven PCR-Test, der auf eine Covid-Infektion des Betroffenen hindeutete.
Rz. 3
Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 10. Januar 2022 hat das nunmehr zuständige Amtsgericht mit Beschluss vom 13. Januar 2022 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 9. Februar 2022 angeordnet. Die dagegen eingelegte Beschwerde hat das Landgericht, nachdem der Betroffene am 8. Februar 2022 abgeschoben worden war, mit Beschluss vom 28. April 2022 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie die Feststellung, dass ihn der Beschluss des Amtsgerichts vom 13. Januar 2022 in seinen Rechten verletzt hat.
Rz. 4
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Anordnung der Abschiebungshaft sei nicht zu beanstanden. Der Anordnung habe ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde zugrunde gelegen. Aufgrund der akuten Corona-Infektion des Betroffenen sei es zulässig gewesen, ihn zunächst im Wege der Videokonferenz und erst im Abhilfeverfahren persönlich anzuhören. Die Anwesenheit von Vollzugsbeamten im Vernehmungszimmer der Gewahrsamseinrichtung stehe dem Gebot der Nichtöffentlichkeit nicht entgegen. Der Betroffene sei auch vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Zu Recht habe das Amtsgericht den Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht.
Rz. 6
2. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Amtsgericht durfte auf Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht auf eine persönliche Anhörung des Betroffenen vor der Beschlussfassung verzichten. Dieser Verfahrensfehler führt zur Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung.
Rz. 7
a) Die persönliche Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der Sicherungshaft ist in § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG zwingend vorgeschrieben. Sie gehört zu den Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht. Sie dient nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern ist zugleich Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2009 - 2 BvR 538/07, BVerfGK 15, 139 Rn. 33; BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384 Rn. 8; vom 12. Mai 2011 - V ZB 296/10, IBRRS 2011, 2311 Rn. 12). Ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht drückt der gleichwohl angeordneten Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Der Fehler ist nicht heilbar (BVerfG, Beschluss vom 11. März 1996 - 2 BvR 927/95, InfAuslR 1996, 198 [juris Rn. 18]; BGH, InfAuslR 2010, 384 Rn. 9). Es kommt deshalb weder darauf an, ob die Anhörung bei der Überprüfung der Haftanordnung nachgeholt wurde, noch darauf, ob die Freiheitsentziehung in der Sache zu Recht angeordnet worden ist (BGH, InfAuslR 2010, 384 Rn. 9 mwN).
Rz. 8
aa) Das Amtsgericht hat vor Anordnung der Sicherungshaft wegen eines positiven Corona-PCR-Tests des Betroffenen von einer persönlichen Anhörung abgesehen und am 13. Januar 2022 nur eine Anhörung per Videokonferenz durchgeführt. Erst im Abhilfeverfahren hat es - nach Genesung des Betroffenen - am 28. Januar 2022 die persönliche Anhörung nachgeholt.
Rz. 9
bb) Diese Vorgehensweise genügt nicht den rechtlichen Anforderungen. Eine Anhörung per Videokonferenz stellt keine persönliche Anhörung im Sinne des § 420 Abs. 1 FamFG dar (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 235/20, BGHZ 227, 161 Rn. 24; LG Augsburg, InfAuslR 2012, 133 Rn. 5). Dafür spricht, dass eine Videokonferenz nicht in gleichem Maße geeignet ist, einen persönlichen Eindruck zu vermitteln. Für den Erörterungstermin hat der Gesetzgeber in § 32 Abs. 3 FamFG ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, diesen per Videokonferenz durchzuführen. Für die persönliche Anhörung gemäß §§ 34, 420 FamFG fehlt es jedoch an einer solchen ausdrücklichen gesetzgeberischen Entscheidung. Auch das verdeutlicht, dass die persönliche Anhörung weiterhin eine gleichzeitige Anwesenheit am gleichen Ort erfordert.
Rz. 10
b) Es lagen auch nicht die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands nach § 420 Abs. 2 FamFG vor. Danach kann die persönliche Anhörung unterbleiben, wenn der Betroffene an einer übertragbaren Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes leidet. Über das Unterbleiben der Anhörung ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu befinden und die Entscheidung zu begründen (Wendtland in MüKoFamFG, 3. Aufl., § 420 Rn. 7).
Rz. 11
aa) Obwohl der Wortlaut dieser Bestimmung nur auf das Vorliegen der Erkrankung abstellt, besteht Einigkeit, dass die Vorschrift im Hinblick auf den schwerwiegenden Grundrechtseingriff einer Freiheitsentziehung einschränkend auszulegen ist (BGH, Beschluss vom 22. Juni 2017 - V ZB 146/16, FGPrax 2017, 260 Rn. 10 mwN). Dass der Betroffene an einer ansteckenden Krankheit leidet, ist kein Grund, von seiner persönlichen Anhörung abzusehen, wenn ausreichende Möglichkeiten zum Schutz der Gesundheit der anhörenden Richter bestehen (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 7. September 2007, BT-Drucks. 16/6308, S. 292; BGH, FGPrax 2017, 260 Rn. 10 mwN). Zudem muss der Betroffene in der Lage sein, sich einer Anhörung zu stellen; auch dürfen keine Nachteile für seine Gesundheit zu befürchten sein. Das Gericht muss konkret darlegen, warum eine entsprechende Gestaltung der Anhörungssituation nicht möglich ist (BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 235/20, BGHZ 227, 161 Rn. 28 f.; vom 24. Februar 2021 - XII ZB 503/20, FamRZ 2021, 795 Rn. 16).
Rz. 12
bb) Es fehlt vorliegend an ausreichenden Feststellungen dazu, ob zumutbare Möglichkeiten zum Schutz der Gesundheit des anhörenden Richters und weiterer Personen bei der Anhörung bestanden. Das Absehen von der persönlichen Anhörung wird allein damit begründet, dass beim Betroffenen von einer Infektion mit der zwischenzeitlich vorherrschenden hochansteckenden Omikron-Variante auszugehen sei, der Betroffene deutliche Symptome zeige und dass durch eine persönliche Anhörung neben dem Richter auch weitere Personen der Ansteckungsgefahr ausgesetzt wären. Warum naheliegende Schutzmaßnahmen (Schutzkleidung, Atemmasken, Abstand, Lüften, Luftfilter, Trennscheiben, Anhörung im Freien) nicht ausreichend oder nicht durchführbar waren, wurde nicht näher begründet. Im Übrigen befand sich zumindest ein Mitarbeiter der Gewahrsamseinrichtung während der Dauer der Videokonferenz mit dem Betroffenen im gleichen Raum, was nahelegt, dass ein ausreichender Gesundheitsschutz durchaus gewährleistet werden konnte. Das Gericht hat damit die rechtlichen Grenzen seines Ermessens überschritten.
Rz. 13
cc) Entgegen der Ansicht des Landgerichts war die durchgeführte Videokonferenz im Hinblick auf die notwendigen Schutzvorkehrungen im Falle einer persönlichen Anhörung auch nicht ausnahmsweise besser oder gleich gut geeignet, um einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu gewinnen. Denn nach dem Protokoll des Amtsgerichts trug der Betroffene auch bei seiner Videoanhörung in der Gewahrsamseinrichtung eine Gesichtsmaske (FFP2), einen Schutzanzug sowie ein Gesichtsvisier.
Rz. 14
c) Selbst wenn man von einem verbleibenden, nicht unerheblichen Ansteckungsrisiko ausgeht, durfte die Sicherungshaft vorliegend nicht ohne vorherige persönliche Anhörung ergehen. Gegebenenfalls wäre unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Anhörungstermin für die Zeit nach der Genesung zu bestimmen gewesen. Stattdessen hat das Amtsgericht die Sicherungshaft bis zum 9. April 2022 angeordnet und erst auf die Beschwerde des Betroffenen im Nichtabhilfeverfahren die persönliche Anhörung nachgeholt. Das geltende Verfahrensrecht bietet mit seinen Bestimmungen zu einstweiligen Anordnungen ausreichende Möglichkeiten, um vorläufigen Hindernissen bei der Anhörung zu begegnen. Aus diesem Grund ist die Bundesregierung auch einem Gesetzesentwurf des Bundesrats zum Schutz vulnerabler Personen bei richterlichen Anhörungen im Betreuungs- und Unterbringungsverfahren entgegengetreten, mit dem geregelt werden sollte, dass im Falle einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Anhörung und Einholung eines persönlichen Eindrucks nicht nur persönlich, sondern auch mittels zeitgleicher Bild- und Tonübertragung an einen anderen Ort erfolgen kann (Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vulnerabler Personen bei richterlichen Anhörungen im Betreuungs- und Unterbringungsverfahren vom 1. Juli 2020, BT-Drucks. 19/20623, S. 9; vgl. BGHZ 227, 161, Rn. 24 bis 26).
Rz. 15
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff |
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Roloff |
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Picker |
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Holzinger |
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Kochendörfer |
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Fundstellen
NVwZ-RR 2024, 6 |
InfAuslR 2024, 231 |
JZ 2024, 119 |