Leitsatz (amtlich)
1. Kommt das Beschwerdegericht in einem Betreuungsverfahren zu dem Ergebnis, dass die Einrichtung einer Betreuung erforderlich ist, muss es auch über die Betreuerauswahl entscheiden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 30. August 2017 - XII ZB 16/17 - FamRZ 2017, 1866).
2. Zieht das Beschwerdegericht in einer Betreuungssache für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage - etwa ein neues Sachverständigengutachten - heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, gebietet dies eine neue persönliche Anhörung des Betroffenen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 6. Oktober 2021 - XII ZB 205/20, FamRZ 2022, 227).
Normenkette
FamFG § 68 Abs. 3, § 69 Abs. 1, § 278 Abs. 1; BGB § 1896 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Aurich (Entscheidung vom 27.08.2021; Aktenzeichen 7 T 89/20) |
AG Aurich (Entscheidung vom 11.02.2020; Aktenzeichen 16a XVII 368/19) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerden der weiteren Beteiligten zu 2 und 3 wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Aurich vom 27. August 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Rechtsbeschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei.
Gründe
I.
Rz. 1
Die 83-jährige Betroffene leidet an einer fortgeschrittenen Parkinson- und Demenzerkrankung, wegen der sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst erledigen kann. Im Jahr 2014 hatte sie ihren beiden Kindern (Beteiligte zu 2 und Beteiligter zu 3) notarielle Vorsorgevollmacht jeweils zur Alleinvertretung erteilt. Die Betroffene wurde zunächst überwiegend im Haus der Familie in G. durch ihren heute 84-jährigen Ehemann (Beteiligter zu 1) und ihren Sohn versorgt und gepflegt. Anlässlich einer Erkrankung des Ehemanns veranlasste der in W. wohnende Sohn im April 2018 ihre Aufnahme in eine dortige Pflegeeinrichtung, die sich über 200 Kilometer vom Wohnort der Ehegatten in G. befindet. Der Ehemann nahm dort nur vorübergehend seinen Aufenthalt und kehrte wieder nach G. zurück. Er besuchte die Betroffene wöchentlich.
Rz. 2
Die Kinder der Betroffenen befürworten ihren Verbleib in W. Der Ehemann verfolgt hingegen das Ziel, sie wieder bei sich zu Hause aufzunehmen oder, sollte dies nicht möglich sein, sie in einer Pflegeeinrichtung in G. unterzubringen. Hierzu hat er die Bestellung eines Betreuers, hilfsweise eines Kontrollbetreuers angeregt. Das Amtsgericht hat dies im Hinblick auf die bestehenden Vollmachten abgelehnt. Das Landgericht hat die dagegen gerichtete Beschwerde des Ehemanns zurückgewiesen. Auf dessen Rechtsbeschwerde hat der Senat diese Entscheidung mit Beschluss vom 21. April 2021 (XII ZB 164/20 - FamRZ 2021, 1236) aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das Landgericht hat ein psychiatrisches Fachgutachten eingeholt und die Beteiligten angehört. Sodann hat es ohne Anhörung der Betroffenen auf die Beschwerde des Ehemanns die amtsgerichtliche Entscheidung aufgehoben und das Amtsgericht angewiesen, für die Betroffene einen Betreuer für die Bereiche Aufenthalt und Wohnung zu bestellen. Hiergegen richten sich die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 2 und 3, mit denen sie die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung erstreben.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerden haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur erneuten Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Rz. 4
1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung Folgendes ausgeführt:
Rz. 5
Die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung gemäß § 1896 BGB lägen trotz der von der Betroffenen erteilten Vorsorgevollmacht vor. Die Bestellung eines Betreuers für die Aufgabenbereiche Aufenthalt und Wohnung sei erforderlich, da diese Angelegenheiten der Betroffenen durch die Bevollmächtigten nicht in einer Weise geregelt würden, wie sie dem Interesse der Betroffenen als Vollmachtgeberin entsprächen.
Rz. 6
Zwar sei die im Jahr 2018 getroffene Entscheidung der Bevollmächtigten für die Pflegeeinrichtung in W. nicht zu beanstanden. Nach der Rückkehr des Ehemanns der Betroffenen nach G. habe sich die Sachlage aber geändert. Zwar könne die Betroffene aufgrund ihres umfangreichen Pflegebedarfs nicht in das gemeinsame Haus zurückkehren. Da jedoch ausweislich des Sachverständigengutachtens eine für die Betroffene geeignete Pflegeeinrichtung auch in G. zu finden sei und eine finanzielle Sicherung der Kosten möglich wäre, stünde einem Pflegeplatzwechsel nach G. nichts entgegen.
Rz. 7
Eine Verlegung der Betroffenen in ein Pflegeheim in räumlicher Nähe zu ihrem Ehemann zur Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft sei auch nicht mit unvertretbaren gesundheitlichen Risiken für die Betroffene verbunden. Nach dem im Beschwerdeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten sei bei einer räumlichen Verlegung lediglich „mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest mit einer temporären Verschlechterung des Allgemeinzustandes der Betroffenen“ zu rechnen. Abgesehen davon, dass eine bloß temporäre gesundheitliche Verschlechterung nicht hinreichend sei, einer Verlegung entgegenzustehen, könnten negative Folgen des Wechsels nach G. durch die Zuwendung seitens des Ehemanns zumindest teilweise kompensiert werden.
Rz. 8
Die Bevollmächtigten hätten sich bei ihrer Entscheidung allein davon leiten lassen, dass die Unterbringung in W. keine gesundheitlichen Nachteile für die Betroffene habe und die Nähe zum Sohn dessen Handlungen im Zusammenhang mit Besuchen und Sicherstellung bestmöglicher ärztlicher Betreuung erleichtere. Die Realisierung der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft hätten sie dagegen allein in den Verantwortungsbereich des Ehemanns verschoben. Damit sei die Außerachtlassung der zu berücksichtigenden Interessen der Betroffenen hinreichend belegt. Die Bevollmächtigten seien deshalb für die Regelung der Aufgabenbereiche Aufenthalt und Wohnung für die Betroffene ungeeignet.
Rz. 9
Von einer Anhörung der Betroffenen sei abgesehen worden, da keine weitergehenden Erkenntnisse zu erwarten seien. Die Betroffene sei vom Amtsgericht angehört worden. Ihre leisen Antworten deuteten zwar auf einen Rückkehrwunsch nach G. hin, seien von der Betreuungsrichterin jedoch nicht für maßgebend erachtet worden, da sie nicht habe herausfinden können, ob die Betroffene die Fragen tatsächlich verstanden habe. Ausweislich der Mitteilungen der Verfahrenspflegerin und der Sachverständigen sei eine Kommunikation mit der Betroffenen mittlerweile nicht mehr zielführend möglich.
Rz. 10
2. Diese Ausführungen halten den von den Rechtsbeschwerden erhobenen Verfahrensrügen nicht stand.
Rz. 11
a) Die Rechtsbeschwerden rügen zu Recht, dass das Beschwerdegericht nur den amtsgerichtlichen Beschluss aufgehoben hat, ohne eine eigene Sachentscheidung zu treffen.
Rz. 12
aa) Hält das Beschwerdegericht die Beschwerde für zulässig und begründet, hat es nach § 69 Abs. 1 Satz 1 FamFG grundsätzlich unter Abänderung der angegriffenen Entscheidung selbst in der Sache zu entscheiden. Eine Zurückverweisung an das Gericht des ersten Rechtszugs kommt nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 2 und 3 FamFG in Betracht. Bedarf die Entscheidung einer besonderen Ausführungshandlung, für die funktionell allein das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig ist, wie etwa die Verpflichtung des Betreuers nach § 289 FamFG, ist diese Handlung ebenfalls dem Ausgangsgericht zu überlassen. Nur wenn durch die bloße Aufhebung des angegriffenen Beschlusses abschließend über das Verfahren entschieden werden kann, etwa weil hierdurch die Anhängigkeit des Verfahrens endet, ist eine weitere Sachentscheidung des Beschwerdegerichts oder eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht entbehrlich (vgl. Senatsbeschluss vom 30. August 2017 - XII ZB 16/17 - FamRZ 2017, 1866 Rn. 12 mwN).
Rz. 13
bb) Gemessen hieran hätte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall über die Betreuerauswahl selbst entscheiden müssen.
Rz. 14
Da aus der Sicht des Beschwerdegerichts die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers vorgelegen haben, durfte es sich nicht darauf beschränken, den erstinstanzlichen Beschluss aufzuheben und das Amtsgericht anzuweisen, für die Betroffene einen Betreuer für die Bereiche Aufenthalt und Wohnung zu bestellen. Auf der Grundlage der von ihm vertretenen Rechtsauffassung zur Erforderlichkeit der Betreuung gemäß § 1896 Abs. 2 BGB hätte das Beschwerdegericht vielmehr selbst über die Betreuerauswahl befinden müssen. Liegen die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung vor, muss auch ein Betreuer bestellt werden. Denn § 1896 BGB unterscheidet nicht zwischen Anordnung der Betreuung und Bestellung eines Betreuers; vielmehr ist eine Einheitsentscheidung zu treffen, was auch im Beschwerdeverfahren zu beachten ist. Kommt das Beschwerdegericht - wie hier - zu dem Ergebnis, dass die Einrichtung einer Betreuung erforderlich ist, muss es daher zwingend auch über die Person des Betreuers entscheiden. Denn das Beschwerdegericht tritt - in den Grenzen der Beschwerde - vollständig an die Stelle des Gerichts erster Instanz und hat das gesamte Sach- und Rechtsverhältnis, wie es sich zur Zeit seiner Entscheidung darstellt, seiner Beurteilung zu unterziehen (vgl. Senatsbeschluss vom 30. August 2017 - XII ZB 16/17 - FamRZ 2017, 1866 Rn. 15 mwN).
Rz. 15
b) Zutreffend beanstanden die Rechtsbeschwerden auch, dass das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft von einer erneuten Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren abgesehen hat.
Rz. 16
aa) Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Doch scheidet dies aus, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Das ist dann der Fall, wenn das Beschwerdegericht - wie hier - für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heranzieht, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Oktober 2021 - XII ZB 205/20 - FamRZ 2022, 227 Rn. 7 mwN und vom 18. November 2020 - XII ZB 179/20 - FamRZ 2021, 303 Rn. 9 mwN).
Rz. 17
bb) Gemessen hieran hätte das Beschwerdegericht die Betroffene erneut persönlich anhören müssen, da es seine Entscheidung ausdrücklich auch auf das erst im Beschwerdeverfahren eingeholte Sachverständigengutachten gestützt hat.
Rz. 18
cc) Eine erneute Anhörung der Betroffenen war auch nicht gemäß § 34 Abs. 2 FamFG aufgrund des Gesundheitszustands der Betroffenen entbehrlich.
Rz. 19
Auf das vom Beschwerdegericht herangezogene Kriterium, dass von einer Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien, weil eine zielführende Kommunikation mit der Betroffenen nicht mehr möglich sei, kommt es nicht entscheidend an. § 34 Abs. 2 FamFG greift nämlich nicht schon, wenn der Betroffene nichts Sinnvolles zur Sache äußern kann, sondern erst, wenn er entweder überhaupt nichts oder jedenfalls nichts irgendwie auf die Sache Bezogenes zu äußern imstande ist, sei es etwa, weil der Betroffene bewusstlos ist oder weil er künstlich beatmet wird und dabei weder zu einer verbalen noch zu einer nonverbalen Kommunikation in der Lage ist, sich also in keiner Weise mehr mitteilen kann. Solange hingegen nicht ausgeschlossen ist, dass aus den Antworten und dem Verhalten des Betroffenen Rückschlüsse auf dessen natürlichen Willen gezogen werden können, darf das Betreuungsgericht nicht nach § 34 Abs. 2 FamFG von einer persönlichen Anhörung absehen (Senatsbeschlüsse vom 6. Oktober 2021 - XII ZB 205/20 - FamRZ 2022, 227 Rn. 10 und vom 28. September 2016 - XII ZB 269/16 - FamRZ 2016, 2093 Rn. 12 mwN). Diese Voraussetzungen hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt.
Rz. 20
Eine erneute persönliche Anhörung der Betroffenen war auch nicht wegen drohender erheblicher Nachteile für die Gesundheit entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG entbehrlich, da auch diese Voraussetzung nicht festgestellt ist. Zudem entbindet § 34 Abs. 2 FamFG nicht von der in § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG enthaltenen Verpflichtung, sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Denn die persönliche Anhörung dient nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs. Durch sie soll auch sichergestellt werden, dass sich das Gericht vor der Entscheidung einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, durch den es in die Lage versetzt wird, das eingeholte Sachverständigengutachten zu würdigen (vgl. Senatsbeschluss vom 4. November 2020 - XII ZB 344/20 - FamRZ 2021, 244 Rn. 10 mwN).
Rz. 21
3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben, und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist. Dabei macht der Senat von der Möglichkeit des § 74 Abs. 6 Satz 3 FamFG Gebrauch.
Rz. 22
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Guhling |
|
Klinkhammer |
|
Schilling |
|
Günter |
|
Krüger |
|
Fundstellen
Haufe-Index 15159727 |
FuR 2022, 4 |
FGPrax 2022, 169 |
ZAP 2022, 617 |
BtPrax 2022, 150 |
JZ 2022, 363 |
JZ 2022, 367 |
MDR 2022, 1177 |
ErbR 2022, 754 |
FamRB 2022, 6 |