Leitsatz (amtlich)
1. Artikel 62 des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 19. Juni 1990 gehört zum Regelungsbereich des EuGH-Gesetzes.
2. Zur Klärung dem EuGH-Gesetz unterfallender Rechtsfragen ist allein der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften berufen; die Anrufung des Bundesgerichtshofs nach § 42 IRG insoweit ist unzulässig (im Anschluß an BGHSt 36, 92).
Normenkette
EuGH-Gesetz § 1; SDÜ Art. 62; IRG § 42
Verfahrensgang
Tenor
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückgegeben.
Tatbestand
I.
Das Bundesministerium für Justiz der Republik Österreich hat mit Schreiben vom 16. Februar 2001 um die Auslieferung des spätestens seit April 1995 in Deutschland wohnhaften österreichischen Staatsangehörigen Hubert Augustin W. zur Vollstreckung der restlichen Ersatzfreiheitsstrafe von 178 Tagen, 21 Stunden und 10 Minuten aus einer rechtskräftigen Verurteilung durch das Landesgericht Feldkirch vom 2. April 1991 zu 360 Tagessätzen Geldstrafe, ersatzweise 180 Tagen Freiheitsstrafe, ersucht. Das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Oberlandesgericht Stuttgart ist der Auffassung, daß zwar nach deutschem Recht Vollstreckungsverjährung eingetreten sei, dies die Auslieferung aber nicht hindere, weil nach österreichischem Recht die Vollstreckung noch nicht verjährt sei und gemäß Art. IV des Vertrages vom 31. Januar 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 [EuAlÜbk] und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl 1975 II 1163; 1976 II 1798 [öErgV]) sowie Art. 62 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens – SDÜ – vom 19. Juni 1990 (BGBl 1993 II 1010; 1994 II 631; 1996 II 242; 1997 II 966; 1998 II 1968) die österreichischen Bestimmungen über die Verjährungsverlängerung bei der Verjährungsfristberechnung zu berücksichtigen seien. Dies setze aber voraus, daß – was bejaht werde – unter dem in Art. IV öErgV und in Art. 62 Abs. 1 SDÜ gebrauchten Begriff „Unterbrechung der Verjährung” auch eine Verjährungsverlängerung zu verstehen ist, die nach deutschem Verständnis nicht auf einer Unterbrechung, sondern auf einem Ruhen bzw. auf einer Hemmung der Verjährung beruht (Vorlegungsfrage 1), und daß – was jedenfalls für Art. 62 Abs. 1 SDÜ zu bejahen sei – die Grenze einer potentiellen Verlängerung der Verjährungsfrist nach § 79 b StGB überschritten werden dürfe (Vorlegungsfrage 2). So zu entscheiden sieht es sich im Hinblick auf die Vorlegungsfrage 1 durch die Senatsentscheidung vom 30. September 1987 – 4 ARs 7/87 (= BGHSt 35, 67) gehindert. Im übrigen hätten beide Fragen grundsätzliche Bedeutung (§ 42 Abs. 1 1. Alt. IRG), weil sie sich im deutsch-österreichischen Auslieferungsverkehr jederzeit wieder stellen könnten und sie auch im Auslieferungsverkehr mit den Niederlanden, Italien und der Schweiz von Bedeutung seien, da die zwischen diesen Staaten und Deutschland abgeschlossenen Ergänzungsverträge zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 mit Art. IV öErgV wortgleiche Bestimmungen enthielten; eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfragen liege vor allem im Hinblick auf Art. 62 Abs. 1 SDÜ vor, weil diese Vorschrift den Auslieferungsverkehr mit sämtlichen „Schengen-Staaten” betreffe, die stark differenzierende Verjährungsvorschriften hätten. Das Oberlandesgericht hat die Sache daher durch Beschluß vom 18. April 2001 (= NStZ-RR 2001, 345) gemäß § 42 Abs. 1 IRG dem Bundesgerichtshof zur Klärung folgender Rechtsfragen vorgelegt:
- Ist unter „Unterbrechung der Verjährung” im Sinne von Art. IV des Vertrages vom 31. Januar 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl 1975 II 1163; 1976 II 1798 [öErgV]) und im Sinne von Art. 62 Abs. 1 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) auch eine Verjährungsverlängerung zu verstehen, die auf einem Ruhen (einer Hemmung) der Verjährung beruht (vorliegend: § 60 Abs. 2 Nr. 4 öStGB)?
- Steht es der Zulässigkeit der Auslieferung entgegen, daß die Anwendung von Art. IV öErgV und von Art. 62 Abs. 1 SDÜ zu einer Überschreitung der Grenzen führt, die § 79 b StGB einer Verlängerung der Verjährungsfrist zieht?
Der Generalbundesanwalt hält die Anrufung des Bundesgerichtshofs für zulässig. Nach seiner Auffassung sind die Vorlegungsfragen auf die Auslegung bzw. Anwendung des Art. 62 Abs. 1 SDÜ zu beschränken; ihnen käme insoweit grundsätzliche Bedeutung zu. In der Sache selbst teilt er im Ergebnis die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts.
Entscheidungsgründe
II.
Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzugeben, weil die Vorlegungsvoraussetzungen nicht vorliegen: denn der beabsichtigten Entscheidung des Oberlandesgerichts steht – soweit es um die Auslegung des Art. IV öErgV geht – weder Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entgegen noch sind die Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung. Im Hinblick auf die Auslegung des Art. 62 Abs. 1 SDÜ ist nicht der Bundesgerichtshof, sondern der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Entscheidung berufen.
1. Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Auslieferung sind die Regelungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (in Kraft getreten für Deutschland am 1. Januar 1977 [BGBl 1964 II 1369; 1976 II 1778], für Österreich am 19. August 1969 [BGBl 1976 II 1779]), des sich hierauf beziehenden deutsch-österreichischen Ergänzungsvertrages vom 31. Januar 1972 (in Kraft getreten am 1. Februar 1977 [BGBl 1976 II 1798]) und des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 19. Juni 1990 (in Kraft gesetzt für Deutschland am 26. März 1995 [BGBl 1996 II 242], für Österreich am 1. Dezember 1997 [BGBl 1998 II 1969]) maßgebend. Hierbei steht allein in Frage, ob Vollstreckungsverjährung eingetreten ist, und – wenn dies nach deutschem und/oder österreichischem Recht der Fall wäre – welche Folgen das für die Auslieferung hätte. Die maßgeblichen Verjährungsvorschriften in den genannten Verträgen lauten wie folgt:
Art. 10 EuAlÜbk
Die Auslieferung wird nicht bewilligt, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist.
Art. IV öErgV
Für die Unterbrechung der Verjährung sind allein die Rechtsvorschriften des ersuchenden Staates maßgebend.
Art. 62 Abs. 1 SDÜ
Für die Unterbrechung der Verjährung sind allein die Vorschriften der ersuchenden Vertragspartei maßgebend.
In Art. 8 Abs. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1996 aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-AuslÜbk; Abl.EG vom 23. Oktober 1996 Nr. C 313 S. 11 ff.; BGBl 1998 II 2253 ff.) findet sich folgende Regelung:
Die Auslieferung darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats verjährt ist.
Danach käme es für die Frage der Vollstreckungsverjährung nur auf das Recht des ersuchenden Staates – hier also auf österreichisches Recht – an (vgl. Vogel JZ 2001, 937, 938). Das EU-AuslÜbk ist jedoch noch nicht in Kraft getreten. Im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich gilt es allerdings aufgrund einer Regelung über seine vorzeitige Anwendbarkeit (Art. 18 Abs. 4 EU-AuslÜbk) bereits ab dem 11. Juli 2001 (BGBl 2001 II 868; österr. BGBl 2001 III Nr. 143). Da das Auslieferungsersuchen aber vor diesem Zeitpunkt gestellt wurde, sind – grundsätzlich – die Verjährungsvorschriften beider Staaten zu berücksichtigen (Art. 10 EuAlÜbk; vgl. Art. 18 Abs. 5 EU-AuslÜbk).
a) Nach österreichischem Recht ist Vollstreckungsverjährung nicht eingetreten: § 59 Abs. 3 2. Alt. öStGB bestimmt, daß die Verjährungsfrist zehn Jahre beträgt, wenn – wie hier – auf eine Geldstrafe unter Festsetzung einer Ersatzfreiheitsstrafe von mehr als drei Monaten erkannt worden ist. In diese Frist werden Zeiten nicht eingerechnet, in denen sich der Verurteilte im Ausland aufhält (§ 60 Abs. 2 Nr. 4 öStGB). Da der Verfolgte spätestens seit April 1995 in Deutschland wohnt, ist somit für die ab 1991 laufende Vollstreckungsverjährungsfrist der Zeitraum ab April 1995 nicht zu berücksichtigen.
b) Nach deutschem Recht wäre hingegen Vollstreckungsverjährung eingetreten: Die Verjährungsfrist beträgt fünf Jahre (§ 79 Abs. 3 Nr. 4 StGB), sie wäre somit im April 1996 abgelaufen. Auch wenn bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts die zunächst dem Verurteilten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung („bedingte Strafnachsicht”) bis zu deren Widerruf am 27. August 1991 als Ruhensgrund gemäß § 79 a Nr. 2 b StGB berücksichtigt wird, ergibt sich hieraus nur eine Verjährungsfristverlängerung um etwa fünf Monate. Eine Fristverlängerung „auf Antrag der Vollstreckungsbehörde” nach § 79 b StGB kommt – bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts – schon deswegen nicht in Betracht, weil das Auslieferungsersuchen erst gestellt wurde, nachdem bereits nach deutschem Recht Vollstreckungsverjährung eingetreten war; im übrigen ermöglichte § 79 b StGB eine Verlängerung der Verjährungsfrist lediglich um die Hälfte der gesetzlichen Verjährungsfrist, somit auf sieben Jahre und sechs Monate, also bis etwa März 1999.
c) Daher stünde – weil nach deutschem Recht Vollstreckungsverjährung eingetreten ist – Art. 10 EuAlÜbk der Auslieferung entgegen (vgl. BGHSt 20, 198, 200; 23, 151, 155 f.), es sei denn, die Regelung des § 60 Abs. 2 Nr. 4 öStGB (Nichteinrechnung der Zeiten in die Verjährungsfrist, in denen sich der Verurteilte im Ausland aufhält) fände über Art. IV öErgV oder Art. 62 Abs. 1 SDÜ, wonach für die „Unterbrechung der Verjährung” allein die Vorschriften des ersuchenden Staates maßgebend sind, Berücksichtigung. In diesem Falle würde die Vollstreckungsverjährung seit April 1995 ruhen.
2. Nach Meinung des vorlegenden Oberlandesgerichts ist unter „Unterbrechung der Verjährung” im Sinne der Art. IV öErgV und Art. 62 Abs. 1 SDÜ auch die Verjährungsfristverlängerung nach § 60 Abs. 2 Nr. 4 öStGB zu verstehen. Dieser Auffassung steht Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die das Oberlandesgericht hindern könnte, wie beabsichtigt zu entscheiden, nicht entgegen:
Der Senat hatte in seinem in BGHSt 35, 67 abgedruckten Beschluß vom 30. September 1987 – 4 ARs 7/87 – die Frage zu entscheiden, ob Art. IV Abs. 1 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung vom 13. November 1969 – der inhaltlich der Regelung des Art. IV öErgV entspricht – dahin ausgelegt werden kann, daß entgegen Art. 10 EuAlÜbk eine nur nach dem Recht des ersuchten Staates eingetretene Vollstreckungsverjährung der Auslieferung nicht entgegensteht. Er hat die Frage verneint. Der Entscheidung lag zugrunde, daß um die Auslieferung eines im Jahre 1976 in der Schweiz zu drei Jahren Zuchthaus Verurteilten ersucht wurde, nach deutschem Recht bereits Vollstreckungsverjährung eingetreten war, die Vollstreckung nach schweizerischem Recht aber noch nicht verjährt war. Es ging allein um die Frage, ob Art. IV Abs. 1 des deutsch-schweizerischen Ergänzungsvertrags den Fall unterschiedlich langer Verjährungsfristen in den beiden Vertragsstaaten regelt; möglicherweise zu berücksichtigende gesetzliche Verjährungsverlängerungsregelungen waren dagegen nicht Gegenstand der Entscheidung (vgl. BGHSt 35, 67, 73). Soweit der Senat – in einem obiter dictum – die Meinung vertreten hat, unter „Unterbrechung der Verjährung” sei nur eine Handlung zu verstehen, die sowohl nach deutschem als auch nach schweizerischem Recht zur Folge habe, daß die Verjährungsfrist vor Eintritt der Verjährung von neuem beginnt (BGHSt aaO), kann dahinstehen, ob an dieser Rechtsauffassung festzuhalten ist.
3. Beide vorgelegten Rechtsfragen sind im Hinblick auf Art. IV öErgV nicht von grundsätzlicher Bedeutung (§ 42 Abs. 1 1. Alt. IRG):
Eine Rechtsfrage ist dann von grundsätzlicher Bedeutung, wenn sie sich über den vorgelegten Einzelfall hinaus jederzeit wieder stellen kann (BGHSt 34, 256, 258 f.; 42, 243, 247; 47, 120, 122 f.). Wegen der neuen Regelung in Art. 8 Abs. 1 EU-AuslÜbk, wonach es für die Frage der Strafvollstreckungsverjährung nur auf die Rechtsvorschriften des ersuchenden Staates ankommt, und deren Geltung für Deutschland und Österreich seit dem 11. Juli 2001, ist nicht zu erwarten, daß sich beide vorgelegten Rechtsfragen im Verhältnis zu Österreich erneut stellen werden. Soweit das vorlegende Oberlandesgericht darauf hinweist, daß für den Auslieferungsverkehr mit dem Königreich der Niederlande, der Italienischen Republik und der Schweizerischen Eidgenossenschaft dem Art. IV öErgV entsprechende Regelungen in Ergänzungsverträgen bestehen, ist ebenfalls nicht zu erwarten, daß sich die vorgelegten Rechtsfragen erneut stellen werden; denn die Niederlande und Italien sind Vertragsparteien des voraussichtlich alsbald in Kraft tretenden EU-AuslÜbk (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 3. Aufl. S. 777 [Vertragstabelle]; Schomburg NJW 2002, 1629, 1631 [vorzeitige Anwendung im Verhältnis zu den Niederlanden seit dem 27. September 2000, BGBl 2001 II 574]) und Art. IV Abs. 1 des deutsch-schweizerischen Ergänzungsvertrages vom 13. November 1969 ist bereits durch eine mit Art. 8 Abs. 1 EU-AuslÜbk identische Regelung ersetzt worden (vgl. den deutsch-schweizerischen Änderungsvertrag vom 8. Juli 1999 [BGBl 2001 II 946, 961]; der Vertrag ist am 1. März 2002 in Kraft getreten [BGBl 2002 II 606]).
4. Allerdings ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfragen zu bejahen, soweit es um die Auslegung des Art. 62 Abs. 1 SDÜ geht. Die verbindliche Auslegung dieser Vorschrift steht jedoch allein dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Gerichtshof) zu; eine Vorlegung an den Bundesgerichtshof insoweit ist unzulässig.
a) Nach § 1 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 des am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Gesetzes betreffend die Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Artikel 35 des EU-Vertrages [EUV] (EuGH-Gesetz – EuGHG) vom 6. August 1998 (BGBl I 2035; 1999 I 728) hat ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung Fragen u.a. zur Auslegung von Übereinkommen auf dem Gebiet der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen vorzulegen, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils oder Beschlusses für erforderlich hält.
Der Senat hat in seinem Urteil vom 10. Juni 1999 – 4 StR 87/98 (= BGHSt 45, 123, 129) die Frage offen gelassen, ob das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 dem Regelungsbereich des EuGH-Gesetzes unterfällt (zur Rechtslage zuvor vgl. BGH NStZ 1998, 149, 151). Die Frage ist – soweit es die Auslegung des Art. 62 SDÜ betrifft – zu bejahen; denn nach der Überführung des „Schengen-Besitzstandes” – zu dem auch das SDÜ gehört – in den Rahmen der Europäischen Union (vgl. Gesetz zum [am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen] Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 vom 8. April 1998 [BGBl 1998 II 386; 1999 II 296]; Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union [BGBl 1998 II 429 ff.]; ABl.EG vom 10. November 1997 Nr. C 340 S. 93 ff.; vom 10. Juli 1999 Nr. L 176 S. 1 f., 17 ff. und vom 22. September 2000 Nr. L 239 S. 9 ff.) hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Hinblick auf Bestimmungen des SDÜ, die ihre Rechtsgrundlage in Titel VI des EU-Vertrages (= Art. 29 bis 42 EUV) haben, seine Zuständigkeit nach Art. 35 des EU-Vertrages wahrzunehmen (Art. 35, 46 Buchstabe b des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 i.d.F. des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 [BGBl 1998 II 386, 461 f.]; zur Zuständigkeit des Gerichtshofs für das SDÜ vgl. auch OLG Köln NStZ 2001, 558, 560 [Vorlage zu Art. 54 SDÜ]; Kühne, Strafprozeßrecht 5. Aufl. Rdn. 81; Bohnert/Lagodny NStZ 2000, 636, 640; Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421, 424; Schomburg StV 1999, 246, 248; NJW 1999, 550; 2000, 1833, 1839; zur Rechtskontrolle im Hinblick auf Schengen-Besitzstands-Regelungen, die nicht dem Titel VI EUV, sondern dem Titel IV EGV [= Art. 61 bis 69 EGV] zuzuordnen sind, vgl. Classen EuR 1999, Beiheft 1, S. 73 ff., 88, Hailbronner/Thiery EuR 1998, 583, 611; Wölker EuR 1999, Beiheft 1, S. 99 ff., 110). EU-Rechtsgrundlage des Art. 62 SDÜ sind die Artikel 34 und 31 Buchstabe b [Erleichterung der Auslieferung] des EU-Vertrages (Ratsbeschluß vom 20. Mai 1999, ABl.EG Nr. L 176 S. 20), somit Bestimmungen des nach Art. 35 EUV in die Kompetenz des Gerichtshofs fallenden Titels VI EUV.
Die Zuständigkeit des Gerichtshofs ist nicht auf Übereinkommen beschränkt, die zeitlich nach dem Vertrag von Amsterdam geschlossen wurden bzw. werden. Dies ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union i.V.m. den Nummern 2 bis 4 des Anhangs zu diesem Protokoll, wo bestimmt ist, daß dem Gerichtshof die Überprüfung der Bestimmungen des SDÜ und der – auch vor Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam erlassenen – Beschlüsse des Exekutivausschusses (Art. 131 ff. SDÜ) obliegt. Mit dem Inkrafttreten des EuGH-Gesetzes vom 6. August 1998 hat Deutschland die Zuständigkeit des Gerichtshofs insoweit anerkannt (Art. 35 Abs. 2 EUV).
b) Da oberlandesgerichtliche Entscheidungen in Auslieferungssachen unanfechtbar sind (§ 13 Abs. 1 Satz 2 IRG), besteht eine Vorlagepflicht des Oberlandesgerichts an den Gerichtshof (vgl. BTDrucks. 13/10429 vom 20. April 1998 S. 1, 6: Vorlagepflicht des „funktionell” letztinstanzlich zuständigen Gerichts), sofern das Oberlandesgericht die Auslegung von Auslieferungsrecht, das dem Regelungsbereich des EuGHG unterfällt – hier: des Art. 62 SDÜ – für zweifelhaft hält und die Frage entscheidungserheblich ist.
Im Hinblick auf die „Zweifelhaftigkeit” der Auslegung hat das zur Vorlegung verpflichtete Gericht allerdings einen Entscheidungsspielraum. Liegt es auf der Hand, daß nur eine Auslegung in Betracht kommt, so entfällt die Vorlagepflicht (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. 283/81 [C.I.L.F.I.T.] Slg. 1982, 3415 zu Art. 177 EWG-Vertrag; ähnlich BGHSt 36, 92, 96 [„Auslegung der strittigen Frage”]; Hannich in KK 4. Aufl. § 121 GVG Rdn. 13; Bohnert/Lagodny aaO; Röben in Grabitz/Hilf, EUV/EGV 14. ErgLfg. Art. 35 EUV Rdn. 11; vgl. auch die nach dem 1. Mai 1999 ergangenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zum SDÜ: BGHSt 46, 187; 307; BGHR EuAlÜbk Art. 18 Auslieferung 1).
c) Die Verpflichtung zur Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften dient der Wahrung der Rechtseinheit und der Rechtssicherheit (vgl. hierzu BGHSt 33, 76, 78; 36, 92, 94). Ebenso wie bei der Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG (vgl. BGHSt 36, 92) ist auch bei § 42 IRG die Anrufung des Bundesgerichtshofs unzulässig, wenn eine Rechtsfrage des dem EuGH-Gesetz unterfallenden Rechts, bei deren Lösung sämtliche verbindliche Amtssprachen und die Terminologie des gemeinsamen Rechts zu berücksichtigen sind, zu klären ist; hierzu ist allein der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften berufen (vgl. EuGH aaO; Schomburg NJW 2001, 801, 803; Pieper/Schollmeier/Krimphove, Europarecht 2. Aufl. [2000] S. 26: „Rechtsprechungsmonopol”).
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Kuckein, Solin-Stojanović, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 767893 |
BGHSt |
BGHSt, 326 |
NJW 2002, 2653 |
BGHR |
NStZ 2002, 661 |
JZ 2002, 1173 |
StraFo 2002, 319 |